Tons May

Zellgeflüster


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von mir. Nach den Feuern der Aura hängt es wie grauer Nebel vor mir. Das ist meine Migräne. Erst ein Gewitter, dann eine schwere Dunkelheit, die mir den Atem nimmt.

      Nach dem Anfall muss ich malen, bis der Druck wieder verschwunden ist. Übermalen, unter Farbe vergraben, aus dem Bewusstsein verbannen. Irgendwann einmal habe ich begriffen, dass das am besten funktioniert, wenn ich Geister male. Inszenierte und erfundene Geister. Leichte Lichtwesen, erwachsen aus Doppelbelichtungen, Gazetüchern oder an den Körper geklebten Zeitungsausschnitten. Für meine Vorlagen bediene ich mich aus dem großartigen Werk der Geisterfotografie.

      Es dauerte eine Weile, bis ich den Zusammenhang bemerkte. Plötzlich wurde es mir klar, nach Jahren, in denen ich mich durch die Migräne malte. Ich male falsche Geister, damit die echten keine feste Form annehmen, damit sie keine Macht erhalten. Ob es Geister jenseits meiner feuernden Nervenenden gibt, weiß ich nicht. In den Gewittern, die durch meinen Kopf ziehen, erahne ich etwas, eine Welt in der Welt, normalerweise verschlossen oder zu leise für die alltägliche Wahrnehmung. In der übermäßigen Erregung meiner Synapsen zeigt sich etwas, das ich nicht erklären kann. Oder will. Deshalb muss ich mich in einen Zustand malen, in dem mir das egal ist.

      Ich male, bis mir der letzte Geist aus der Hand getropft ist. Ich halte mich an den gefälschten Geistern fest, bis sich das Migränephantom auflöst und ich den berühmten Schub kriege. Bis ich die Energie spüre, die Reinigung, das, was Larissa Männermenses genannt hat, als sie es noch gut mit mir meinte. Danach will ich nicht mehr malen, aber ich muss. Muss beenden, was ich angefangen habe. Und so wächst ein Bild ins nächste, vor der Migräne ist nach der Migräne.

      Manchmal bin ich dankbar für diese Regelmäßigkeit.

      Zwei Tage nach dem Migräneanfall ruft Moiras Assistentin mich an und berichtet, dass ein weiteres Bild von mir verkauft wurde, die Frau im Aquarium. Es ging an denselben Klienten, der vor einiger Zeit den Asthmatiker erstand. Das Bild, das Moira den Gehörnten nannte, weil der Kunde angeblich auf blöde Titel steht. Ich frage mich, wie sie die Frau im Aquarium vermarktet hat. Sirene aus dem Jenseits?

      „Das ist mein Sommer“, rufe ich.

      Die Frau am anderen Ende der Leitung schweigt. Vermutlich bin ich der Künstler in Moiras Galerie, der sich am schlechtesten verkauft.

      Besser gelaunt rufe ich Larissa an und entschuldige mich, weil ich sie wieder versetzt habe. Zwei Minuten später klingelt das Telefon und Silvester fragt, ob er heute bei mir übernachten darf. Ich setze mich ins Auto und fahre los. Als ich ihn abholen will, zieht er mich in sein Zimmer und zeigt mir das neue Terrarium, das Larissas Freund gebaut hat. Polly ist nicht darin, sondern kriecht irgendwo im Zimmer herum. Ich achte darauf, wohin ich trete.

      „Wie geht’s dem Mädchen?“

      Silvester wirft einen Blick unters Bett, wo sie sich versteckt hat.

      „Sie hat Schnupfen.“

      „Wie hat sie denn das geschafft bei der Hitze?“

      „Der Tierarzt sagt, sie hat einen Zug gekriegt. Ist nicht weiter schlimm.“

      „Und jetzt?“

      „Ich gebe ihr Vitamine und sage ihr jeden Abend, dass sie gesund wird. Mama meint, das hilft ihr.“

      Er greift unters Bett und zieht die kleine Schildkröte hervor. Sie sieht aus wie immer.

      Ich beuge mich zu ihr herunter. „Hallo Polly. Was machst du für Sachen, altes Haus?“

      „Polly ist doch noch gar nicht alt. Erst zwei. Sie kann über vierzig werden. Älter als du, Papa!“

      „Ich dachte, Schildkröten werden über 100.“

      „Polly nicht. Die Rasse wird nicht so alt. Ist ja auch besser so bei einem Haustier.“

      Er macht ein vernünftiges Gesicht und setzt sie zurück auf den Boden. Wir beobachten, wie sie langsam unter das Bett kriecht. Mir fällt auf, dass Silvester wieder ein Stück älter aussieht, erwachsener. Seine dicken, braunen Haare fallen ihm in die Augen. Seit einiger Zeit will er sie nicht mehr schneiden lassen. Larissa macht mich und meinen „Pennerlook“ dafür verantwortlich.

      „Möchtest du sie nicht ins Terrarium setzen, wenn du über Nacht weg bist?“

      „Ach nö, das kann Mama machen.“

      Ich muss lachen. Larissas Freund baut extra ein Terrarium, damit die Schildkröte nicht überall hin kackt und Silvester benützt es nicht.

      Als wir losgehen, steht Larissa mit verschränkten Armen an der Tür. „Was macht ihr heute noch?“

      „Wir gehen in den Zooooo“, ruft Silvester aus dem Treppenhaus.

      „Schon wieder?“ Larissa schaut ihm hinterher. Sie sieht blass aus.

      Ich gehe Silvester hinterher. „Mal sehen. Vielleicht fahren wir auch an den See.“

      „Nee. Zooooo!“

      Silvester ist schon eine Treppe nach unten gerannt.

      „Du meldest dich morgen, ja?“ Larissa schaut mich mit besorgter Miene an.

      Ob es an mir liegt oder ob sie generell besorgt ist, kann ich nicht sagen. Ich gebe ihr einen Kuss und renne meinem Sohn hinterher.

      Im Supermarkt treffen wir auf Mayas Schwester. Während Silvester nach den „richtigen Cornflakes“ sucht, erzählt sie mir, dass Maya gerade bei ihr übernachtet.

      „Jesse war mal wieder verschollen und sie schläft momentan so schlecht. Alpträume.“

      Alice wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu, dann wendet sie sich dem Regal neben uns zu. Das Wort „Alpträume“ hängt unheilschwanger in der Luft. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen, aber das mag sie nicht. Sie wird nicht gerne von anderen Leuten berührt. Vor allem nicht von Rauchern und Leuten mit Bart. Ihre spröde Ernsthaftigkeit sorgt immer wieder für Erheiterung bei Maya und Jesse. Mich hingegen zieht sie runter.

      Während Alice mit mir spricht, sieht sie sich ganz konzentriert die Nudeln an. Zum hundertsten Mal wundere ich mich darüber, wie sehr sich die Schwestern gleichen und gleichzeitig so unterschiedlich aussehen. Alice hat dieselbe Haar- und Augenfarbe wie Maya, denselben gelblichen Hautton, dieselbe runde Gesichtsform. Aber sie wirkt älter, härter und ängstlicher. Um ihren Mund hat sie einen besorgten Ausdruck, den ich von Maya nur kenne, wenn sie verkatert ist. Alice ist etwas größer und dünner als ihre Schwester. Meistens verschränkt sie ihre Beine oder Arme. Noch nie habe ich sie entspannt gesehen. Auch jetzt sind ihre Augenbrauen zusammengezogen und sie schaut mich skeptisch an. Ich habe das Gefühl, sie vermutet, ich stecke mit Jesse unter einer Decke. Heute jedoch bin ich unschuldig. Auch ich habe seit Tagen nichts mehr von ihm gehört.

      „Was für Alpträume?“ Ich bereue die Frage schon während ich sie stelle.

      „Alpträume halt. Wilde Jagden. Jemand versucht sie zu erwürgen. Niemand hilft ihr.“

      Jetzt sieht Alice mich direkt an. Ihr Blick ist nicht freundlich.

      Ich nicke das Nudelregal an. „Ich werde mich bei ihr melden.“

      „Beat, ich weiß nicht, was ihr da macht und was das Ganze soll ...“ Alice sucht nach Worten, nach Nudeln, „Aber es geht ihr echt nicht gut, und vielleicht könntest du mal mit Jesse reden, oder dich selber kümmern ...“ Sie greift nach einer Packung Penne, schaut sie an, „Vielleicht mal etwas ernsthafter kümmern ...“ Sie legt die Penne zurück, greift nach den Rigatoni, schüttelt sie. Dann seufzt sie, setzt wieder an. „Ich habe ja keine Ahnung, was ihr da tut, wie das funktioniert, aber wenn es nur Sex ist, unverbindlich oder was weiß ich ...“ Sie bricht ab, sucht weiter im Regal, vielleicht nach noch dickeren Nudeln, um ihre Rede zu unterstreichen, „Dann lass doch bitte meine Schwester in Ruhe. Ich verstehe das nicht. Entweder du kümmerst dich oder du kümmerst dich nicht. Was ist denn daran so schwer?“ Sie hat ihren Punkt gemacht, greift nach den Farfalle und wirft sie in ihren Wagen.

      „Schmetterlinge.“

      „Was?“