Wilma Burk

Tauziehen am Myrtenkranz


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nie wiedersehen? Wir blieben vor dem Bahnhof im schwachen Schein einer Laterne stehen. Die Menschen quollen aus dem Bahnhof und hasteten um uns davon. Wir machten beide nicht einen Schritt voneinander, um zu gehen. Es war, als wollten wir den Moment der Trennung hinauszögern.

      „Kann ich Sie irgendwo telefonisch erreichen“, fragte er.

      Ich schaute ihn an, wollte ihm antworten, begann zu stottern. Verflixt! Was war mit mir los?

      Meine Straßenbahn bog quietschend um die Ecke. „Meine Bahn!“, schreckte ich auf. Plötzlich trieb es mich, schnell wegzukommen. Hastig lief ich los zur Haltestelle.

      „Aber, wo? Ihre Adresse?“, hörte ich ihn rufen.

      Ich drehte mich im Weglaufen um und rief ihm zu: „Ich arbeite bei der ‚Habag Versicherung’ in Tempelhof. Fragen Sie nach dem Schreibbüro und Katrina Richter.“ Dann hatte ich die Straßenbahn erreicht und stieg ein.

      Atemlos stand ich im letzten Wagen, klebte am Fenster und sah den Fremden kleiner und kleiner werden, bis wir um die Ecke fuhren und er ganz verschwand. Wann hatte ich mich jemals so über mich geärgert wie jetzt. Hätte ich nicht auf die nächste Straßenbahn warten können? Aber nein, als wäre ich auf der Flucht, war ich davongerannt. Wovor war ich davongerannt? Wenn er jetzt nicht verstanden hatte, was ich ihm zurief, würde ich ihn nie wieder sehen.

      *

      Noch, als ich an diesem Abend übermüdet im Bett lag und doch nicht schlafen konnte, fragte ich mich bang: Wird es ein Wiedersehen geben? Ja, würde ich ihn überhaupt wieder erkennen? Ich wusste nicht einmal seinen Namen. Verzweifelt versuchte ich, mir ein Bild von ihm zu machen. Ich hatte ihn nur in Dämmerung und Dunkelheit gesehen, aber auch gefühlt … Schlank war er und größer als ich. Doch hatte er nun blondes oder dunkles Haar? Nur seine hellen Augen sah ich klar vor mir. Und dann war da ein Geruch, der ihn umgab. Ich kannte ihn von Papa her. Das war der Geruch nach Tabak. Ich konnte ihn mir gut mit einer Tabakpfeife vorstellen. Hoffentlich, hoffentlich hatte er verstanden, was ich ihm im Weglaufen zurief. Noch im Einschlafen wünschte ich es mir.

      *

      Gespannt auf einen Anruf wartend verbrachte ich die nächsten Tage an meinem Arbeitsplatz in einem tristen Büro. Die Wände davon hätten längst einen neuen Anstrich vertragen. Der Putz der Decke war rissig seit den Bombenschäden des Krieges in der Umgebung. Wenn man morgens hereinkam, war die Luft stickig. Als Erstes zog jeder gleich die farblosen grauen Vorhänge zurück und riss die Fenster auf. Mit der frischen Luft drangen aber auch der Lärm und der Staub der Straße herein. Es war eine breite Hauptstraße. Ich hatte Glück, dieses Büro der Versicherung befand sich im amerikanischen Sektor, während einige andere Filialen davon nach der Teilung der Stadt zum Ostsektor gehörten. Viele der dort Angestellten waren dadurch zu Wanderern zwischen zwei Welten geworden, sie wohnten in einem westlichen Sektor und arbeiteten im Ostsektor. Ich aber saß hier an meiner Schreibmaschine und hoffte, dass der Fremde mich finden würde. Bei jedem Klingeln des Telefons hielt ich inne. War er es?

      Fräulein Krause, die Chefin unseres Schreibzimmers, saß gleich neben der Tür an ihrem Schreibtisch, so dass sie alle Schreibmaschinenplätze übersehen konnte. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie wirkte grau und eingesunken. Fand sie aber einen Grund, vorwurfsvoll ihren Kopf zu heben, so richtete sie sich auf. Sie hörte genau, wenn eine der Maschinen stillstand. Ungehalten konnte sie dann fragen: „Was gibt's?“ Und sie fragte es mich in diesen Tagen oft.

      Brigitte, meiner engsten Freundin, die neben mir saß, hatte ich gleich von dem Fremden aus dem Zug erzählt. Ihre dunklen Augen leuchteten auf. „Warum hast du ihn nicht wenigstens nach seinem Namen gefragt?“, rügte sie mich verständnislos, warf mit einem ungeduldigen Ruck ihre langen dunklen Haare in den Nacken und erklärte: „Es kann doch unmöglich sein, dass er dich so verwirrt hat.“

      „Doch, das hat er“, erklärte ich verlegen und errötete.

      „Dann hast du dich verliebt!“, triumphierte sie. Dabei musterte sie mich neugierig.

      Ich kicherte vielsagend. „Dass du aber den Mund hältst und niemanden etwas davon erzählst, besonders nicht bei mir zu Hause“, beschwor ich sie.

      So kam es, dass auch sie bald aufhörte zu schreiben und neugierig aufsah, wenn das Telefon klingelte. Fräulein Krause musterte uns bereits misstrauisch.

      Doch welch vorwurfsvoller Blick traf mich erst, als sie mich dann wirklich ans Telefon rief. „Ein Privatanruf? Machen Sie daraus keine Gewohnheit, Fräulein Richter“, ermahnte sie mich.

      Brigitte stieß mich bedeutsam an, sie war ebenso aufgeregt und gespannt wie ich. Ich lief nach vorn, nahm den Hörer, den mir Fräulein Krause hinhielt, und spürte, wie mir mein Herz fast zum Hals heraussprang. Mit zittriger Stimme meldete ich mich: „Katrina Richter.“

      „Hier Konrad Haideck“, antwortete mir eine vertraute Stimme. „War nicht so einfach, Sie zu finden. Wann sehen wir uns?“ Das klang bestimmt, war mehr als eine Frage.

      Wieder spürte ich, wie ich mich dem Willen dieses mir immer noch fremden Mannes unterwarf. „Wann Sie wollen“, antwortete ich, ohne weiter zu überlegen.

      Nachdem wir eine Verabredung vereinbart hatten, legte ich den Hörer auf. Wie auf Wolken schwebte ich an meinen Platz zurück. Erst Brigittes neugierige Frage: „Na, war er es?“, holte mich wieder herunter. Als ich es ihr bestätigte, traf mich ein seltsamer Blick. Sollte sie darauf neidisch sein?

      In unserem Schreibbüro arbeiteten noch zwei andere Mädchen neben uns. Monika und Waltraud waren Freundinnen wie wir. Ich sah, wie sie miteinander tuschelten, als sie mitbekamen, was das für ein Anruf war, den ich da erhalten hatte. Ich warf den Kopf in den Nacken, sollten sie doch! Brigitte und ich mochten diese beiden nicht. Sie gehörten zu den Mädchen jener Zeit, die möglichst Nylonstrümpfe trugen und mit ihren amerikanischen Freunden prahlten. Wenn Fräulein Krause es nicht sah, zogen sie sich ihre breit gemalten, knallroten Lippen nach. Häufig erzählten sie uns von tollen Partys, an denen sie teilgenommen hätten. Was es dort alles zu Essen und zu Trinken gegeben hätte, könnten wir uns überhaupt nicht vorstellen, schwärmten sie. Auch mit anzüglichen Bemerkungen über das, was sie dabei erlebten, sparten sie nicht. Der Blick, den sie uns dabei zuwarfen, ließ uns wissen, dass sie uns für naive Gänse hielten. Brigitte und ich sahen uns nur verständnisvoll an. Jedoch wurde ich nie das Gefühl los, Brigitte würde ganz gerne Nylons tragen und Erlebnisse sammeln wie diese beiden.

      Mama behauptete allerdings: „Von diesen Mädchen solltest du dich fernhalten. Sie sind leichtfertig. Das sind keine Mädchen, die ein Mann heiraten möchte.“ Und Mama musste es ja wohl wissen.

      *

      Mamas Welt waren die Kinder, der Mann und das Heim. Noch immer gab es keine graue Strähne in ihrem dunklen Haar, obgleich sie Angst und Sorgen durch die Kriegsjahre nie losgelassen hatten. Schlimm war es für sie gewesen, als Papa Soldat wurde und sie am Ende des Krieges nicht wusste: Lebt er noch, ist er in Kriegsgefangenschaft? Da habe ich die kleine, sonst emsig im Haushalt werkelnde Person manchmal nachdenklich am Fenster stehen sehen. Was für ein Glück muss es für sie gewesen sein, als Papa schon kurz nach Ende des Krieges heimkehrte. Der Gefangenschaft entgangen hatte er sich selbst nach Hause durchgeschlagen, wie viele in jener ersten Zeit danach. So stand er eines Tages zerlumpt, mit stoppeligem Bart und hohlen Wangen vor der Tür. Ein leiser glücklicher Aufschrei von Mama und sie fielen sich in die Arme. Wie hielten sie sich umklammert! Wir umringten sie und weinten. Papa war wieder da. Sein Haar war grau und dünn geworden. Als er mich umarmte, spürte ich die Knochen seines hageren Körpers. Doch der vertraute Geruch nach Tabak umwehte ihn, auch wenn er sicher nur von fiesem Tabakabfall sein konnte, den er sich vielleicht „geschnorrt“ hatte.

      Das war sicher Mamas schönster Tag gewesen, ihre Welt war wieder in Ordnung. Sie war glücklich, dass ihre kleine Familie gut über den Krieg gekommen war und noch immer ihr Zuhause hatte. Wenn dieses Zuhause auch Risse in den Wänden aufwies, wenn es sich auch in einem Haus befand, dessen Putz durch das Kriegsgeschehen nur noch teilweise das Mauerwerk verdeckte, dieses Haus stand. Davon gab es nicht mehr allzu viele nach Kriegsende. Oft glichen sie dem Haus uns gegenüber in der Straße, das ohne Leben war. Durch die leeren ausgebrannten Fensterhöhlen