Johannes Schell

Die Philosophie des Denkens


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subjektiven Grenzen zum objektiven Maßstab zu machen - ein Fehler, an dem wir alle leiden. Wir können also unentwegt weiterfragen, selbst im Hinblick auf die absolute Wahrheit, wenn wir sie in Gestalt eines Kogitates begreifen würden: z.B. warum gibt es überhaupt so etwas wie die Wahrheit? Warum gibt es einen Gott, der existiert, aber sich nicht ausweisen will? Schließlich dürfen wir die Frage stellen: warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts? Wir mögen endlos so weitersuchen, die Frage nach dem Warum wird niemals aufhören. Und genau an diesem problematischen Punkt müssen wir uns aus unseren Überlegungen zurücknehmen und sie als Ganzes betrachten. Nun, Sie werden das schon getan und dabei bemerkt haben, dass hier etwas nicht stimmen kann. Wir stießen etappenweise ins Leere und verloren uns in einem undefinierbaren Nichts. Man nennt diese fruchtlose Denkweise in der Fachsprache den „regressus ad infinitum“, den Weg ins Endlose, d.h. einen Leerlauf, der nichts Vernünftiges einbringt. Wir ahnen zumeist gar nicht, wie oft wir diesem endlosen Regress im täglichen Leben verfallen, weil wir zu bequem sind, unsere Gedanken konsequent zu Ende zu denken. Da hatten es die Alten leichter als wir: sie füllten den Freiraum des Absoluten mit den vergeistigten Antlitzen ihrer Engel und Götter, mit überhöhten Menschenantlitzen, die eine überirdische Kraft zu offenbaren schienen, eine Selbsttragekraft, die ihnen die gewünschte Geborgenheit, Erkenntnisbefriedigung, Gewissheit und Ruhe gab. Aber damit können wir die Bewusstseinsform des modernen Menschen kaum noch erreichen, wenigstens nicht mit den Prämissen, über die wir jetzt verfügen. Unser Absolutes ist ein Leer- und Freiraum, den wir nicht mit einem Antlitz besetzen können, um unsere Robinsonade zu überwinden, und sei es das Gottesantlitz selbst - und was genau so schockierend ist: wir finden nicht einmal einen reinen Begriff, der diesem problematischen „Nichts“ einen fassbaren Inhalt gibt. Und wenn so viele leidtragende, verzweifelte Menschen nach dem „Sinn“ ihres Lebens und Leidens fragen, dann muss ein ehrlicher Philosoph die Antwort verweigern, denn ein solcher „Sinn“ wäre ja nur als spezifisches Kogitat formulierbar und somit eine abstrakte Verdinglichung. Und wer gar ein radikales Erkenntnisbedürfnis besitzt, den können auch die zahlreichen religiösen Antworten nicht voll befriedigen, aus dem einfachen Grunde, weil auch die erhabenste Vorstellung eines höheren Wesens keine Begründung enthält. Das Warum bleibt offen. Und wer sich auf die berühmten Dinge beruft, die „höher sind als alle Vernunft“, der mag im Glauben recht haben, aber im Denken irrt er insofern, als er nicht einsehen kann, dass auch seine kategorischen Aussagen nur Kogitate der Vernunft sind, Produkte des Erkennens. Vielleicht gibt es noch ein sinnvolleres Verhältnis zu den Glaubensinhalten, aber wohl keineswegs außerhalb der Vernunft. Missverstehen Sie mich bitte nicht, ich rede hier nicht gegen den Glauben, ich zeige nur die Schwierigkeiten auf, in die wir geraten, wenn wir die Erkenntnis bemühen wollen. Die Wahrheit enthüllt sich als rätselhaftes Noli me tangere, das wir weder mit religiösen Vorstellungen, noch mit inhaltsvollen Begriffen und schon gar nicht mit abstrakten Formalisierungen in den Griff bekommen.

       15. Vom Wesen und vom „Ansich“ der Wahrheit

      Erlauben Sie mir, den Begriff „Wesen“ zu gebrauchen, auch wenn er seit Carnap irrtümlicherweise ins Gerede gekommen ist. Ich werde ihn später zu erklären versuchen. Was ich jetzt zu sagen habe, wird auch ohne eine solche Definition verständlich sein. Wir haben bisher den Begriff der „Wahrheit“ mehr nebenbei und umgangssprachlich benutzt, ohne allzu viel herausholen zu können - außer dem Bezug auf die „Kategorien“ des Denkens, besonders auf das entscheidende Phänomen der Selbsttragekraft des Denkens. Wir haben aber die Möglichkeit, noch einen wichtigen Schritt weiterzugehen und eine Feststellung zu treffen, die tiefer in unser Problem hineinführen wird.

      Die Warum-Frage ist das unverzichtbare tägliche Brot aller Wissenschaft und Philosophie, auch wenn sich die bloß formalistische Anwendung dieser Frage bis zum unendlichen Regress als unsinnig erweist. Ohne Warum keine Wahrheit, und ohne Wahrheit kein Warum. Und was wir über alle Einzelantworten hinaus erreichen wollen, das Ziel aller Ziele, ist die endgültige Begründung, der absolute ideelle Zusammenhang, der in sich selber rundherum stimmig ist, ohne irgendeine Stütze von außen. Wenn das gelingen könnte, dann stünden wir mitten in der Wahrheit. Aber dieses „Letzte“ existiert stets nur als Wahrheitserlebnis, das uns (in sehr komplizierter Weise) immer nur das Ende jeder Warum-Frage ankündigt. Ohne dieses Grunderlebnis hätten alle logischen Operationen keinen einheitlichen Sinn: ihre Wahrheitsstruktur ergibt sich aus der Selbsttragekraft (Stimmigkeit bis Evidenz) des ideellen Komplexes, den wir gerade produziert haben. Das wird am Phänomen der Evidenz unmittelbar deutlich. Zuerst taucht es als Erlebnis, als gegenüberstehende Wahrnehmung in uns auf, und erst dann bilden wir den dazugehörigen Begriff der Stimmigkeit oder Evidenz. Es geht nicht anders: logische Relationen werden erst logisch durch das überlogische (nicht un- oder alogische) Element der Selbsttragekraft des Denkens als solche erkannt und widerspruchslos aufgenommen, und zwar in jedem einzelnen Fall des reflexiven Schließens, den Irrtum eingeschlossen. Man hat bisher dieses undefinierbare Etwas nicht deutlich identifiziert, nicht genügend beobachtet und nicht sorgfältig als eigenständige Realität aus dem Denkprozess herausgelöst, um es näher kennenzulernen. Man tat das Falsche, man schob es wegen des scheinbar subjektiven Charakters solcher Wörter wie „Einsicht“ und „Einleuchten“ schnell in die empirische Psychologie ab, um es damit als epistemologische Realität zu desavouieren. Das war und ist ein unverzeihlicher Fehler, der durch die Jahrhunderte geht und in der neueren Zeit in der „Erkenntnislehre“ des Positivisten Schlick einen energischen Vertreter fand - im Gegensatz zu dem bewundernswerten Husserl, der einer der wenigen Philosophen ist, die noch von der „Wahrheitswelt“ etwas verstanden haben. Natürlich finden sich in der Wahrnehmung der Selbsttragekraft des Denken auch rein psychische Elemente, aber gewiss nicht im Sinne des veralteten „Psychologismus“. Wir werden sie bald auszumachen versuchen. Wir können nichts gewahr werden, ohne dass die Seele beteiligt ist, aber das besondere Erlebnis, dass die Wahrheit ihrer Natur nach auf sich selbst beruht, geht über das Empirisch-Psychische, wie wir es heute kennen, hinaus - und genauso über das reflexive Schlussfolgern in den abstrakt-logischen Denkprozessen. Evidenz lässt sich nicht erschließen, sie ist keine Konklusion, sie tritt plötzlich auf, ohne Begründung und auch unbegründbar. Wir können diese neue Qualität nur charakterisierend zu beschreiben versuchen. Ein Erlebnis steht vor uns, das zur Erkenntnis führt, indem es zugleich die Erkenntnis erst möglich macht. Dieser Sachverhalt entzieht sich jeder logischen Begründung, obwohl er zur Logik gehört. Die Evidenz ist unableitbar, weil sie alle unsere Ableitungen erst in sinnvolle Relationen verwandelt, sie ist der ruhende Pol in den flüchtigen Erscheinungen der spezifischen Kogitate, die wir denken. Damit berühren wir den Kern des Problems, den Rudolf Steiner einmal so ausgesprochen hat: „Die Wahrheit hat ihren Grund in sich.“ (Rudolf Steiner: Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie. Dornach 2. Auflage 2001, S. 164) Und diesen Tatbestand erfahren wir im Evidenzerlebnis unmittelbar und in dauernder Präsenz, auch dann, wenn uns subjektive Faktoren diese Erfahrung verdunkeln oder verzerren. Wir können sie entwickeln, wenn wir den guten Willen dazu haben. Sie bestimmt die geistige Struktur aller Menschen und bringt das zustande, was wir „Kommunikation“ und „Verstehen“ nennen, so verschieden auch die Mentalitäten der Individuen und Völker sein mögen.

      Nun kann man für diesen Zusammenhang eine Formulierung gebrauchen, die ihre logischen Tücken hat und dennoch verwendbar ist: ich meine den merkwürdigen Begriff der „Selbstbegründung“, mit dem man auszudrücken pflegt, was sich als unableitbar erweist. Ich wüsste keine Bezeichnung, die das Unsagbare besser umschreibt, auch nicht der Begriff der „Letztbegründung“, der mehr den bloß formalen Abschluss eines reflexiven Prozesses festhält und weniger die alles bestimmende und tragende Qualität der Evidenz umschließt. Wir wollen bei dem symbolischen Ausdruck „Selbstbegründung“ bleiben, um den Finger genau auf die Tatsache zu legen, dass die Wahrheit ihren „Grund in sich selbst“ hat. Diesen Zustand kann man auch mit einer bekannten Formel das „Ansich“ der Wahrheit nennen, oder, wenn Sie so wollen, ihr „Wesen“. Auf dieses „Ansich“ ist alles bezogen, was wir denken, oder wir müssen zu denken aufhören. Es ist das strukturlose „Absolutum“, das alle bedingten Strukturen sichtbar macht, und damit unser bekannter Freund: das „bestimmungslose Denken“. Es tritt uns niemals, wie wir wissen, als spezifisches Kogitat gegenüber und wird dennoch als evidentielle Gegenüberstellung innerlich erfahren, sonst könnten wir den Begriff des Absoluten überhaupt nicht bilden. Er kommt nicht dadurch zustande, dass wir in der Mathematik mit dem Unendlichen (in