elmer weyer

Böser Verdacht


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dem Moment, als Snyder sich mit diesem Glück bringenden Gefühl im Bauch vertraut macht, setzt sich ein Mann links mit etwas Abstand neben ihn auf die Bank. Snyder ist überrascht, und kann gar nicht glauben, gerade so vertieft in den Gedanken an Susan gewesen zu sein. Aber er hat ihn tatsächlich nicht kommen sehen. Der Mann ist alt, klein und schmächtig. Er trägt einen dunkelgrauen Mantel, schwarze gepflegte Schuhe, und einen schwarzen Hut. Keinen Bart. Er trägt Handschuhe. Leise und gelassen sagt er: „Guten Abend Mister Snyder. Mein Name ist Kowalski, und ich möchte Ihnen vorsorglich sagen, dass ich nicht zufällig hier bin.“

      Snyder dreht sich zu ihm, schaut ihn jetzt genau an und erwidert fragend: „Mister Kowalski? Mister Leonard Kowalski?“

      Der Mann lacht leise und schüttelt den Kopf: „Nein, nein, das bin ich nicht. Ich bin Viktor Kowalski, sein Großvater, wenn Sie verstehen was ich meine.“

      Snyder überlegt einen Moment: „Nein, verstehe ich nicht.“

      Viktor Kowalski erklärt: „Mister Snyder. Mit dem Jungen ist kein großer Staat zu machen. Sein Vater ist früh verstorben, und hinterließ eine bankrotte Firma. Seine Mutter fand schnell einen neuen Mann, und hat den Rest des Geldes schnell verwirtschaftet. Ich kümmere mich seitdem um den Jungen. Und dann erfuhr ich das mit diesem Tagebuch. Ich erfuhr, dass er diesen Deal hier in Berlin gemacht hat, und ich erfuhr von Ihnen, Mister Snyder. Deshalb sitze ich hier.“

      Snyder holt seine Zigaretten heraus, steckt sich eine an und fragt: „Was heißt, Sie erfuhren von mir?“

      Der Wind weht den Rauch in Richtung Kowalski, der ein weißes Taschentuch aus dem linken Ärmel holt, und es sich wortlos vor die Nase hält. Dann tupft er sich vornehm dem Mund ab, steckt es wieder weg und sagt: „Ich möchte Ihnen etwas erzählen Mister Snyder, und keine Erklärungen abgeben. Wenn Sie das Tagebuch des Eugen Paulus lesen, werden Sie feststellen, dass für den 20. Januar 1943 kein Eintrag vorliegt. Aber ich gehe davon aus, dass er genau wusste, was an diesem Tag passiert ist. Er schien gut informierte zu sein.“

      Kowalski macht eine kleine Pause, schaut Snyder an und sieht, dass er es nicht weiß: „Okay Mister Snyder ich werde es Ihnen erzählen. Ich wurde 1930 in Warschau geboren. Als die Nazis die Macht in Deutschland 1933 ergriffen, war ich drei Jahre alt. Als meine Heimat Polen vor der Deutschen Wehrmacht 1939 kapitulierte, war ich neun Jahre alt. Wir wurden im November 1940 in das Warschauer Ghetto umgesiedelt. Meine Eltern, beide Juden, überlebten das Ghetto nicht. Und ich war dreizehn Jahre alt, als mir am 8. Mai 1943 die Flucht durch die Abwasserkanäle, hinaus aus dem lichterloh brennenden Ghetto, gerade noch gelang. Ich war dreizehn Jahre alt, und völlig alleine auf der Welt. Aber ich war kein Kind mehr. Dann zog es mich nach Amerika. Die Überlebensschule Warschauer Ghetto, gepaart mit den Erfahrungen in der Kampforganisation des jüdischen Widerstandes, empfand ich als gute Empfehlung für den amerikanischen Arbeitsmarkt. Und so war es auch. Alles was ich wollte, habe ich erreicht.“

      Snyder nutzt Kowalskis Redepause: „Warum erzählen Sie mir das, Mister Kowalski?“

      Kowalski antwortet sofort: „Ich habe gewusst, dass Sie mich das fragen würden. Ich möchte Ihr Wissen erweitern. Sie werden etwas in diesem Tagebuch suchen. Und Sie werden Fragen stellen. Und ich will Ihnen noch etwas erzählen. Etwas, das Ihr Bild der Zeit der NS Diktatur in diesem Land etwas vervollständigt. Sind Sie damit einverstanden?“

      Snyder zögert einen Moment und sagt: „Ja natürlich, ich bin einverstanden.“

      Viktor beginnt: „Ich war neun Jahre alt geworden, und der zweite Weltkrieg war zu diesem Zeitpunkt gerade 27 Tage alt, als der Begriff des Blitzkrieges geboren wurde. Der Blitzkrieg hat die deutsche Wehrmacht, seinen Führer, das deutsche Volke und seine Feinde völlig elektrisiert. Und wir haben ihn erlebt, diesen Blitzkrieg. Die deutschen Wochenschauen im sicheren Berlin, überschlugen sich mit der Verherrlichung der unbesiegbaren deutschen Soldaten. Im Handstreich wurde der Weg nach Warschau freigeräumt. Es wurde wie ein Wochenendausflug der Wehrmacht dargestellt. Sie sollten eher wie Pfadfinder, als Kampftruppen dahergekommen sein. Aber Hitler, so steht es in Protokollen geschrieben, hatte in einer kleinen Runde im Vorfeld des Überfalles gesagt, dass die Stärken der deutschen Wehrmacht, die Schnelligkeit und die Brutalität, sei. Dazu die Totenkopfverbände, damit war die SS gemeint, sollten mitleidlos Mann, Weib, und Kind polnischer Abstammung unbarmherzig und brutal in den Tod schicken. Das ist der einzige Weg, um den Lebensraum zu gewinnen, den das deutsche Volk braucht. Und genau so kam es dann auch.“

      Der Mann dreht sich kurz zu Snyder, schaut ihn an, und fährt etwas heiser geworden fort: „Mit dem ersten Tag des Überfalls auf Polen begann der Terror gegen die Bevölkerung meines Landes. Der Widerstand der polnischen Soldaten, wurde als lästig und fast respektlos gegenüber der Herrlichkeit der deutschen Armee dargestellt. Im Oktober 39, endete die Existenz Polens dann auch, und es begann die völlige Unterwerfung meines Volkes. Der deutsche Rassenwahn stufte die Polen in den Bereich der Untermenschen ein und darunter kamen wir die Juden.“

      Der Mann holt jetzt ein Asthmaspray aus der Tasche, setzt es an, und sprüht sich etwas Hydrocortison in den Rachen. Dann holt er zweimal Luft und spricht, während er das Gerät in den Händen behält mit etwas deutlicherer Stimme weiter: „In Warschau wurde ziemlich schnell mit der Errichtung des jüdischen Wohnbezirkes, wie das Warschauer Ghetto von den deutschen Besatzungsmächten genannt wurde, begonnen. Dann fingen auch die Verfolgung und Misshandlung der polnischen Juden im öffentlichen Raum an. Jüdische Geschäfte wurde gekennzeichnet und Verbote aller Art für Juden ausgesprochen. Man nahm uns unser behütetes Heim mit meinem Kinderzimmer weg, und wir zogen in das alptraumhafte Ghetto. Mein Vater verlor seine Stellung beim Warschauer Rathaus, und er bläute mir ein den Davidstern auf meiner Binde gut sichtbar am rechten Oberarm immer zu tragen. Wer das nicht tat oder vergessen hatte, wurde sofort erschossen oder erschlagen. Das sagte er, und als Neunjähriger verstand ich sehr gut was er meinte. Denn er gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass ich einen Deutschen Wehrmachtsangehörigen vorschriftsmäßig grüßen musste, weil ich sonst womöglich sofort misshandelt oder erschossen würde. Ich verstand das, und hielt mich daran. Der Terror war perfekt und die Angst, die damit erzeugt wurde war grenzenlos. Ich habe dutzende von Misshandlungen und Erschießungen auf den Straßen des Ghettos gesehen. Immer mehr Juden wurden in das Ghetto deportiert, und es wurde ständig voller, enger und schmutziger. Wir lebten zunächst mit einer weiteren, uns bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannte Familie in einem Zimmer. Sie hatten eine Tochter in etwa meinem Alter, die allerdings sehr bald verschwunden war. Sie kam eines Abends nicht mehr, und auch später nicht. Ihre Eltern redeten nicht mit mir. Aber mit meinen Eltern schon.“

      Der Mann räusperte sich, holt sein Taschentuch erneut hervor, tupft Mund seinen ab, und fährt fort: „Wir hatten keine medizinische Versorgung, keine sanitären Einrichtungen, kaum Wasser und fast nichts zu essen. Auf nur 4 Quadratkilometern, innerhalb der Straßen Stawik, Sienna, Okopowa - Zelazna und Andersa, mussten bis zu 400.000 Menschen zusammengepfercht leben. Noch vor Kurzem war hier alles ganz normal gewachsen. Die Menschen gingen ihren Gewohnheiten nach. Sie liebten, arbeiteten, feierten, trauerten und beteten wie sonst überall auf der Welt, mehr oder minder unbescholten, auch in dieser Stadt. Und plötzlich wurde in teuflisch feuerrote Glut getaucht, was gerade noch ein normaler Lebensraum für Menschen war. Und dann, es war in einer Novembernacht 1940, wurde um diesen Stadtteil von der NS Verwaltung eine 18 Kilometer lange und über drei Meter hohe mit Stacheldraht gespickte Mauer gezogen. Das Ghetto war nun perfekt.“

      Der Mann blickt auf seine Hände. Links das Hydrocortison und rechts ein weißes Tuch: „Es wurde jetzt sehr schwer für mich, denn jetzt kamen wir nicht mehr so leicht hinaus, um uns etwas Essbares zu besorgen. Mein Vater war an diesem Tag krank, und blieb im Bett. Meine Mutter begleitete mich, da vergas sie eine SS Patrouille zu grüßen. Sie wurde schrecklich beschimpft, geschlagen und sie nahmen sie einfach mit. Starr vor Angst blieb ich zwischen den anderen Anwesenden stehen, und meine Mutter bot der SS keinen großen Widerstand. Sie drehte noch zwei Mal den Kopf zu mir, und verschwand von der SS verschleppt um die nächste Ecke. Ich habe sie nie wiedergesehen. Mein Vater machte sich größte Vorwürfe, dass er sie hat gehen lassen. Ich war zehn Jahre alt, und konnte dazu nichts Erklärendes sagen. Ich war nur geschockt.“

      Kowalski sprüht sich noch einmal Hydrocortison in den Hals,