Gloria Fröhlich

Kuckucksspucke


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um nicht als Spielverderberin zu gelten, tat sie, was er wollte und setzte sich umständlich zwischen die dicken, eckigen Tischbeine.

      Er kroch ihr hinterher, hatte aber Probleme, unter dem Tisch genug Platz zu finden und stieß mit dem Kopf oben an. Mit angezogenen Knien und eingezogenem Kopf kauerte er sich neben Line und lachte schief.

      Er roch merkwürdig.

      Ein bisschen nach Schmutz und Öl und etwas bitter.

      Line war sich jetzt überhaupt nicht mehr sicher, ob sie noch mit ihm spielen wollte, denn sein ganzer Körper, die Arme und die langen Beine unter dem Tisch so dicht neben ihr, waren ihr ziemlich unangenehm.

      Am liebsten hätte sie diesen Platz verlassen und wäre weggelaufen.

      „Jetzt musst du dich hinlegen“, sagte er und wiederholte es noch einmal, weil Line keine Anstalten machte, sich in der Enge auf dem Fußboden der Länge nach auszustrecken.

      Er rückte umständlich etwas zur Seite.

      Und dann drückte er ihren Oberkörper mit seiner flachen Hand und ein wenig Gewalt nach hinten, immer mehr und mehr, bis sie sich nicht mehr mit den Ellenbogen abstützen konnte und auf dem Rücken lag. Der Fußboden war eiskalt, aber Line blieb liegen und sah ihm, ohne eine Regung zu zeigen, ins Gesicht.

      „Jetzt musst du deine Hose ausziehen, sonst können wir das Spiel nicht spielen“, sagte er, und das in einem Ton, als würde er es sehr bedauern, wenn sie es nicht täte.

      Line war in einer „Situation“, in einer sehr unangenehmen Situation und verfiel in eine Art Starre. Warum wollte er, dass sie ihre Unterhose auszog, weswegen, das würde sie niemals tun, nein niemals! Sie begann, sich zu fürchten und sah jetzt an ihm vorbei, als würde sie darin eine Möglichkeit sehen, ihm zu entfliehen und fixierte mit den Augen den Küchentisch von unten, sah den breiten Kasten der Schublade im Dämmerlicht und die breiten Zwischenräume daneben, presste ihre Beine fest zusammen und rührte sich nicht.

      „Soll ich dir helfen?“

      Line schüttelte energisch den Kopf und starrte auch dabei noch unablässig auf das dunkle, raue Holz der Tischunterseite. Weil er versuchte, seine Sitzposition zu verändern, schaute sie nun aus den Augenwinkeln zu ihm und sah, dass er einen Stock in der Hand hatte und stellte fest, dass er ihr mit seinem Gesicht und dem Oberkörper noch näher kommen wollte, als plötzlich jemand laut kreischte.

      Fräulein Feurig stand wie aus der Erde gestampft in der Tür.

      „Was machst du Bengel denn da?“ Schrie sie.

      Blitzschnell hielt Fritz den Stock hinter seinem Rücken versteckt und stotterte:

      „Nichts, nichts, wir spielen nur.“

      Fräulein Feurig war erstaunlich schnell und mit wenigen Schritten in der Küche, bückte sich, griff nach Line und zog sie mit Gewalt unter dem Tisch hervor.

      Dann hielt sie sie mit beiden Armen fest umschlungen und starrte ihn fassungslos an.

      „Spielen nennst du das?“

      Line begriff nicht, warum sie nur böse auf ihn und nicht auch auf sie war, denn sie hatte doch mitgespielt, obwohl sie es dann aber überhaupt nicht mehr wollte.

      Fräulein Feurig holte tief Luft und ihr Kinn bebte, als sie drohend zischte:

      „Was hast du mit ihr gemacht?“

      Und ohne seine Antwort abzuwarten, haspelte sie in Lines Ohr:

      „Hat er dich angefasst, hat er dir wehgetan?“

      „Er wollte mir ein neues Spiel zeigen, aber ich wollte meine Unterhose nicht ausziehen“, sagte Line ernst und erleichtert.

      Blankes Entsetzen straffte Fräulein Feurigs Körper und ihr Gesicht wurde puterrot.

      Sie baute sich vor Fritz auf und rief mit kreischender Stimme:

      „Hab ich es mir doch gedacht, du Unhold, schämst du dich nicht, dich an kleine Mädchen heranzumachen, wage es nicht noch einmal, dann Gnade dir Gott, ich werde nachher mit deinen Eltern sprechen.“

      Fritz stand mit hochroten Ohren da, schaute auf seine Füße und sagte kein Wort.

      Und Line dachte, er soll sich schämen und ist ein Unhold, und ein Unhold ist doch etwas Schlechtes. Dann wollte er mit ihr kein schönes Spiel spielen, denn warum sonst wäre Fräulein Feurig so ärgerlich geworden, würde mit seinen Eltern sprechen wollen und hatte ihm dann auch noch mit dem lieben Gott gedroht. Jetzt bekam Line zwar ein mulmiges Gefühl, das aber nicht so schlimm war, wie das unter dem Küchentisch.

      Und schon zerrte Fräulein Feurig Line hinter sich her, durch den Hof, zur Haustür hinein und stolperte mit ihr die Treppe nach oben.

      Noch immer erregt, lieferte sie Line bei ihrer Mutter ab, die entsetzt die Augen aufriss, als Fräulein Feurig ihr so leise etwas ins Ohr flüsterte, dass Line es nicht verstehen konnte.

      Auch die Großmutter erfuhr von dem Unhold, und im ganzen Dorf gab es entsetztes Getuschel über Lines grauenhafte „Situation“ unter dem Küchentisch, und die Gewissheit, wie so etwas Schreckliches „mitten unter uns“ geschehen konnte.

      „Sie lag schon auf dem Fußboden, und mit einem Stock wollte er…, ein Segen, dass Fräulein Feurig rechtzeitig zur Stelle war und sie vor dem Schlimmsten bewahrt hatte“.

      „Wehret den Anfängen“ mahnte die Großmutter und dass man „so etwas“ im Keim ersticken musste, rief der Pastor am Sonntag mahnend von der Kanzel.

      Und Lines Mutter sagte: „Geh’ ihm aus dem Weg, er hat nichts Gutes im Sinn.“

      Und Line wusste, dass nichts Gutes im Sinn etwas Böses im Sinn war, und wurde ängstlich. Trotzdem blieb sie neugierig wegen des Unterhosenspiels, dass sie nicht zu Ende gespielt hatten. Line wollte um ihn einen großen Bogen machen, aber dazu kam es nicht, denn der Unhold war wie vom Erdboden verschluckt. Er traute sich kaum noch aus dem Haus.

      „Gottes Mühlen mahlen langsam, aber gerecht“, sagte drei Wochen später die Großmutter mit einer Genugtuung in der Stimme, die Line bei ihr so noch nicht gehört hatte.

      Der geächtete Unhold war tot!

      Er war nach einem Unfall mit seinem Fahrrad an der schweren Verletzung seiner Halsschlagader verblutet. Seine Helfer hatten ihm aus Verzweiflung noch eine Handvoll Heu auf die sprudelnde Wunde gepresst, weil nichts anderes da war. Aber das Blut hatte die Weide unter ihm unaufhaltsam, dunkelrot getränkt und ihn leblos und weiß wie ein Bettlaken zurückgelassen.

      Line war von seinem Ableben wenig beeindruckt, insgeheim aber freudig erregt, weil sie wieder mit einem Begräbnis rechnen konnte. Doch Fritz wurde an einem Vormittag beerdigt, während Line in der Schule saß. Lüder fehlte an diesem Tag, und Line wusste, wo er sich aufhielt, war ein wenig neidisch und vermisste ihn.

      Sie ging gern in die mit Kindern prallgefüllte Dorfschule, die auf einem großen, sandigen Schulhof stand. Und Line musste weit laufen, um zu dem riesigen, schwarzen Bretterverschlag zu gelangen, hinter dem sich die Plumpsklos, getrennt für Jungen und Mädchen, befanden, die schon von weitem fürchterlich stanken. In der Schule gab es vier große, helle Klassenzimmer. Von einem ging es durch eine breite, hohe Doppelglastür in den Lehrmittelraum, der stets abgeschlossenen war. Dort befanden sich einige verschieden große Gläser, in denen Gruseleien zur Ansicht in Spiritus schwammen. Eine verstorbene, giftige Kreuzotter und zum Vergleich eine harmlose Blindschleiche. Und ein nacktes Mausebaby, erschütterte immer wieder die Mädchenseelen.

      Unter anderem schockten auch das menschliche Skelett, das in der Ecke stand und die unterschiedlichen Greifvögel, ein Eichelhäher, eine Eule und eine Menge kleiner Nager, die ausgestopft und aus blanken Glasaugen starrend, auf dicken Zweigen und lackierten Holzbrettchen saßen.

      Die Landstraße hieß für Line nun schon lange auch „mein Schulweg.“

      Was Line in der Schule nicht gefiel, dass war das wüste Gerangel und das Schubsen der Kinder auf dem Schulhof in den Pausen.

      Ein