Holly B. Logan

Ein aufgeschobener Kuss


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jetzt war sie schon wieder über alle Berge! Lara wurde ungeduldig. Alan lächelte sie an und wollte sie gerade etwas fragen, als plötzlich ihr Handy in ihrer Tasche vibrierte. Das ist bestimmt Nick, dachte sie und ließ es absichtlich einen Moment klingeln. Sie wollte ihn zappeln lassen und nicht den Eindruck erwecken, als sitze sie den ganzen Tag rum und warte auf seinen Anruf. Andererseits war es für einen Anruf eine merkwürdige Uhrzeit. Warum sollte Nick sie mitten in der Nacht anrufen? Es sei denn, er war mit seinem blöden Boot gekentert. Eine gewisse Schadenfreude überkam Lara bei diesem Gedanken. Sie öffnete den Reißverschluss ihrer kleinen Umhängetasche und zog ihr Handy hervor. Auf dem Display stand: ein verpasster Anruf, eine SMS. Mailbox: Der Anrufer hat keine Nachricht hinterlassen. Lara öffnete die SMS. Es war ein Bild, gesendet vor einer Minute. Darauf war alles voll Blut und ein Arm mit aufgeschnittenen Pulsadern. Panisch schrie Lara auf. Für einen Augenblick war sie desorientiert. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, blieb wie angewurzelt auf dem Sofa sitzen und starrte auf das viele Blut.

      "Was ist los? Stimmt was nicht? Ist alles okay?" Alan rutschte an Lara heran und beugte sich ein Stück zu ihr nach vorn.

      Lara nahm seine Fragen nicht mehr wahr. Sie drangen nur blechern an ihr Ohr, als würde sie jemand vom anderen Ende eines kilometerlangen Tunnels rufen. Dann sprang sie auf und stürmte, ohne ein Wort der Erklärung, aus dem Club.

      5. Kapitel

      Fragen, Fragen, Fragen. Hätte Lara Emily Martin besser doch nicht ihre private Handynummer geben sollen? Ob sie schon gefunden worden war? Würde sie rechtzeitig da sein? Sie rannte vom Gelände des Clubs, vorbei am Cosmopolitan Theater, auf den Harbour Drive. Während sie den Notruf tätigte, blieb sie am Straßenrand stehen und hielt Ausschau nach einem Taxi. Bitte, bitte, jetzt komm schon, dachte Lara und tippelte nervös auf der Stelle. Sie rief Emily an – Mailbox: "Hey, ihr blöden Kiffer, wenn ich nicht rangehe, bin ich entweder mit meinem Raumschiff unterwegs oder ihr nervt gerade voll ab. Sprecht mir bloß nicht aufs Band, ich rufe nie zurück".

      Lara sprach mit ruhiger Stimme auf Emilys Mailbox: "Ich bin in dreißig Minuten da. Emily, wenn das wieder einer der Scherze ist!"

      Lara Miller arbeitete nach ihrem Soziologie-Studium als Sozialarbeiterin und Betreuerin in sozialen Einrichtungen. Ihr Fachgebiet war die Arbeit mit suchtkranken Jugendlichen. Emily Martin war eines von Laras Sorgenkindern, eine Borderlinerin, manisch depressiv. Mehrere Ärzte sagten, ein Klinikaufenthalt sei unumgänglich. Sie hatte keinen Vater, ihre Mutter war Alkoholikerin. Emily wohnte in der WG, in der Lara bis vor kurzem als Betreuerin tätig war. Sie kannte das Mädchen gut. Es war am Anfang ein Schock, als sie Lara Bilder schickte, auf denen sie auf einer Brücke stand und dazu schrieb, dass sie gerade beschlossen habe, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ein Leben, das mit fünfzehn Jahren dabei war, gerade erst richtig zu beginnen. So war das ständig. Ging es Emily gut, war sie übertrieben überschwänglich und hätte Bäume ausreißen können. Ging es ihr schlecht - manchmal genügte ein unüberlegtes Wort eines Mitbewohners - rastete sie aus, schloss sich ein, kletterte auf das Dach des Hauses und ließ die Feuerwehr anrücken. Vieles, was das Mädchen tat und ausheckte, diente nur einem einzigen Grund: Provokation.

      Lara winkte das Taxi heran, das gerade aus der India Street bog. "Albatross Street, bitte!", sagte sie zum Fahrer und stieg hinten ein.

      Sie schnallte sich an und versuchte ein zweites Mal, Emily zu erreichen, vergeblich. An das Telefon in der WG ging auch niemand. Komisch, wer hat denn heute Nachtdienst, fragte sie sich. Die SMS, die sie von Nancy erhalten hatte, ignorierte Lara. Sie lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und atmete durch.

      "Sie können sie gern runterlassen", sagte der Taxifahrer. "Es ist ein schöner Morgen. Meine Schicht ist gleich vorbei, Sie sind mein letzter Fahrgast."

      Lara lächelte ein bisschen gequält. Offenbar war der Taxifahrer in Plauderlaune, aber Lara, die sich sichtlich unwohl fühlte, was auch ihrem Outfit geschuldet war, wollte nur eins: Schnell zum Haus kommen, in dem Emily Martin wohnte.

      Als das Taxi in die Albatross Street einbog, sah Lara schon das Blaulicht. Sie bezahlte den Fahrer, stieg aus und ging zügigen Schrittes auf die beiden Polizeibeamten, die mit Jordan, einem von Emilys Mitbewohnern sprachen, zu.

      Jordan, ein großer hagerer Typ mit zwei Liter Zuckerwasser in den Haaren, war außer sich. Er fluchte und schimpfte und sparte nicht mit Beleidigungen. "Diese blöde Kuh geht uns allen auf den Wecker. Die gehört in die Klapse, wann kommt die endlich in die Klapse?!"

      "Hör mal, jetzt beruhige dich erst mal wieder", sagte einer der Detectives behutsam und rücksichtsvoll. "Wir tun hier auch nur unsere Pflicht."

      Als Jordan Lara sah, stieß er einen übertrieben laut gespielten Schrei der Erleichterung aus. "Hey, ihr könnt die da fragen!" Er legte seine Hand auf Laras Schulter, als seien sie befreundet. "Miss Miller, wie lange müssen wir diese Irre noch ertragen? Die bringt uns alle um den Verstand!"

      Schnell stellte sich heraus, dass Emily wieder eines ihrer Spielchen gespielt hatte. Was geschehen war, ließ sich leicht rekonstruieren. Emily fühlte sich von Jordans Freundin dumm angemacht, es gab ein Wortgefecht, woraufhin Emily sich im Badezimmer eingeschlossen hatte, sich an den Handgelenken herum ritzte und an alle Nummern, die in ihrem Handy gespeichert waren, Fotos ihrer blutigen Arme schickte. Glücklicherweise sah alles schlimmer aus, als es tatsächlich war. Emily hatte das meiste gefaked. Warum das Bad aber tatsächlich aussah, als wäre dort jemand abgeschlachtet worden, stand auf einem anderen Blatt.

      "Das Jugendamt ist hier zuständig", sagte einer der Detectives, "wir müssen Ihnen aber routinemäßig ein paar Fragen stellen. Vorschrift."

      "Selbstverständlich", Lara wühlte in ihrer Tasche nach ihrer Karte, "ich bin Lara Miller, ich habe in der Wohngemeinschaft bis Anfang des Jahres als Betreuerin gearbeitet."

      "Missglückter Suizidversuch?", fragte der Polizist und grinste, während er auf Laras Karte schaute.

      "Sie wollte wohl wieder Aufmerksamkeit erregen", antwortete Lara.

      Die Beamten nickten. "Was ich mich frage", überlegte einer der Polizisten, "wo war der Betreuer heute Nacht? Man kann diese Kinder doch nicht unbeaufsichtigt lassen."

      "Da haben Sie Recht. Wer heute die Nachtschicht hatte, kann ich Ihnen leider nicht sagen."

      "Okay, das wär's erst mal soweit von unserer Seite. Dem Mädchen geht es gut, eine Nacht bleibt sie aber zur Beobachtung im Krankenhaus – sie war ziemlich aufgelöst."

      "Alles klar, danke!", rief Lara und blieb so lange vor Emilys Hauseingang stehen, bis die Cops in ihren Streifenwagen gestiegen waren.

      Tausend Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf. Sie ließ die vielen Gespräche, die sie mit Emily geführt hatte, Revue passieren. Emilys Medikamente hatten angeschlagen, sie wollte wieder zur Schule gehen. Ihr Kollege, Dr. Robertson, der Emilys psychiatrisches Krankheitsbild während ihres ersten Klinikaufenthalts diagnostiziert hatte, sah keinen Grund mehr für einen zweiten. Die heftigen Stimmungs- und Gefühlsschwankungen, die oftmals zu ihrem provokanten Verhalten geführt hatten, schrieb er ihrer Drogensucht zu. Emilys stationäre Aufnahme in die Psychiatrie hatte gleichzeitig einem Entzug gedient.

      Lara schaute dem Streifenwagen hinterher, als Daniel Baxter auf seinem Rennrad um die Kurve schoss.

      Daniel kam aus L.A. nach San Diego. Der Fünfunddreißigjährige arbeitete erst seit einem Jahr als Social Worker in Emilys Wohngemeinschaft. Daniel war kräftig und hatte auffallend rotblondes Haar. Er sah aus wie ein waschechter Ire und wohnte nur zwei Blocks von Emilys WG entfernt. Lara mochte Daniel gern, er hatte eine zurückhaltende und sehr liebenswürdige Art.

      Vollkommen außer Puste warf Daniel das Rad vor Laras Füße und sackte vor ihr zusammen. "Ich hab Dienst, Lara, verdammt, ich ..., ich ... ich dachte, Vivian ist heute dran. Ich schwör dir, das ist mir noch nie passiert! Wir haben die Schichten getauscht. Ist ... ist sie …?"

      Lara war sofort klar, dass Daniel auch Emilys verstörendes Foto erhalten hatte. Als er mit einem Anruf bei seiner Kollegin, Vivian McElroy, feststellen musste, dass er im Dienstplan eine Zeile verrutscht