Tons May

Zellgeflüster


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Die mag ich auch. Aber die sind noch besser.“ Er zieht eine Packung mit Bärennudeln heraus.

      Alice zieht die Augenbrauen hoch. „Bist du für die nicht schon zu groß?“

      „Er mag Tiere.“

      Ich spiele den Vater-Bonus aus. Mein Ausdruck gibt ihr zu verstehen: Man muss das Kind grundsätzlich in seinen Interessen unterstützen, damit es sich entfalten kann. Und du bist zu kinderlos, um dazu eine Meinung zu haben.

      Alice sieht mich verwirrt an. Sie weiß, dass irgendwo ein Kind von mir existiert, aber sie weiß auch, dass ich zu viel trinke und ihre Schwester zu oft versetze. Dann nickt sie langsam. „Ich sage Maya, dass du dich melden wirst.“

      Sie winkt mir zu, wirft einen kurzen Blick auf Silvester und schiebt ihren Wagen den Gang hinunter. Ich muss sofort aus dem Supermarkt raus. Der Vater-Bonus fühlt sich plötzlich schal an und ich mache mir Vorwürfe wegen Maya. Ich hätte sie schon längst anrufen sollen. Dass Jesse seit Tagen unterwegs ist, überrascht mich nicht. Aber dass Maya bei ihrer Schwester übernachtet, gibt mir zu denken. Bei Alice hätte ich auch Alpträume. In ihren Fenstern hängen viel zu viele Dreamcatcher und Windspiele.

      Wir fahren die Einkäufe zu mir und danach zum Zoo. Als Silvester im Reptilienhaus verschwindet, rufe ich Maya an und hinterlasse eine Nachricht. Dann rufe ich bei Jesse an. Keine Antwort, keine Mailbox. Ich stecke das Telefon in die Hosentasche und meine Hand hinterher, voller Unruhe, die ich mir selbst nicht erklären kann.

      Nachdem Silvester eingeschlafen ist, arbeite ich wieder an dem Alten Mann. Ich möchte ihn fertig kriegen. Er geht mir auf die Nerven. Sein Blick wird jeden Tag anklagender. Er will die Bürde nicht auf sich nehmen, die ihm aus dem Rücken quillt. Er will sie loswerden, auf mich übertragen. Das ist dein Problem, nicht meines, scheint er zu sagen. Ich ignoriere ihn, ignoriere den süßlichen Geruch, den ich seit dem Abendessen nicht mehr aus der Nase kriege. Ich habe Kopfhörer auf, um Silvester nicht zu stören und male mich Strich um Strich aus dem Bild heraus. Der Alte Mann will mir seinen Schatten überstülpen. Ich aber weiß: Der Schatten wird wieder von allein zu mir zurückkommen. Sie alle kommen zu mir zurück, alle Schatten, die ich jemals irgendwo hinterlassen habe. Ich höre die Stimmen in meinen Kopf, seine leise und brüchig, meine aufbrausend und schnell. Ich rechtfertige mich einem Bild gegenüber, während ich darüber nachdenke, wie sinnlos das ist. Aber ich kann damit nicht aufhören. Ich muss es ihm erklären.

      Plötzlich berührt mich etwas am Ärmel.

      Ich zucke zusammen und drehe mich um. Silvester steht vor mir, reibt sich mit der Hand im Auge. Er weint. Ich nehme ihn in die Arme.

      „Ich hab Angst, Papa.“

      „Warum denn? Ich bin doch da.“

      „Ich habe nach dir gerufen. Aber du bist nicht gekommen. Papa.“

      Er weint immer stärker, sein Schluchzen wird kürzer, abgehackter.

      „Silvi, ich hatte Kopfhörer auf. Was ist denn los?“

      „Papa, hier spukt’s.“

      Nach einer halben Stunde habe ich Silvester beruhigt und wieder ins Bett gebracht. Als ich ihn zudecke, schaut er mich an und flüstert: „Du kennst ihn auch, oder?“

      Er meint den Jungen mit den Hasenohren. Den Quälgeist seiner Alpträume.

      Ich schüttle den Kopf. „Ich glaube nicht, mein Schatz.“

      Dass mein Kind seit Monaten von einem bösartigen Wesen träumt, immer wieder von demselben, ist wahrscheinlich kein gutes Zeichen für seine Entwicklung. Ich sollte mit Larissa darüber reden, aber ich weiß schon jetzt, was sie sagen wird: Dass er die Alpträume nur bei mir hat und dass sie mit den Bildern zusammenhängen. Obwohl ich noch nie einen Jungen mit Hasenohren gemalt habe. Ich beschließe, am nächsten Morgen mit ihm darüber zu reden. Wenn es hell ist und wir beide keine Angst haben müssen.

      Als ich das Licht neben dem Bett ausmachen will, zucke ich zusammen. Auf dem Nachttisch steht ein kleines Plastikgespenst. Ich nehme es in die Hand und mache das Licht aus. Es leuchtet grünlich.

      „Woher hast du das?“

      Silvester antwortet mit verschlafener Stimme. „Das ist Funzi. Er beschützt mich.“

      „Ja, aber wo hast du ihn gefunden?“ Ich bereue meine Frage sofort. Ich sollte ihn schlafen lassen.

      Er nimmt mir das Gespenst aus der Hand und dreht sich um. „Funzi lag auf dem Kopfkissen. Der ist für mich, oder?“

      Ich reiße mich zusammen. „Klar ist der für dich, Schatz. Schlaf gut.“

      Ich weiß nicht, wie lange ich neben ihm auf dem Bett sitzen bleibe. Zusammengesunken starre ich in die Dunkelheit und frage mich, wie der Inhalt eines Überraschungseis, das mir jemand in die Tüte am Fahrrad gesteckt hat, in meine Wohnung kommt. Als ich die Augen öffne, dämmert es. Silvester schläft tief, eine geballte Faust neben seinem blau schimmernden Gesicht auf dem Kopfkissen. Funzi leuchtet grün aus der Faust. Sein Schutz gegen die Geister, die ich rufe. Sein Geist gegen meine Geister. Mir wird schwindelig, als ich aufstehe.

       # 4: 18. Januar

       Gestern rief ich die Nummer an, weil mir nichts mehr anderes einfiel. Ich dachte nicht, dass ich mich dazu überwinden würde, aber ich war betrunken und hatte die Schere schon zweimal in der Hand und immer noch zu viel Energie übrig, also rief ich an.

       Eine Frau meldete sich und ich wollte sofort wieder auflegen, aber dann fragte ich doch nach ihm. Sie meinte, dass er nicht da sei und ich hinterließ meine Nummer. Heute Morgen rief sie mich zurück und lud mich auf eine Party ein, morgen Abend. Er würde auch da sein und sich freuen, wenn ich käme.

       Erst als ich auflegte, war ich aufgeregt. Keine Ahnung, warum ich denke, dass ausgerechnet dieser Mann mir helfen kann, aber mir würde es schon reichen, wenn er meine Hand nimmt und mich anschaut oder wenn seine Freundin mit mir kichert, als könnte man gut mit mir kichern. Besser als ein weiterer Abend zu Hause, an dem das Telefon nicht klingelt.

      Kapitel 5

      „Und? Haben sich die Bullen nochmal bei dir gemeldet?“ Jesse zieht an seiner Zigarette und starrt die Frau zwei Tische weiter an.

      „Die Bullen?“

      „Wegen deiner Nachbarin, Mann.“

      Ich kratze am Flaschenetikett. Die Frau starrt zurück. Er dreht den Kopf zu mir, zieht eine Augenbraue nach oben, zieht an der Zigarette, bis seine Wangenknochen Schatten werfen und bläst mir den Rauch ins Gesicht. Ich will nach Hause.

      „Nein.“

      „Nein?“

      „Sie haben nicht mehr angerufen.“

      „Du wirst nicht mehr verdächtigt?“ Er grinst breit.

      Ich schaue an ihm vorbei und sehe, wie die Frau aufsteht, auf uns zugeht. Sie senkt den Kopf und nimmt uns ins Visier, erst ihn, dann mich. Eine Maus, die sich für die Katze hält. Jesse zieht scheinbar entspannt an seiner Zigarette, aber seine Augen verraten ihn.

      Ich lehne mich über den Tisch. „Hier kommt deine Beute.“

      Jesse dreht sich zu ihr um. Sie wirft ihm einen tiefen Blick zu und geht an uns vorbei in Richtung Klo. Er starrt ihr hinterher.

      Ich räuspere mich. „Es war wohl wirklich Suizid. Ich bin raus.“

      Er sieht für einen Moment enttäuscht aus und ich habe Lust, ihn zu treten. Aber ich weiß, das macht ihn an und lasse es bleiben. Ich fühle mich matt.

      Er nimmt einen letzten Zug und nickt mir zu. „Wartest du auf mich? Dauert nicht lange.“

      Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie ich zu Hause im Sessel sitze. Ganz allein. Mit einem Glas Wein. Einem Joint. Musik. Frieden.

      Warum ich nicht zu Hause geblieben