Tons May

Zellgeflüster


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oder acht, ist die Luft schon warm und schwer, so, als könne man sie anfassen, von der Haut kratzen. Ich fahre am Kanal entlang, bis die Industrieanlagen anfangen, und setze mich ins hohe, gelbe Gras am Ufer gegenüber. Mein Mund schmeckt nach der Nacht, bitter und unfertig. Der Hals brennt. Ich muss husten. Die Sonne ist viel zu hell und ich suche nach der Sonnenbrille. Ich finde sie und es ist nicht meine. Ich weiß nicht, wer sie ist, wie sie heißt, ob ich sie wiedererkennen würde. Um mich zu erinnern, berühre ich die Stelle am Hals, wo sie sich festgesaugt hat. Ein Anker in einen Moment vor ein paar Stunden, an dessen Details ich mich kaum noch erinnern kann. Irgendetwas hat sich kurz entfaltet und ist wieder zusammengefallen.

      Geister? Die Frauen, die ich treffe, werden immer merkwürdiger.

      Meine Hände riechen nicht mehr nach ihr, nach ihrem Duft, sondern nur noch nach Zigaretten. Ich hätte sie nach dem Namen fragen sollen. Wären wir nüchterner gewesen, wären wir uns woanders begegnet – sie hätte nicht von Geistern gesprochen und ich würde jetzt nicht hier sitzen, sondern irgendwo schlafen. Irgendwo, wo es dunkel und weich ist. Wo es nach Opium riecht und meine Sonnenbrille noch mir gehört. Ich lege mich auf die Seite und atme in die vertrocknete Wiese.

      Als ich aufwache, ist es nachmittags. Mein Hemd ist nass, Gras und Erde kleben am Ellbogen, im Gesicht. Ich lege mich auf den Rücken, blinzle in den Himmel. Die Sonnenbrille hat einen Sprung und ich sehe den Riss im Universum. Den Riss, nach dem ich immer suche. Den Riss, den ich nicht finden will. Er zieht sich direkt vor mir nach oben, zum Anfassen nahe. Ich muss husten. Mein Mund ist voller Käfer. Ich stehe auf und kippe um. Ich komme wieder auf die Knie, langsam und zittrig, als ich ihn links neben mir sehe. Er sitzt auf einer Mauer und schaut aufs Wasser. Er trägt eine Sonnenbrille, die so aussieht wie meine, Jeans, Turnschuhe und eine Kapuzenjacke, die ihm tief ins Gesicht hängt. Er tut so, als würde er die Enten beobachten, die in Formation ans andere Ufer schwimmen. Sobald ich den Enten nachschaue, merke ich, dass er mich anstarrt. Ich drehe den Kopf blitzschnell zurück, aber er ist schneller. Hinter seiner Sonnenbrille und Kapuze verschanzt, spielt er ein Spiel mit mir. Vielleicht hätte ich vor ein paar Stunden noch mitgespielt. Jetzt stehe ich auf, reiße mein Fahrrad hoch und fahre los.

      Nach einigen Metern drehe ich mich um. Er fährt hinter mir, langsam, gebeugt über sein Fahrrad wie eine Schildkröte. Ich fahre schneller, sehe mich nicht mehr um, bis ich zur nächsten großen Querstraße komme. Hier warte ich, bis die Ampel auf grün springt. Ich kann ihn hinter mir spüren. So, als klebte er an meinem verschwitzen Rücken. Wieder ein Schleier, den ich nicht abschütteln kann. Schließlich wechsle ich auf große Straßen und fahre zügig. Als ich an einem Bäcker vorbeikomme, halte ich an. Der Verkehr ist dichter geworden. Menschen überqueren die Straße. Hier bin ich sicher. Ich lehne das Fahrrad an die Wand und gehe hinein. Als ich wieder herauskomme, sehe ich ihn auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er schaut mich unverhohlen an. Seine Kapuzenjacke ist offen, sein dünner Oberkörper nackt. Unfassbar. Ich hänge die Brötchen an den Lenker, steige aufs Fahrrad und schlängele mich durch die Autos auf die andere Straßenseite. Er steigt auf sein Fahrrad und fährt los. Ich ihm hinterher. Am Ufer biegt er ab und poltert auf Pflastersteinen eine schmale, schattige Straße hinunter. Ich hinterher. Dann bleibt er plötzlich stehen, schmeißt das Fahrrad vor ein Haus und rennt durch die offene Haustür. Ich hinterher.

      Im Hinterhof erwische ich ihn. Ich greife nach seiner Jacke. Will ihm die Brille herunterreißen, will ihm eine reinschlagen. Ein heißer Schauer überläuft mich, Wut, Geilheit, Frust, die Energie der letzten Nacht will sich entladen. Er entgleitet mir, rappelt sich hoch, zieht mich mit sich, durch eine Tür, noch eine Tür. Er schlägt mir in den Magen. Ich stürze und reiße ihn mit. Wir fallen irgendwohin, wo es weich ist. Er würgt mich. Ich schlage ihm die Brille herunter. Er würgt mich weiter. Ich versuche mich herauszuwinden, reiße ihn an den Haaren, kicke mit den Beinen. Er lässt meinen Hals los und drückt meine Hände in die Matratze, auf die wir gefallen sind.

      Sein Blick verändert sich. Er öffnet den Mund, als wolle er sprechen. Ich lasse seine Haare los. Er bewegt sich langsamer. Ich starre in sein Gesicht, in seine dunklen Augen, sehe die kreisförmigen Narben auf seiner Brust, die mich an etwas erinnern. Er lässt mich los, schiebt die Hand unter meinen Kopf, berührt meinen Nacken. Ich hebe die Beine, merke, was er tut, starre ihn an, versuche sein Gesicht einzuordnen, ich kenne ihn von irgendwoher, aber woher fällt mir nicht ein. Wie von weitem höre ich seinen schnellen Atem. Dann spüre ich den Schmerz, gebe nach, lasse los, schließe die Augen. Die Geisterfrau lacht mich an, ihr Gesicht schweißüberströmt, ihre Fingernägel in meinem Rücken.

      Als er kommt, murmelt er etwas, aber ich weigere mich, die Augen zu öffnen, aufzuwachen, da zu sein. Ich bin da, wo ich sein will. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Für einen Augenblick denke ich, es raunt mir etwas zu und ich schreie, um es nicht mehr zu hören, um ihn nicht mehr zu hören. Ich schreie, weil ich in dem Moment immer schreie und weil es mir egal ist. Ich muss lauter sein als mein Kopf.

      Als ich wieder zu mir komme, ist er weg. Meine neue Sonnenbrille auch. Ich ziehe mich an und stolpere aus der Wohnung, ohne mich umzudrehen. Ein unsanierter Weddinger Altbau. Müll im Treppenhaus, mehr Müll im Hinterhof, alte Sofas, leere Flaschen, zerrissene Tüten. Ich bahne mir einen Weg durch die überall herumstehenden Fahrräder ins Vorderhaus und atme erst wieder im kühlen Treppenhaus durch. Draußen steht die heiße Luft und immer noch: mein Fahrrad. Es lehnt an einem Baum auf der Straße. Am Lenker hängt eine Tüte. Ich habe auf einmal Angst, dass ich in eine Falle geraten bin. Dass mich in der Tüte etwas Fürchterliches erwartet. Sprengstoff. Eine abgetrennte Hand. Doch die Neugier siegt und ich ziehe die Henkel mit den Zeigefingern auseinander. Meine Brötchen. Ein kleine Flasche Wasser. Und ein Überraschungsei, das ich ganz sicher nicht gekauft habe. Ich öffne es, werfe die weiche Schokolade weg und finde ein grünlich leuchtendes Gespenst in dem gelben Plastikei. Sehr witzig.

      *****

      Ich liege in einem kleinen Ruderboot, das hin und her schwankt. Über mir der Himmel, Sterne zwischen Wolkenfetzen. Ich kann mich nicht aufsetzen, kann mich nicht bewegen, bin an den Boden dieses Bootes gebunden. Die Schwankungen machen mich müde, aber etwas hält mich wach. Eine Stimme, die nicht nach mir klingt oder vielleicht so sehr nach mir, dass ich sie nicht erkenne, flüstert unentwegt. Ich strenge mich an, um zu verstehen, was sie sagt. Ich strenge mich so an, dass ich Kopfschmerzen bekomme. Ich verstehe: Noch immer hier. Noch immer hier. Ich höre: Nicht angekommen. Nicht angenommen.

      Als der Regenbruch anfängt, fange ich an, mich langsam aufzulösen. Ich löse mich auf in viele Teile, die jeder für sich weitertreiben. Ich möchte nicht loslassen, will mich nicht dem Gewitter überlassen, aber ich kann nicht mehr. Ich höre die Stimme: Nichts ist so, wie es sein soll. Kein Mutterschoß. Kein Angekommen, kein Angenommen.

      Die Stimme spricht weiter, die Wellen werden höher, bis ich aus dem Boot geworfen werde. Ich schieße ins Wasser, schnell, hart, das Boot über mir ein dunkler kleiner Keil, der in der Gischt verschwindet. Cenobio, lass los. Ich weiß nicht, wer oder was Cenobio ist, aber ich gehorche. Ich höre den Schrei und wache auf.

      Ich habe keine Ahnung, was Cenobio bedeutet. Aber ich habe das Gefühl, ich müsste es wissen.

      *****

      Fiat kommt mittags vorbei und fragt mich, ob ich eine Auftragsarbeit für einen Freund von ihm annehmen würde. Er gibt mir eine Kopie eines Fotos: ein einfaches Holzhaus mit zwei Fenstern. In einem der Fenster ist eine helle Silhouette zu erkennen. Der Geist ist so schlecht hinein retuschiert, dass es das Foto nie in ernsthafte Archive geschafft hat.

      „Hydesville. Die Hütte, in der die Fox-Schwestern die ersten Geistersignale empfangen haben.“

      „Du bist gut, Beat!“ Fiat klatscht in die Hände.

      „Der Fake ist albern. Jeder weiß, dass die Hydesville Geister klopften und nicht an den Fenstern herumstanden.“

      „Jeder weiß, dass das Ganze inszeniert war, aber darum geht’s doch nicht, oder?“ Fiat rührt mit den Fingern in der Luft.

      „Um was geht’s dann?“

      Seine Stimme wird laut. „Um den Anfang der spiritistischen Bewegung!“

      „Subtil ist das nicht.“ Ich habe wenig Lust,