„Entschuldige, du kennst noch nicht die ganze Geschichte, die Yannick mir gerade erzählt hat. Demnach ist der Großvater unseres Toten verdächtigt worden, vor 14 Jahren an einem Raubüberfall auf die BNP Paribas beteiligt gewesen zu sein. Allerdings konnte man dem Mann nichts nachweisen. Seine Kollegen haben dichtgehalten, so dass nur zwei von den drei Ganoven verurteilt worden sind. Da bei dem Überfall ein Wachmann ums Leben gekommen ist, ist mein Vorgänger, Ewen Kerber, an der Aufklärung beteiligt gewesen. Und Kerber hat Yannick die Einzelheiten erzählt.“
„Das heißt, dass unser Mord eventuell mit dem Bankraub vor 14 Jahren zu tun hat?“
„Das weiß ich nicht und möchte es auch nicht behaupten, aber möglich wäre es. Die beiden Verurteilten sitzen eventuell noch im Gefängnis von Brest und könnten in der nächsten Zeit entlassen werden. Wir müssen das überprüfen.“
„Gut, das bedeutet, dass die beiden ein Alibi haben, falls sie noch einsitzen. Warum ist der Enkel des dritten mutmaßlichen Beteiligten ermordet worden? Das passt nicht so richtig ins Bild“, fragte Monique nachdenklich.
„Das sind Fragen, die wir zu klären haben. Aber es ist ja noch nicht einmal sicher, dass der Bankraub von damals etwas mit dem Mord zu tun hat.“
„Dann lass uns zuerst mit dem Vater von Mewen Bolloc´h sprechen. Hast du seine Adresse?“
„Die steht in der damaligen Anzeige. Der Mann wohnt in der Rue Neuve, in Beuzec Conq, einem Vorort von Concarneau.“
Monique und Anaïk machten sich auf den Weg nach Concarneau. Es regnete schon seit Stunden in Strömen. Der Himmel hing voller schwarzer Wolken. Die Bäume hatten ihr Laub zum größten Teil verloren. Anaïk mochte diese spätherbstliche feuchte Jahreszeit nicht besonders. Sie liebte ihre Bretagne hell und blühend, mit dem Geschrei der Möwen und dem Geruch von Algen, Meer und Fisch. Die letzten Tage des Herbstes und die Wintermonate erlitt sie mehr. Natürlich hatten auch die Winterstürme ihren Reiz. Wenn der Wind das Meer aufpeitschte und die Wellen sich bis zu zwanzig Meter hoch auftürmten und krachend über die vorgelagerten Felseninseln stürzten, die Leuchttürme mit einem Wasserschleier umgeben waren, und der Algenschaum sich wie ein Schneeteppich über die Strände ausbreitete und allen angespülten Schmutz zudeckte. Es gab nicht wenige Touristen, die genau deswegen in den Wintermonaten in die Bretagne reisten.
Die Voie Express nach Concarneau war beinahe leer. Anaïk lenkte den Wagen in die Ausfahrt des Lieu dit Coat Conq und fuhr in Richtung der Stadt. Die Rue Neuve von Beuzec Conq lag knappe 4 Kilometer von der Ausfahrt entfernt. Sie verließen den Kreisverkehr vor dem Hotel Ibis an der zweiten Ausfahrt und hatten nach weiteren 200 Metern bereits die Rue Neuve erreicht. Nach einem weiteren Kilometer standen sie vor dem Haus von Tadeg Bolloc´h. Es war ein kleines einfaches Haus, nichts typisch Bretonisches. Der kleine Garten machte einen eher tristen Eindruck, was vielleicht daran lag, dass lediglich ein paar Hortensienbüsche an der Hauswand standen, die nur noch braune Stängel und keine Blätter mehr trugen. Ein ehemals weißes Gartentor, das die mit grauem Kies gedeckte Zufahrt abschloss, stand geöffnet.
Anaïk und Monique stiegen aus dem Wagen und schützten sich auf ihrem Weg zur Haustür mit ihren Regenmänteln, die sie sich über den Kopf gezogen hatten, vor den Wassermassen. An einen Schirm hatten beide nicht gedacht als sie das Kommissariat verlassen hatten. Das kleine Vordach über der Haustür bot ihnen Schutz, sie klingelten.
Es dauerte eine Weile, dann hörten sie sich nähernde schlurfende Schritte. In der Tür stand ein unrasierter Mann mit zerzausten Haaren, wulstigen Lippen und tiefliegenden Augen. Seine abstehenden Ohren erinnerten etwas an Segel. Der dicke schwarze Wollpullover hatte seine bessten Zeiten hinter sich und die weiten, einst vermutlich grauen, Jogginghosen endeten über ausgelatschten karierten Pantoffeln.
„Was wünschen Sie?“, fragte Monsieur Bolloc´h die beiden Kommissarinnen.
„Bonjour Monsieur, Sie sind Tadeg Bolloc´h?“
„Ja, das bin ich.“
„Monsieur Bolloc´h, mein Name ist Anaïk Bruel, das ist meine Kollegin, Monique Dupont, wir sind von der police judiciaire aus Quimper, dürfen wir hereinkommen?“ Beide zeigten ihren Dienstausweis.
„Um was geht es?“, antwortete Bolloc´h mit einer Gegenfrage, ohne Anstalten zu machen die Kommissarinnen eintreten zu lassen.
„Es geht um ihren Sohn, den Sie vor über einem Jahr als vermisst gemeldet haben“, sagte Anaïk und wartete seine Reaktion ab.
„Haben Sie ihn jetzt gefunden?“ Bolloc´h trat zur Seite und ließ die beiden Kommissarinnen eintreten. Seine Miene ließ nicht erkennen, ob er gespannt war ein Lebenszeichen von seinem Sohn zu erhalten. Sie blieb eher gleichgültig, beinahe desinteressiert. Sie betraten einen vernachlässigten Flur, dessen Erscheinungsbild dem des Mannes entsprechend war.
„Nach rechts“, meinte Bolloc´h kurz und zeigte auf die offenstehende Tür. Anaïk betrat als erste das Wohnzimmer. Ein in die Jahre gekommenes Vinylsofa und zwei Sessel gruppierten sich um einen kleinen, runden schwarzen Tisch, der unter der Last der Zeitschriften und Zeitungen zusammenzubrechen drohte. Oben auf dem Zeitungsstapel stand ein Aschenbecher, über und über mit Zigarettenstummeln und Asche gefüllt. Eine immer noch glimmende Zigarette lag auf dem Rand.
„Nehmen Sie Platz“, sagte Monsieur Bolloc´h, nachdem er weitere Zeitungen vom Sofa genommen hatte. Er selbst ließ sich in einen der beiden Sessel fallen.
„Also, erzählen Sie schon, haben Sie ihn endlich gefunden?“
„Monsieur Bolloc´h, wir haben gestern, bei Ausgrabungen in der Ville Close, ein Grab entdeckt. Der darin gefundene Leichnam entpuppte sich als die sterblichen Überreste ihres Sohnes.“
„In der Ville Close? In einem Grab? Wie kommt Mewen in die Ville Close? Ich habe ihn dort nicht beerdigt.“
„Davon sind wir auch nicht ausgegangen, Monsieur Bolloc´h. Soweit wir bis jetzt feststellen konnten, ist ihr Sohn einem Verbrechen zum Opfer gefallen.“
Tadeg Bolloc´h zeigte jetzt deutlich wahrzunehmende und offensichtlich ehrliche Rührung. Seine versteinerte Miene wich und machte dem Ausdruck seiner Betroffenheit Platz.
„Mein Sohn ist ermordet worden? Ich habe die ganze Zeit gedacht, dass er sich nur aus dem Staub gemacht hat. Es hätte zu ihm gepasst, mich mit allen Problemen alleine zurückzulassen. Seit meine Frau vor sechs Jahren an Krebs verstorben ist, hat Mewen keinerlei Interesse mehr an der Schule oder an einer Lehre gezeigt. Ich habe kurze Zeit später meine Arbeit verloren. Die Konservenfabrik hat dichtgemacht, und alle haben ihren Job verloren. Suchen sie mal mit 52 einen neuen Job in Concarneau. Einige Jahre habe ich von dem Arbeitslosengeld gelebt. Dann bin ich frühpensioniert worden und muss seither mit einer Minirente leben. Ich habe immer gehofft, dass Mewen eine gute Arbeit finden und mich unterstützen kann.“
Anaïk hatte nicht vor, in dieses Gespräch einzusteigen. Sie interessierte sich ausschließlich für das Verschwinden von Mewen.
„Wie war das damals als ihr Sohn verschwunden ist? War dem etwas vorausgegangen, zum Beispiel eine Auseinandersetzung oder ein Streit?“
„Nein, überhaupt nicht. Mewen ist am Nachmittag in der Ville Close gewesen. Als er zurückkam sagte er nur, dass er sofort wieder losgehen müsse, er wolle sich mit seinem Freund treffen, und er sei schon spät dran.“
„Haben Sie ihn nicht nach dem Namen des Freundes gefragt?“
„Nein, er hätte ihn mir wahrscheinlich sowieso nicht genannt. Mewen ist in den Jahren nach dem Tod seiner Mutter immer verschlossener geworden.“
„Was hat ihr Sohn in der Ville Close gemacht?“ Die Frage von Monique schien Monsieur Bolloc’h zu überraschen.
„Wieso wollen Sie das wissen?“
„Nun, wir versuchen den Mord an ihrem Sohn zu klären, da sind alle Informationen wichtig, zumal er offensichtlich in der Ville Close ermordet worden ist.“
„Hmmm, also er hat seinen Großvater besucht. Der hat sich vor einigen Jahren ein