Tons May

Zellgeflüster


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darauf in Jesses Stammbar. Er war tatsächlich da und schien sich eine halbe Minute lang über mich zu freuen. Dann zeigte er auf eine Gruppe Touristinnen und fragte: „Rot oder blond?“

      Seitdem frage ich mich, warum ich überhaupt aus dem Haus gegangen bin. Ich sehne mich nach Ruhe und Dunkelheit. Ein typischer Anfall von Ambivalenz, der mich an manchen Tagen stundenlang lähmt. Heute nicht. Ich trinke mein Bier aus, schalte mein Telefon aus und gehe nach Hause.

      Die Polizei hat sich tatsächlich nicht mehr gemeldet. Soll ich beim Vermieter nachfragen? Ich verwerfe den Gedanken sofort wieder. Wenn ich von der Sache nichts mehr höre, ist wohl alles in Ordnung. Ich lasse mich in den Sessel fallen, kratze mich am Kopf. Mein Haar stinkt, obwohl ich es gestern gewaschen habe. Nichts ist in Ordnung. Juliana stach sich ein Auge aus und erhängte sich. Kurz nachdem ich sie malte. Und in ihrem Notizbuch steckte ein Foto von mir. Ich stehe auf und gehe nach hinten. Dort, wo das Licht der Neonröhren nicht mehr hundertprozentig hinreicht, stehen die fertigen Bilder. Als ich den Unfall hervorziehe, höre ich ein Geräusch in der Küche. Mein Magen zieht sich zusammen, aber ich schaue nicht nach. Langsam schiebe ich das Bild ins Licht.

      Ich könnte es zerstören. Zerschneiden, zerreißen, zerfetzen, verbrennen. Oder einfach nur übermalen. Ich suche nach dem inneren Impuls, dem manischen Feuer, das den Schritt rechtfertigen würde, und trete einen Schritt zurück. Ich finde das Bild nicht besser oder schlechter als andere Bilder von mir. Es ist fertig und ich hänge nicht mehr sonderlich daran. Ein fertiges Bild muss für sich stehen. Sobald ich es abgeschlossen habe, bin ich auch emotional damit fertig. Nerven kosten mich nur die Arbeiten, die kein Ende finden. Oder die, die ich nie anfange.

      Doch ist dieses Bild wirklich fertig? Mir fällt auf, dass es eine merkwürdige Stimmung hat. Keine, die ich beabsichtigt hatte. So etwas passiert öfters. Ich male etwas, ohne zu ahnen, wie es schließlich als Endprodukt wirken wird. Die Räume verselbstständigen sich. Die Charaktere bekommen Charakter. Die Farben verändern sich, ohne dass mir das beim Malen bewusst wird. Ich bin ein ziemlich stumpfer Demiurg in meiner Welt. Die meiste Zeit weiß ich nicht, was ich tu. Was entsteht, entsteht. Was nicht, kann später noch hinein interpretiert werden.

      Eigentlich war das Bild vor zwei Wochen fertig. Ich erklärte es für gelungen und schob es weg. Jetzt stehe ich vor dem Unfall und sehe Details, die mir vorher nicht aufgefallen sind. Die verletzte Frau, gerade dem Tod entronnen und weggetreten, sieht anders aus. Anders als auf dem Foto und anders, als ich sie malen wollte. In meiner Erinnerung war ihr Blick unfokussiert. Das gesunde rechte Auge halbgeschlossen, das geschwollene linke Auge im Schatten, ihr blutüberströmtes Gesicht weich, fast schlaftrunken. Und jetzt? Sie schaut mich an, das halbgeöffnete Auge ist eindeutig auf den Betrachter fixiert. Sie sieht vorwurfsvoll aus. Einäugig vorwurfsvoll. Ich fahre mir mit der Hand über mein linkes Auge und merke, dass ich schwitze. Mir ist flau im Magen. Ich sollte etwas essen.

      Das habe ich nicht gemalt. Oder doch? Manchmal bin ich so breit, dass ich mich nicht mehr erinnern kann. Und das Ergebnis ist dementsprechend. Früher habe ich so immer wieder Arbeiten verhunzt. Deshalb male ich an Bildern im Endstadium nur noch nüchtern, höchstens angetrunken. Meistens jedenfalls. Aber hier? Ich trete noch einen Schritt zurück. Die Frau schaut mich an, keine Frage. Und dann passiert etwas Merkwürdiges: Während ich sie betrachte und den Hintergrund, das zusammen geschobene Metall, den Rauch, die Nacht dahinter, entdecke ich neben ihr auf dem Beifahrersitz das Phänomen. Ich weiß, dass es da ist, ich habe es gemalt, doch ursprünglich sah es anders aus. Es war nur vage zu erkennen, ein zweiter Körper, ohne Kopf, angegurtet. Und jetzt? Je länger ich hinschaue, desto besser kann ich es sehen. Als würde es aus dem verrußten Sitz wachsen. Das Phänomen hat auf einmal einen Kopf. Schemenhaft zwar, aber unverkennbar. Ich kann Augen wahrnehmen, Nase, Mund. Das Gesicht kommt mir bekannt vor. Ich schaue genauer. Komme näher. Gehe einen Schritt zurück. Unverkennbar. Mir wird übel.

      Als ich in die Küche gehe, habe ich das Geräusch schon vergessen. Und dann sehe ich es. Die grüne Salatschüssel, die Larissa mir geliehen hat, liegt auf dem Boden. Sie ist in zwei Teile gebrochen. Ich bücke mich und dann fällt es mir ein.

      Ich hatte ihr die Schüssel zurückgegeben. Vor über zwei Wochen. Ich steckte sie in eine Tüte und gab sie Silvester mit, als er aus dem Auto stieg. Larissa nahm sie ihm mit einer Hand ab und fuhr ihm mit der anderen durchs Haar. Dann winkte sie mir zu. Ich erinnere mich genau.

      Ich brachte Silvester zurück und fuhr wieder nach Hause. Danach malte ich die ganze Nacht über. Am Unfall. Eine Straße in Nordengland. Frühe 1960er. Ein hellgrüner Cortina, aber das erkennen nur noch Profis. Die Frau am Steuer in einem hellblauen Kleid, das Blut schon eingetrocknet an manchen Stellen. Überlebte sie den Unfall? Das Foto, das ich als Vorlage benutzte, zeigt neben ihr auf dem Sitz einen menschengroßen Fleck. Vermutlich retuschiert oder doppelt belichtet. Vielleicht ist es ein Schatten. Vielleicht eine Erscheinung. Das Foto legt sich nicht fest, aber das Archiv, in dem ich es gefunden habe, schon. Dort heißt es: Verstorbener Bruder erscheint neben Unfallopfer.

      In meinem Bild bin ich der Bruder. An den Rest des Abends kann ich mich nicht mehr erinnern.

      *****

      Wann habe ich angefangen, Geister zu malen? Anfangs waren es für mich keine Geister. Es waren „Phänomene“. Fehler in der Wahrnehmung. Löcher im System. Larissa war die erste, die von Geistern sprach. Sie stand im Atelier und schaute sich die Bilder schweigend an. Sie war schwanger und ich ließ sie in Ruhe.

      Schließlich drehte sie sich um und schüttelte den Kopf. „Geister? Warum Geister?“

      Ich weiß nicht mehr, was ich darauf antwortete. Ob ich irgendetwas antwortete. Aber es blieb hängen. Wir würden ein Kind kriegen. Und ich malte Geister. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun, bis Larissa die Verbindung herstellte. Sie sagte es nicht, doch ich hörte es: Hör auf mit den Geistern und kümmere dich um uns. Der Vorwurf schwang mit: Hätte ich nicht nur Geister gemalt, wäre ich erfolgreicher geworden. Wer will sich schon „Phänomene“ ins Wohnzimmer hängen?

      Heute weiß ich, dass ich keine Wahl hatte.

      Damals wusste ich das noch nicht und meine Erklärungsversuche richteten sich sowohl an sie als auch an mich. Warum Geister? Ich sehe mich, wie ich vor ihr stehe, in der Ateliergemeinschaft in Treptow, in hellen, zugigen Räumen, die sich kaum beheizen lassen. Ich habe mehrere Jacken an und male in Handschuhen mit abgeschnittenen Fingern. Larissa findet das albern und zieht mich damit auf.

      „Du bist so ein Spitzweg geworden. Der arme, lungenkranke Maler im kalten Osten.“ Sie lacht, aber ihr Lachen ist nicht freundlich.

      Ich lache auch und sage, dass ich mir kein Atelier im warmen Westen leisten kann. Außerdem mag ich die Leute, mit denen ich mir die Räume teile, alle Spitzwegs wie ich. Ich erwähne nicht, dass ich eine Frau lieber mag als die anderen. Diese Frau und ihre ofenbeheizte Wohnung in Neukölln sind der Grund, warum ich mir in dem Winter damals keine Lungenentzündung hole. Wenn Larissa etwas davon ahnt, zeigt sie es nicht. Man könnte behaupten, unsere Kommunikation läuft nicht ideal.

      Und da ich es nicht mehr gewohnt bin, mit Larissa über Dinge zu sprechen, die mir nahe gehen, werden unsere Unterhaltungen zunehmend komplizierter. Ich mache vage Handbewegungen, mit denen ich mir die Worte aus dem Mund ziehen möchte. Worte, die nicht von allein kommen. Am liebsten würde ich es in Ektoplasma sagen. Und anstatt mit der Wahrheit, irgendeiner Wahrheit herauszurücken, sage ich etwas Verkopftes. Meine Hoffnung: Je abgehobener die Erklärung, desto schwieriger wird es für Larissa, sich mit einer Frage einzuklinken. Also sage ich, dass es mir nicht um die „Realität von pararealen Phänomenen“ geht. Sie zieht die Augenbrauen zusammen. Ich fahre fort, dass es nicht die Geister an sich sind, ihre Existenz oder Nichtexistenz, die mich interessieren. Es geht nicht um den Nachweis für ein Leben nach dem Tod, um Zwischenzonen oder Zeitparadoxe. Das sage ich.

      Larissa runzelt die Stirn.

      Ich sage, dass ich Fälschungen male. Das ist zumindest technisch gesehen die Wahrheit. Ich erzähle von Manipulationen, die das Leben für manche von uns leichter machen. Simulationen einer Parallelwelt, die verlockend erscheint, weil sie anders ist und dennoch unserer Welt nicht so unähnlich. Ich erzähle vom Ort der Projektionen, dem Ort, wo Ängste Namen haben und deshalb beherrschbar erscheinen.