Johannes Schell

Die Philosophie des Denkens


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Erst viel später polarisiert er die beiden Ergebnisse, ohne sich näher darauf einzulassen. So lesen wir:

      „Was im Menschen ist, ist ideeller Schein, was in der wahrzunehmenden Welt ist, ist Sinnenschein“. (Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Dornach 7. Auflage 1979, S. 137, Erste Anmerkung zur Neuauflage 1924)

      Hier könnten sehr leicht Missverständnisse auftreten, dahingehend, dass man den Begriff „Schein“ als etwas interpretiert, das mit einer Vorspiegelung gleichzusetzen ist, der jede Realität fehlt. Natürlich gibt es das Ideelle, aber nicht für sich allein, sondern immer im Verbund mit den Phänomenen der Welt. Genauso verhält es sich mit dem „Sinnenschein“. Auch er ist existent, aber ohne ein Realitätserlebnis zu vermitteln, weil das ideelle Element unfassbar wird. Wir wollen deshalb zum besseren Verständnis die beiden Ausdrücke von Rudolf Steiner, mit denen er die subjektive Scheinwelt der bloßen Sinneserfahrung bezeichnet, nämlich „reine Erfahrung“ und „Sinnenschein“, so formulieren, dass Eindeutigkeit besteht: wir sprechen in Zukunft nur vom „begrifflosen Sinnenschein“, um den Gegensatz zum „ideellen Schein“ deutlich hervorzuheben. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Stellen Sie sich eine camera obscura vor, die irgendeinen Ausschnitt eines räumlichen Panoramas abbildet, rein nach optischen Gesetzen, also ohne die Möglichkeit, dieses so gewonnene Lichtbild in eigener Regie als begrifflich geordnete Erscheinung zu erfassen, d.h. genauso, wie es unsere physischen Wahrnehmungsorgane machen, die ja auch nicht denken können -, und Sie haben das, was wir den „begrifflosen Sinnenschein“ nennen. Dasselbe müssen Sie natürlich auch auf Ihre inneren Wahrnehmungen übertragen: Sie erfahren Gefühle aller Art von denen Sie nichts wissen könnten, wenn Sie keine begriffliche Vernetzung erfahren würden. Nun sind wir aber keine camera obscura, wir sind denkende Wesen, die dem jeweiligen „Schein“ zuordnen, was dem andern fehlt. Als für sich gesonderte Zustände sind diese bloß gedachten Formen des „Scheins“ überhaupt nicht erlebbar, weil der erste die Sinnesphänomene ausschließt und der zweite keine ideelle Profilierung aufweist. Wir könnten überhaupt kein Bewusstsein entwickeln, weil es ohne das Denken kein Bewusstsein und ohne die Sinneserfahrungen keinen Bewusstseinsinhalt geben würde. Woran sollten wir uns halten? Ein ontischer Dualismus ist völlig sinnlos. Die vorgenommene Spaltung in zwei verschiedene Sphären hat ausschließlich methodologischen Charakter. Hüten wir uns davor, methodologische Probleme in ontologische zu verwandeln. Wir sitzen sonst einer vordergründigen Täuschung auf, einer vermeintlichen ideellen Innen- und einer raumzeitlichen Außenwelt. Wir verabsolutieren vielleicht nur unsere menschliche Organisation, die einem geschichtlichen Entfaltungsprozess unterworfen sein könnte. Darüber später.

       19. Der primäre Erkenntnisakt

      Es ist nun bei allen Menschen das untrügliche und geradezu evidente Gefühl vorhanden, dass uns die Sinneswahrnehmung eine unmittelbar reale Welt vermittelt, die ohne alles Ideelle auskommt. Woher dieser unverwüstliche Eindruck? Gewiss nicht aus je einer der beiden Formen des „Scheins“, die wir gefunden haben, sondern aus beiden zusammen. Aber dennoch beharren wir in unserer jetzigen Evolutionsstufe auf der unmittelbaren Rechtskraft dieses Weltgefühls und sind gerade heute sehr leicht bereit, in diesem naiven Wahrheitsbegriff des naiven Bewusstseins zu schwelgen. Die bloße Sinnenwelt betrachten wir, wie schon mehrfach gesagt, als von oben bis unten fertig, als durch sich selbst bestehend, in sich selbst gegründet, als unabhängig von uns und unbezweifelbar - als reines Sein, zu dem wir alle gehören, ohne dass wir irgend etwas hinzufügen müssen, um sie zu sich selbst zu bringen. Alles Ideelle hat für diese Welt keine ontologische Bedeutung. Mit Hilfe des Intellektes, der als Erscheinungsform der menschlichen Subjektivität betrachtet wird, versuchen wir uns zurechtzufinden, wohl wissend, dass sich diese Welt nicht um den zufällig entstandenen homo sapiens kümmert. Darüber sind sich die im Unbewussten wirkenden (verinnerlichten) Zeitevidenzen völlig im klaren, auch dann noch, wenn man sich herauszuideologisieren versucht. So weit noch einmal die Ansichten des naiven Bewusstseins. Wie sollte es auch anders sein? Wenn diese Weltbetrachtung falsch wäre, dann bliebe die Frage, in welcher anderen Welt wir nun eigentlich leben sollten; wenn sie richtig wäre, dann müssten wir uns fragen, welchen Sinn es denn haben soll, dass wir zu einer fertigen Welt noch etwas hinzufügen müssen, um sie zu verstehen und um in ihr leben zu können. Es muss dann doch zwischen Begriff und Welt einen Realzusammenhang geben, ohne den unser Leben nicht möglich wäre.

      Nun ist es aber tatsächlich so, wie wir bereits dargelegt haben: unsere inneren und äußeren Sinne stoßen nirgends auf eine fertige, in sich ruhende, in sich abgeschlossene Welt. Was sie ergreifen, ist jeweils ein Teil der Welt, oder eine „Hälfte“, wie Rudolf Steiner sagt, nämlich den „ideellen Schein“ oder den „begrifflosen Sinnenschein“, also Phänomene, denen genau das abgeht, was uns die Welt zur „Welt“ macht - im Sinne des naiven Bewusstseins. Alles, was unsere Sinne wahrnehmen (auch die inneren Sinne), ist immer nur begriffloser Sinnenschein, entbehrt der ideellen Struktur, vermittelt also nicht die Welt, in der wir leben. Ein Fertiges ist nirgends zu finden. Beide Wahrnehmungssphären sind in sich selbst im strengen Sinne des Wortes absolut sinnlos. Erst wenn beide zusammentreffen, auf irgendeine Weise, entsteht ein sich selbst tragendes Ganzes, das die Eigentümlichkeiten der beiden Sphären miteinander „verschmilzt“ und das Erlebnis einer ideell geordneten und zugleich anschaubaren Welt hervorbringt. Sie werden mir jetzt entgegenhalten, dass ich unversehens wieder bei dem früher schon bezweifelten Adäquationsbegriff der Wahrheit gelandet bin und außerdem Begriffe wie „zusammentreffen“ und „miteinander verschmelzen“ gebrauche, die nichts wirklich erklären. Sie haben zunächst recht. Ich werde erst später - mit nicht ganz einfachen Überlegungen - mehr dazu sagen. Was wir jetzt schon begreifen können, ist die entscheidende Tatsache, dass und wo sich die Verbindung beider Wahrnehmungssphären vollzieht: nämlich im ersten und ursprünglichen Erkenntnisprozess, der uns die Welt als „Welt“ übergibt, d.h. als vorbegriffene Anschauung, aus der wir bereits denken, wenn wir zu denken anfangen. Diesen entscheidenden Erstvollzug der Vereinigung des „Doppelscheins“ wollen wir den primären Erkenntnisakt nennen. Er schafft die logisch-existentiellen Prämissen für alles zeitlich nachfolgende Denken, für unsere täglichen Begriffsgestaltungen, deren wie immer gearteten Ablauf wir den sekundären Erkenntnisakt nennen wollen. Beide Akte sind ein und derselbe Vorgang, allerdings im Nacheinander der Zeit, ohne das Ineinander aufzuheben. Für die Leistungen des primären Erkenntnisaktes werden gewöhnlich die Ausdrücke „Vorinterpretation“ und „Seinsvorverständnis“ gebraucht, nicht ohne einen Anhauch des Rätselhaften und Mystischen, weil sie das menschliche Erkenntnisvermögen zu übersteigen scheinen. Oder man erklärt sie zu bloßen „Fiktionen“, die keiner philosophischen Analyse bedürfen, also krass positivistisch oder irgendwie idealistisch bis herunter zu den Neuhegelianern. Dabei wird das Problem verfehlt. Der primäre Erkenntnisakt ist weder ein Nichts noch ein Mystikum, sondern ein in jeder Hinsicht glasklarer, durchsichtiger Vorgang, der sich auf nichts weiteres zurückführen lässt als auf sich selbst. Es kann nichts Erkenntnismäßiges geben, das über ihn hinausführt, weil er als Prozess selber das Absolute ist.

       Diese Überlegungen beweisen sich (außer durch die „Kategorien“ des Denkens) in der folgenschweren Tatsache, dass ein scheinbar neues Phänomen auftritt, wenn sich die beiden Formen des „Doppelscheins“ amalgamieren: es tritt etwas hervor, das weder der „ideelle Schein“, noch der „begrifflose Sinnenschein“ produzieren kann: das unmittelbare Erlebnis dessen, was wir „Wirklichkeit“ nennen. Es gibt keine „Wirklichkeit“ ohne die Leistungen des primären Erkenntnisaktes. Damit erschließt sich unser früher erwähntes „Junktim“, die prinzipielle Zusammengehörigkeit von „Logik“ und „Erlebnis“, zum ersten Mal als unmittelbare Erfahrung: der abstrakte Begriff „Sein“ erhält erst seinen philosophischen Wert, seine brauchbare logische Bestimmung, wenn in ihm die Wirklichkeit mitgedacht und miterlebt wird. Ein Sein ohne Wirklichkeit ist eine Chimäre, und Wirklichkeit ohne mitgedachten Begriff des Seins können wir uns nicht vorstellen, oder wir werden Opfer von nur semantischen Differenzierungen, die einzelne Aspekte des Gesamtphänomens festhalten. Diese „Seinswirklichkeit“, wie wir sie einmal nennen wollen, hat ganz verschiedene Begriffsbildungen produziert, die dasselbe Phänomen bezeichnen: so den Begriff „Objektivität“, der nichts anderes sagen will, als dass wir in einer auf sich selbst beruhenden Seinswirklichkeit leben, die aus der Selbsttragekraft des Denkens und damit aus dem Ansich und der Wahrheit