Tons May

Zellgeflüster


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spüre ich seinen Husten an meinem Hals, den Biss in die Stelle zwischen Hals und Schulter, bevor ich seine Haare zu fassen kriege, bevor ich seinen Kopf wegreißen kann. Ich lasse los und schiebe die Schuld auf die Bullen, auf Juliana, den warmen Sommerregen, das Gras, überteuert und stark. Ich lass mich von ihm in die Vorbewusstlosigkeit tragen, in den Moment vor dem Moment und darüber hinaus. Die Behauptung, dass Jesse mein bester Freund ist oder der feste Freund meiner nicht so festen Freundin, ist nur eine Wahrheit. Die andere Wahrheit ist: Ich habe keine Ahnung, was wir hier tun.

      Ich wache auf, als ich den Schlüssel im Schloss höre. Maya kommt zurück. Sie öffnet die Tür zum Schlafzimmer, sieht mich und lächelt. „Hast du dich um den Trunkenbold gekümmert?“

      Ich mache ein Geräusch, das nicht nach mir klingt.

      Sie öffnet das Fenster, beugt sich hinunter, streichelt mir über den Kopf.

      „Hunger?“

      Ich drehe mich auf die Seite und rolle mich zusammen. „Wie war der Film?“

      Sie zuckt mit den Schultern. „Was für ein Film?“

      Auf dem Weg zur Tür fragt sie: „Vitamine oder Pizza?“

      Ich drehe mich auf den Rücken, strecke meinen Arm aus. Jesse ist weg.

      „Mir egal. Kann ich heute Nacht hier bleiben?“

      Als ich am nächsten Morgen nach Hause gehe, habe ich Juliana, meinen Verfolger und die Party-Bekanntschaft fast vergessen. Ich habe auch vergessen, dass ich einen Termin mit Larissa hatte und finde eine böse Nachricht auf der Mailbox. Ich setze mich in die Küche, rauche zwei Joints und schreibe ihr einen Brief. Bald fehlen mir die Worte und ich kritzele vor mich hin, kleine Igel und Hasen, die sich gegenseitig über das Papier jagen. Nach einem Bier zerreiße ich den Brief, nach dem zweiten rufe ich sie an und entschuldige mich bei ihrer Mailbox.

      Kapitel 4

      Abends male ich an dem Alten Mann weiter. Ich drücke die Farben, dunkelblau, braun, grau, weiß in dicken langen Schlangen aus den Tuben. Dann fahre ich mit einem dünnen Pinsel wie ein kleiner Wurm durch die dicken Farbwülste, nehme immer mehr an Farbe und Energie auf, bis ich bereit bin, die Leinwand zu berühren. Der Alte sieht mich entsetzt an. Er ist es nicht gewohnt, fotografiert zu werden. Vor über hundert Jahren ängstigte es noch viele Menschen, ihr Gesicht auf einem Foto zu sehen. Ich habe das Entsetzen vom Originalfoto auf mein Bild übertragen. Doch etwas anderes hat sich mit übertragen. Über den verständlichen Argwohn vor neuer Technologie, einem vielleicht unangenehmen, aber schon damals immer alltäglicheren Eindringling, hat sich etwas anderes gelegt. Der Mann auf dem Foto wusste nicht, dass sich nach dem Entwickeln ein schattenhafter Körper schräg hinter ihm zeigen würde. Er hatte keine Ahnung, dass dieses Foto, sein namenloser Fotograf und er selbst in eine Sammlung anonymer „Geisterfotos“ eingehen würden. Auf meinem Bild hingegen weiß der Mann von dem monströsen Dunkel hinter sich. Er schaut nach vorne, doch sein Blick ist nicht mehr offen entsetzt. Er ist verschlossen. Die Panik lauert hinter den Pupillen. Der Schatten springt aus seinem Rücken, ist Teil des Mannes. Die schemenhafte Gestalt, vielleicht eine Erscheinung, vielleicht eine Spiegelung, eine Doppelprojektion oder ein Fehler im Abzug, gehört zu ihm. Er kann sie nicht abwischen.

      Ich weiß, wie der Mann sich fühlt.

      Ich male so lange, bis ich das Pfeifen in den Ohren höre, das Knistern der Blitze. Ich schüttle den Kopf und male weiter, bis sich das Bild vor mir aufbläst. In allem, was ich jetzt noch auf die Leinwand bekomme, wird sich ein nervöser Strich zeigen, eine fahrige Linie. Ich mache trotzdem weiter. Ich kann nicht anders. Etwas reitet mich. Nach einigen Minuten spüre ich den bekannten Druck, der vom Nacken über die rechte Seite nach oben kriecht. Erst sehe ich alles überdeutlich. Die Farbe wölbt sich nach vorne, bewegt sich auf meine Finger zu, an manchen Stellen verläuft sie. Dann kann ich meine Augen kaum noch auf den Mann fokussieren und mir wird bewusst, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Ich schaffe es aufzuhören, wasche die Pinsel aus, wasche die Hände, trinke ein Glas Wasser, nehme zwei Schmerztabletten. Als ich endlich auf dem Bett sitze, hat sich eine Hand von rechts in meinen Kopf hineingegraben. Ich lasse mich seitlich aufs Bett sinken. Das Telefon klingelt. Wahrscheinlich Larissa. Ich stelle mir vor, wie ich das Telefon hole, mich melde, mich entschuldige. Ihr schnippisches „Dann halt nicht!“ ertrage. Die Zeit hört auf. Das Klingeln ist keine Folge von Tönen mehr, sondern ein Licht sprühender Schlauch. Alles existiert gleichzeitig, nichts hört auf, nichts fängt an. Nur die Hand in meinem Kopf streckt die Finger aus, macht sie zur Faust, ohne Eile, ohne Gnade.

      Bevor ich komplett abtauche, rieche ich den süßlichen schweren Duft. Etwas berührt mich an der Schulter. Ich reiße die Augen auf, sehe etwas Helles im Augenwinkel, aber ich kann den Kopf nicht mehr drehen und die Lider fallen mir zu, ohne dass ich mich wehren kann. Ich falle falle falle, bis die Berührung an der Schulter den ganzen Körper umfasst, bis ich aufhöre, meinen Körper zu spüren. Der Schmerz in meinem Kopf ein Anker, mit dem ich das Boot auf dem offenen Meer befestige.

      Der Schmerz meine ganze Welt. Nicht mehr, nicht weniger.

      Die ersten Male versuchte ich es zu ignorieren. Es nervte, aber ich nahm es hin. Es passierte einfach. Inzwischen passiert es viel zu oft. Ärzte verschreiben mir Schmerzmittel. Verbieten mir Schokolade. Verbieten Rotwein und Käse. Zigaretten. Einer schlägt vor, in Zukunft nur noch mit Wasserfarben zu malen, „die stinken nicht so.“

      Eine Ärztin mit hellen Augen schaut mich lange an. „Wissen Sie, Hildegard von Bingen hatte dasselbe Problem.“

      „Aha.“

      „Und Vincent van Gogh. Sind Sie nicht auch Maler?“

      Ich starre sie an.

      „Ich sage das nicht gerne, aber vielleicht müssen Sie einfach lernen, mit dem Schmerz umzugehen. Ihn für sich zu nützen. Wir wissen im Augenblick noch nicht genau, wie Migräne entsteht oder wie sie geheilt werden kann. Aber wir machen gute Fortschritte! Und bis es eine wirkungsvolle Therapie gibt, können Sie die Triggerfaktoren identifizieren und vermeiden, Sie wissen schon, Alkohol, Zigaretten, wenig Schlaf ...“

      „Wetterumschwünge.“

      „Ja“, lacht sie auf. „Soweit es eben geht. Aber das Wichtigste ist, dass Sie Ihren Zustand akzeptieren, dass Sie das Beste daraus machen, und bei Bedarf ein Schmerzmittel nehmen.“

      Ich bedanke und verabschiede mich. Auf der Straße stecke ich mir eine Zigarette an und inhaliere tief. Ich gehe zum Fleischer und hole Schweinsohren. Dann schlendere ich zurück und werfe ein Ohr in den Arztbriefkasten. Das andere schenke ich Maya. Sie bedankt sich mit einem Artikel aus einem Frauenmagazin. Botox-Behandlungen, Biofeedback, Hormontherapie.

      „Gegen Migräne kann man was tun. Hast du schon mal ein EEG machen lassen?“

      „Ein Hirntumor ist es nicht. Enttäuscht?“

      Maya zuckt mit den Schultern. „Du weißt ja, dass ich auf kranke Männer stehe. Ich würde dich gerne pflegen.“

      Sie lacht ihr glucksendes Lachen und ich drücke mein Gesicht in ihren Bauch.

      Es fängt mit einem Pochen an. Meistens auf der linken Seite, hinten. Etwas klopft von innen an den Schädel. Kurz darauf wird mir schlecht. Der Raum verzieht sich zu einer Röhre und wird heller. Zu hell. Wenn ich zu Hause bin, mache ich das Licht aus und lege mich hin. Ich versuche, die Augen offen zu halten, solange es geht. Ich will den Halt nicht verlieren. Dann konzentriere ich mich auf den Atem, bis alles einfriert. Töne verklumpen sich zu visuellen Reizen. Zucken wie Kugelblitze durch den Raum. Mein Atem wird zu einem dichten Nebel, hinter dem alles verschwimmt.

      Ich darf die Augen nicht schließen. Der Schmerz will mich holen. Ich darf den Kontakt nicht verlieren. Wenn es von innen an den Schädel klopft, muss ich draußen bleiben. Der Schmerz darf mich nicht erwischen. Ich reiße die Augen auf, bis sie mir zufallen, und dann.

      Dann passiert es.

      Es ist, wie wenn ich vor mich hin kritzele, nur unangenehmer. Etwas klopft mir den Kopf