Johannes Schell

Die Philosophie des Denkens


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Realität überhaupt erreichen kann. Aus diesen sehr alten Überlegungen stammt der seit Aristoteles meistdiskutierte Wahrheitsbegriff, der nichts definiert, sondern den Kern des Problems kaschiert. Ich meine den Adäquationsbegriff der Wahrheit, der auf die simple Feststellung hinausläuft, dass wir nur dann über Wahrheit verfügen, wenn ein Begriff mit einer Wahrnehmungstatsache zur „Deckung“ (oder „Übereinstimmung“) kommt, oder in der mittelalterlichen Formulierung: wenn die „adaequatio intellectus et rei“ vollzogen ist. Leider habe ich mir darunter nie etwas Brauchbares vorstellen können. Kein einziges Problem ist damit gelöst. Mit Hilfe einer künstlichen Klebestelle spiegelt man sich eine scheinbare Einheit vor, die nichts erklärt. Heidegger, neben vielen anderen, hat sich entschieden gegen einen solchen Wahrheitsbegriff gewandt, leider in einem Zusammenhang, der nicht weniger problematisch ist. Seine großen philosophischen Ansätze verdecken den menschlichen Erkenntnisprozess und mystifizieren die Idee der Wahrheit.

      Nun zurück zum aktologischen Gedankenexperiment des „Seinsentzugs“. Wenn man diesen Versuch konsequent zu Ende führt, dann geschieht kein unerwartetes Wunder, das uns eine höhere Welt offenbart, die in Gestalt essentieller Wesen ein unabhängiges Leben vorzeigt. Damit wäre auch gar nichts gewonnen. Wir hätten uns nur eine geistige Sphäre erfahrbar gemacht, die genauso wie alle anderen Seinsweisen mit dem unableitbaren Denken begriffen werden müsste, also mit der Hilfe der Denkbeobachtung, der sich alles Erscheinende unterwerfen muss. Idealisierungen, Entsinnlichungen und Hypostasen ändern nichts an den epistemologischen Urverhältnissen, nach denen jegliche Form der Gegenüberstellung dem „bestimmungslosen Denken“ unterworfen werden muss, das alle erkennbaren Verhältnisse übergreift und bestimmt, ob wir nun von Gott, von Göttern, von ewigen Ideen oder von irdischen Phänomenen und Stoffen reden. Und wenn uns selbst ein „Außerweltliches“ mit dem Siegel der letzten Allwahrheit gegenübertreten würde, müsste es mit der übrigen Welt in erkennbarer Verbindung stehen, sonst wäre seine Wahrheit absolut unverständlich, also weder Wahrheit noch Unwahrheit, sondern sinnlos. Wahrheit kann sich nur selbst begründen, indem sie alles andere mitbegründet. Aus diesen Überlegungen gibt es keinen Ausweg. Wenn wir den reinen Seinsentzug durchexperimentieren, dann versuchen wir, wenn auch vergeblich, alle Gegenüberstellungen aus dem Denken hinauszuwerfen - und mit ihnen uns selbst und die Welt. Wir landen im puren Nichts, oder, um es mit dem treffenden Ausdruck Rudolf Steiners zu bezeichnen: wir begegnen dem leeren „ideellen Schein“, der völlig inhalts- und formlosen Phantasmagorie des Geistes, die alles Denken aufhebt, sogar das „reine Denken“, das ja auch aus Gegenüberstellungen lebt, die es an sich selbst gewinnt. Die Wahrheit ist kein weltfernes „ens“, aber auch kein „regulatives Prinzip“, ebenso wenig ein spezifisches Kogitat, sie ist auch nicht Gott, weil dieser Begriff nichts erklärt, sie lässt sich weder „realistisch“ noch „nominalistisch“ erfassen - sie ist, wie wir vorläufig sagen wollen, der evidentielle Prozess im Weltprozesses, in dem sie sich verwirklicht. Wir werden das später genauer untersuchen. Was wir jetzt deutlich machen wollen, läuft auf die Tatsache hinaus, dass es außerhalb des Denkens keine Wahrheit gibt, nur innerhalb des Denkens, und auch nur dann, wenn wir die Welt mit hineinnehmen. Andernfalls landen wir im „ideellen Schein“. Natürlich ist dieser Begriff eine aktologische Metapher - der „ideelle Schein“ ist weder herstellbar noch denkbar - aber seine Kennzeichnung bleibt unerlässlich, weil er uns darauf hinweist, dass es keine Wahrheit ohne Welt geben kann. Der Seinsentzug führt uns an eine Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen.

       18. Der Denkentzug

      Ursprünglich waren wir von der Erkenntnis ausgegangen, dass unser Bewusstsein nur zwei Elemente enthält, die allem Denken zugrunde liegen, nämlich Begriff und Wahrnehmung. Etwas Drittes hatte sich nicht finden lassen. Und alles, was wir bisher herausgearbeitet haben, diente dem einzigen Zweck, die beiden in ein vertretbares Verhältnis zueinander zu bringen. Ohne uns dem Adäquationsbegriff der Wahrheit anschließen zu können, war uns doch klar geworden, dass Begriff und Wahrnehmung in dauernder Wechselwirkung miteinander stehen, die mit dem Problem der Wahrheit etwas zu tun haben muss. Statt nun zu deduzieren und Begriffe auseinanderzuspinnen, wollen wir wieder aktologisch vorgehen und dasselbe Verfahren anwenden, das den Seinsentzug charakterisiert: wir hatten festzustellen versucht, was der Begriff ohne Wahrnehmung wert ist; jetzt wollen wir die Gegenprobe machen und herausfinden, was von der Wahrnehmung ohne den Begriff übrigbleibt. Beide sind aufeinander angewiesen, wie uns die Erfahrungen und unsere Untersuchungen zeigen, aber wir wissen nicht, wie wir die Wechselwirkung beider verstehen sollen. Beim Seinsentzug ging uns alles Ideelle unter den Händen verloren, wir landeten bei einem Unmöglichen, beim „ideellen Schein“ - was wird nun geschehen, wenn wir den entgegengesetzten Weg gehen und einmal alles Denken, alle Begrifflichkeit aus der Wahrnehmung herausnehmen? Dabei ist es gleichgültig, wie das Denken philosophisch begriffen wird, denn jeder muss denken, wenn er sich in der Welt der Wahrnehmungen zurechtfinden will. Die genannte Wechselwirkung kann nicht geleugnet werden. Werfen wir also das gesamte Denken aus dem „Gegenüberstehenden“, aus dem „Vorgegebenen“, das wir nicht selbst produziert haben, hinaus. Zur Bezeichnung dieses speziellen Falles bediene ich mich des Ausdrucks „Denkentzug“, den ein Schüler Rudolf Steiners geprägt hat. Es sei noch einmal erwähnt, dass wir unter „Wahrnehmung“ alles verstehen, was durch den Begriff „Gegenüberstellung“ abgedeckt wird, also das raumzeitliche Weltpanorama und die innere Sphäre der Gefühle, Triebe und Bedürfnisse einschließlich der Vorstellungen und Erinnerungen.

      Geben wir zum Denkentzug gleich Rudolf Steiner das Wort:

      „Sehen wir uns die reine Erfahrung einmal an. Was enthält sie, wenn sie an unserem Bewusstsein vorüberzieht, ohne dass wir sie denkend bearbeiten? Sie ist bloßes Nebeneinander im Raum und Nacheinander in der Zeit, ein Aggregat aus lauter zusammenhangslosen Einzelheiten. Keiner der Gegenstände, die da kommen und gehen, hat mit dem anderen etwas zu tun. Auf dieser Stufe sind die Tatsachen, die wir wahrnehmen, die wir innerlich durchleben, absolut gleichgültig füreinander. Die Welt ist da eine Mannigfaltigkeit von ganz gleichwertigen Dingen. Kein Ding, kein Ereignis darf den Anspruch erheben, eine größere Rolle in dem Getriebe der Welt zu spielen als ein anderes Glied der Erfahrungswelt. Soll uns klar werden, dass diese oder jene Tatsache größere Bedeutung hat als eine andere, so müssen wir die Dinge nicht bloß beobachten, sondern schon in gedankliche Beziehung setzen. Das rudimentäre Organ eines Tieres, das vielleicht nicht die geringste Bedeutung für dessen organische Funktionen hat, ist für die Erfahrung ganz gleichwertig mit dem wichtigsten Organe des Tierkörpers. Jene größere oder geringere Wichtigkeit wird uns eben erst klar, wenn wir über die Beziehungen der einzelnen Glieder der Beobachtung nachdenken, das heißt, wenn wir die Erfahrung bearbeiten ... Die Welt ist uns auf dieser Stufe der Betrachtung gedanklich eine vollkommen ebene Fläche. Kein Teil dieser Fläche ragt über den anderen empor; keiner zeigt irgendeinen gedanklichen Unterschied von dem anderen. Erst wenn der Funke des Gedankens in diese Fläche einschlägt, treten Erhöhungen und Vertiefungen ein, erscheint das eine mehr oder minder weit über das andere emporragend, formt sich alles in bestimmter Weise, schlingen sich die Fäden von einem Gebilde zum anderen; wird alles zu einer in sich vollkommenen Harmonie.“ (Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Dornach 7. Auflage 1979, S. 30f.)

      Es kommt Rudolf Steiner auf den Zusammenhang der Dinge an, die uns in ihrer Verschiedenheit entgegentreten. Er fährt fort:

      „Damit glauben wir zugleich vor dem Einwand gesichert zu sein, dass unsere Erfahrungswelt ja auch schon unendliche Unterschiede in ihren Objekten zeigt, bevor das Denken an sie herantritt. Eine rote Fläche unterscheide sich doch auch ohne Betätigung des Denkens von einer grünen. Das ist richtig. Wer uns aber damit widerlegen wollte, hat unsere Behauptung vollständig missverstanden. Das gerade behaupten wir, dass es eine unendliche Menge von Einzelheiten ist, die uns in der Erfahrung geboten wird... Auf diesem Gesamtbilde erscheint nach Betätigung des Denkens jede Einzelheit nicht so, wie sie die bloßen Sinne vermitteln, sondern schon mit der Bedeutung, die sie für das Ganze der Wirklichkeit hat. Sie erscheint somit mit Eigenschaften, die ihr in der Form der Erfahrung vollständig fehlen“. (Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Dornach 7. Auflage 1979, S. 32f.)

      So weit Rudolf Steiner. Natürlich erhebt sich hier eine Fülle erkenntnistheoretischer Fragen, auf die Rudolf Steiner in anderen Zusammenhängen