Wilma Burk

Tauziehen am Myrtenkranz


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können, aber über Konrad Haideck, den Fremden, nicht. Auch an jenem Abend, als ich von der Hamsterfahrt nach Hause kam, erwähnte ich ihn mit keinem Wort. Mama wurde schon ungeduldig. „Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen, Mädel!“, beklagte sie sich. Da erst begann ich, ihr von dem überfüllten Zug zu berichten und all den Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben hatten. Natürlich behauptete ich, dass ich sie alle allein gemeistert hätte. Wenn sie wüsste! Ich war sicher, sie würde warnend ihre Stimme erheben, dass ich mich nicht hätte so auf den Fremden verlassen dürfen. Nein, besser war es, Mama erfuhr davon vorerst nichts.

      An dem Abend meiner ersten Verabredung mit Konrad Haideck zu einem Kinobesuch, sagte ich betont unbefangen zu Mama: „Ich treffe mich mit meiner Freundin Brigitte. Wir gehen ins Kino.“

      Mama wollte mich noch etwas fragen. Doch noch ehe sie das tun konnte, war ich zur Tür hinaus. Ich hatte es sehr eilig wegzukommen.

       *

      Wie konnte ich nur glauben, ich würde ihn nicht erkennen. Von Weitem wusste ich bereits, dieser Mann dort vor dem Kino, mit dem schmalen Gesicht, der sich gerade eine Haarsträhne aus der Stirn strich, das musste er sein. Mit dieser Geste tat das nur einer, der Fremde. Mit federnden Schritten kam er auf mich zu. Ich musste mich zurückhalten, um ihm nicht entgegenzurennen. Ein warmer Glanz lag in seinen Augen, als er meine Hand nahm, meinen Arm und mich zum Eingang des Kinos mit sich zog. So hatte mich noch nie jemand angesehen. Befangen versuchte ich seinem Blick auszuweichen. Doch die Sicherheit, die von ihm ausging, machte es mir leicht, ihm widerstandslos zu folgen.

      Dieser Verabredung folgte bald die nächste. Wieder war Brigitte dabei meine Ausrede, wie auch bei allen weiteren Malen. Manchmal liefen wir nur durch die vom Laternenschein erleuchteten Straßen. Wir redeten und redeten miteinander.

      Die Tage wurden länger, der Wind wurde wärmer und ein Duft nach Frühling lag in der Luft. Mal gingen wir ins Kino, mal spazieren. Bald ergriff er meine Hand dabei und hielt sie fest. Hand in Hand liefen wir so, als würden wir uns ewig kennen. Doch nie ließ ich mich von ihm bis vor unsere Haustür bringen. Stets verabschiedete ich mich ein Stück davor. Es hätte uns ja jemand sehen können. Sein Lächeln darüber wirkte amüsiert, ja, eine gewisse Überlegenheit lag darin. Mich machte das unsicher und nervös.

      Wie froh aber war ich, dass wir nicht vor unserer Haustür standen, als er mich eines Abends zum Abschied behutsam bei den Schultern ergriff, an sich zog und sanft küsste. Liebevoll umfing er mich für einen Moment. Dann schob er mich von sich. „Tschüß, Katrina!“ Und er ging davon. Ratlos blieb ich zurück. Er drehte sich noch um und lachte sein vertrautes spitzbübisches Lachen. Das also war unser erster Kuss. Was bedeutete das? Liebt er mich? Warum sagte er es mir dann nicht?

      Als ich an diesem Abend nach Hause kam und Mama mich ansah, wurde ich rot. Ich bemerkte wohl, wie sie mich daraufhin erstaunt musterte- Doch sie sagte nichts und ich auch nicht.

      2. Kapitel

      Wenn ich jetzt morgens erwachte, galt mein erster Gedanke Konrad. Verträumt stand ich auf und stellte mich erst gedankenverloren an das Fenster meines Zimmers. Ich sah Menschen die Straße entlangeilen und sah sie doch nicht. Ich bemerkte auch nicht das aufbrechende Grün der Straßenbäume oder hörte das Lärmen der Spatzen. Nicht einmal das mächtige Dröhnen der Flugzeugmotoren vom nahe gelegenen Flugplatz Tempelhof konnte mich aus meinen Träumen reißen.

      Meinem Bruder Bruno allerdings gelang es oft genug, mich früher aus dem Schlaf zu holen als nötig. Er verstand es, nebenan im Badezimmer wahre Arien zu gurgeln. Dazu überflutete er noch plätschernd den Boden und wenn das nicht reichte, klopfte er an die Wand. Er konnte es sich nicht versagen, mich morgens um sechs Uhr zu wecken, obgleich er wusste, ich brauchte erst eine Stunde später aufzustehen. Damit es ihm auch wirklich gelang, rief er noch durch die beiden Risse in der Wand zu meinem Zimmer, die bei einem Luftangriff auf die Stadt im Krieg entstanden waren: „Katrinchen, aufstehen!“

      Wütend warf ich dann meine Pantoffeln gegen die Wand. Ich konnte es nicht ausstehen, Katrinchen gerufen zu werden. Er wusste es genau. Ich fand den Namen bäuerisch und völlig unpassend für mich. Ich war zierlich und nicht rund, hatte keinen Zopf oder Dutt, sondern schönes gewelltes blondes Haar.

      Auch am Morgen jenes Tages, der entscheidend für mein ganzes Leben werden sollte, weckte mich Bruno auf seine Art. Polternd - wie üblich - verließ er das Bad. Er konnte es sich nicht versagen, noch vom Flur aus an meine Tür zu klopfen. Doch da stand Mama gleich in der Küchentür.

      „Psst! Mach nicht solchen Lärm, Junge! Du weckst mir Traudel auf“, ermahnte sie ihn mit verhaltener Stimme.

      Bruno brummte unwillig und schlurfte in die Küche. Ganz schön neidisch war er auf Traudel, unsere jüngere Schwester, die länger schlafen konnte.

      Doch Traudel, das Küken, zwölf Jahre alt mit Stupsnase und roten dicken Zöpfen, konnte so leicht nichts wecken. Da hatte er bei mir mehr Erfolg. Das machte mich manchmal wütend. Doch konnte man diesem Schlaks von siebzehn Jahren mit dem dunkelblonden Wuschelkopf überhaupt böse sein?

      Ich hörte Bruno in der Küche noch sagen: „So gut wie Traudel möchte ich es auch haben. Wie gut, wenn man zur Schule geht.“

      Auch Bruno könnte noch zur Schule gehen. Papa hätte es gern gesehen, wenn er sein Abitur gemacht und dann studiert hätte. Er war doch der Sohn der Familie - und ein Sohn musste wenigstens einen gleichwertigen Beruf wie der Vater haben. Bei den Mädchen war das nicht so wichtig. „Die heiraten sowieso“, meinten Papa und Mama. Beide waren eben noch aus den alten Generationen.

      Bruno jedoch dachte anders. „Nun gut, Papa, du hast studiert und bist Ingenieur“, lehnte er sich auf. „Muss ich deshalb mindestens ein Doktor werden? Ich sehe das nicht ein. Ich habe die Schule satt. Meinem Freund und mir bietet sich jetzt die Gelegenheit, eine Lehre zum Elektromonteur anzufangen. Da kann ich bereits Geld verdienen, wenn es auch wenig ist. Bald geht der Wiederaufbau der Stadt los. Dann ist dieser Beruf bestimmt gefragt.“

      „Junge, überlege dir das gut! Was du jetzt versäumst, kannst du in deinem ganzen Leben nicht mehr nachholen.“ Eindringlich redete Papa auf ihn ein.

      Bruno aber war nicht mehr umzustimmen. Bestärkt von seinem Freund, erzwang er sich das Einverständnis von Papa. Der bemühte sich danach, nicht zu zeigen, wie traurig er darüber war.

      Doch Bruno strahlte vor Freude. „Schau, Papa, ist es nicht ein Glück, dass ich diese Lehrstelle bekommen habe, bei der Arbeitslosigkeit zu dieser Zeit?“, versuchte er ihn nachträglich zu überzeugen. „Wer weiß, wie das in ein paar Jahren aussieht. Mir kann das dann egal sein. Ich habe dann meinen Beruf.“

      So war der Tag gekommen, an dem Bruno mit einem lauten „Hurra!“ seine Schultasche in die Ecke warf. Mama hatte besorgt zu Papa gesehen. Auch ihr wäre es lieber gewesen, wenn Bruno sein Abitur gemacht hätte.

      Wie jeden Morgen ließ er auch heute die Tür hinter sich geräuschvoll ins Schloss fallen, als er ging. Mama seufzte, dass sich der Junge wieder nicht hingesetzt und gefrühstückt hatte. Mit einer Scheibe Brot in der Hand war er eilig die Treppe hinuntergestürmt.

      Anders dagegen war es bei Papa. Während Mama in der Küche am Tisch weiter das Frühstück für Traudel und mich zurechtmachte, saß er gemütlich daneben. Auf dem großen Kachelherd in der Ecke der Küche hatte Mama immer eine große tönerne Kanne Malzkaffee warm gestellt. Zum Frühstück gehörten für Papa eine Tasse davon, frisch gebrüht, und die Neuigkeit der Zeitung. Da sprach Mama ihn auch nicht an. Manchmal machte er sich empört Luft über das, was er las. Dann tat Mama erstaunt oder nickte verständnisvoll. Hatte er schließlich die Zeitung zusammengefaltet, so schlurfte er leise mit seinen Filzpantoffeln in den Flur, zog sich die Straßenschuhe an, gab Mama, die wartend an der Wohnungstür stand, einen liebevollen Kuss und ging pünktlich zehn Minuten vor sieben Uhr zur Arbeit.

      Dann wurde es Zeit für mich. Als ich an diesem Morgen in die Küche kam, sah ich erfreut, Mama legte mir eine hauchdünne Scheibe Schinken auf mein Frühstücksbrot. Der Schinken war noch von meiner Hamsterfahrt zu Tante Luise her. Ich dachte daran, dass sie noch