Gloria Fröhlich

Kuckucksspucke


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sagte er gedehnt und mit Ehrfurcht in der Stimme.

      Line kam nicht umhin, zuzulassen, dass dieser unkenntliche Matschklumpen von seiner in ihre Hand geschmiert wurde.

      „Ich muss wieder zur Hochzeit“, sagte Lüder ein wenig gehetzt, während er sich die Hand ableckte.

      „Aber die haben sich überhaupt nicht geküsst, du hast doch gesagt, dass man sich küssen muss“, beschwor ihn Line.

      „Küssen ist eine große Heimlichkeit im Dunkeln“, sagte Lüder ernst, nickte mit dem Kopf, drehte sich um und verschwand.

      Line sah ihm gedankenverloren nach, und dann näherte sich ihr Mund dem Matsch in ihrer Hand. Und erst noch skeptisch, doch dann angenehm überrascht, gab sie sich schließlich genussvoll dem demolierten, aber zuckersüßen Liebesknochen hin.

      Und natürlich wurde beim Abendbrot über die Hochzeit gesprochen.

      Und nun hatte auch Line etwas dazu zu sagen.

      Und so klang ihre Stimme sehr, sehr überzeugend, dass der Liebesknochen aus der Hose vom Taugenichts das Schönste bei der Hochzeit gewesen war, und das sie von Lüder von der großen Heimlichkeit im Dunkeln wusste, die die Verliebten noch machen würden.

      Für Lines Mutter aus triftigem Grund ein Alarmzeichen, um sie einfühlsam in ein Gespräch zu verwickeln, damit sie Klarheit bekäme, mehr, als beim letzten Mal. Doch bevor das geschah, sagte Line: „Und das Weiße, das war Schlagsahne, die schmeckt so gut, nett von Lüder, dass er mir den Liebesknochen gebracht hat“.

      Lines Mutter war erleichtert. Sie tat gleichgültig, als sie fragte, was es denn mit der Heimlichkeit im Dunkeln auf sich hätte.

      Line sah auf ihr Margarinebrot, das mit dem harten, hellgrünen Kräuterkäsekegel auf einer Reibe wie mit einer dünnen Schneeschicht bestreut war und sagte gelangweilt: „Küssen, sie küssen sich heimlich im Dunkeln“.

      Als die Großmutter am nächsten Tag mit schweren Taschen zu Besuch kam, sagte sie zu Lines Mutter, die in der Küche einer Menge gekochter Kartoffeln die hauchdünne Pelle abzog, dass das Fliegenbein durch die Heirat, ja nun wirklich vom Regen in die Traufe gekommen wäre. Und dann sagte sie gedehnt „P u r z f e l l“, damit muss das arme Ding nun sein Leben lang herumlaufen.

      Und Line dachte, heiraten war vielleicht gar kein Glück. Und vom Regen in die Traufe bedeutete dann ja auf jeden Fall „wieder nass“ für das Fliegenbein, so war es eben!

      In den großen, quadratischen Flur in dem Haus von Frau Mu, kam reichlich Helligkeit durch die schmalen Fenster neben der breiten, hohen Haustür und ergoss sich auf den ausdrucksvollen, schwarzweißen Fliesenfußboden, zeigte gut sichtbar auf die breite Holztreppe, auf das dunkel lackierte Sprossengeländer und setzte ein sattes Glanzlicht auf die Kinderkopf große, blanke Kugel auf dem stabilen Pfosten am Ende der Treppe.

      Auf der rechten Seite neben Frau Mu wohnte Imke, ein mageres Mädchen, bei dem sich Line häufig sehr in Geduld übte, wenn sie sich unterhielten und es heftig stotterte.

      Hinter Imkes Tür wimmerte es häufig leise und kläglich.

      Das entstammte dem ständigen Unbehagen des Babys, das erst vor kurzem vom Klapperstorch, wie alle wussten, gebracht worden war.

      Aus der Tür drang jedes Mal feuchtwarme Luft in den Flur, wenn die Tür geöffnet wurde und jemand raus oder rein huschte. Mal mit einem Eimer heißen Wassers, direkt aus der Küche von Frau Mu, mal mit ein paar Wäschestücken, die entweder gewaschen werden mussten oder gerade von der Leine genommen worden waren. Das alles geschah mehr oder weniger lautlos und immer ein bisschen geheimnisvoll und vor neugierigen Blicken geschützt.

      Und Line war außerordentlich neugierig, versuchte immer, wenn sie sich im Flur aufhielt und jemand aus der Tür kam oder hineinging, einen Blick ins Innere der Wohnung und auf das Baby zu erhaschen, was ihr nie gelang, weil das eine dunkle Wolldecke verhinderte, die vor der Tür gegen Zugluft hing.

      Und so lungerte Line beharrlich vor der Tür herum, um das Baby nicht nur zu hören, sondern auch mal zu sehen. Line war so aufdringlich neugierig, dass Imkes Mutter nicht umhin kam, sie das Baby doch einmal ansehen zu lassen und hielt die Badeprozedur, die sie dem Baby hin und wieder angedeihen ließ, für geeignet, Lines Neugier zu stillen.

      Lines Nase war dabei auf der Höhe der Tischplatte, auf dem das kleine, hutzelige und krähende Bündelchen aus seiner nassen Windel geschält wurde. Die rotblaue Hautfarbe und das unkontrollierte Zittern der mageren Ärmchen und Beinchen, versetzten Line zusammen mit dem Pipigeruch in einen Zustand von Mitleid und Abscheu.

      Anstandshalber zeigte sie noch Interesse an der Reinigungsprozedur in einer Waschschüssel mit warmem Wasser und einem Spritzer Speiseöl, bevor sie sich umdrehte und ging.

      Sie hatte genug gesehen.

      10. Kapitel

      Imkes große Schwester hieß Frauke.

      Sie trug noch Zöpfe, hatte aber schon ziemlich spitze Brüste.

      Eines Tages gellten Schreie durch den Garten und schreckten die Bewohner in dem Haus von Frau Mu auf, so dass sie ihre Tätigkeiten unterbrachen und sich davon überzeugten, dass kein Mord geschehen war. Auch Line lief die Treppe nach unten und sah, dass Imkes Vater Frauke auf seinen Armen durch die geöffnete Tür und mit dem Kopf voran durch die Wolldecke schob und in die Wohnung trug und mit seinem Fuß die Tür zuschmiss, dass es laut krachte.

      Frauke war kreidebleich gewesen, hatte abwechselnd mit schmerzverzerrtem Gesicht geschrieen und gestöhnt, wobei sie beide Hände auf den Bauch gedrückt hielt.

      Verstört ging Line die Treppe nach oben und in die Küche zu ihrer Mutter und hörte gerade noch, wie die Großmutter mit einem Achselzucken feststellte, dass es bei dem Mädchen nun auch schon „soweit“ sei. Und Lines Mutter sagte:

      „Das Alter hat sie, und dafür ist sie auch schon ganz erstaunlich entwickelt“.

      Als sie Line bemerkten, beeilte sich die Großmutter über die Schulter hinweg, zu erklären: „Frauke hat schreckliche Kopfschmerzen, das geht nach ein paar Tagen vorbei“.

      Line schrieb sich hinter die Ohren, dass man erst spitze Brüste bekommt, dann Kopfschmerzen, sich aber nicht den Kopf, sondern den Bauch hält und wie am Spieß erst brüllt und dann stöhnt, wenn man das Alter dafür hat und schon erstaunlich entwickelt ist.

      Und davor hatte sie jetzt ziemliche Angst.

      Es beruhigte sie aber, als Frauke am nächsten Tag nicht mehr schrie, zwar noch etwas blass, aber sonst unversehrt war und zwei ausgeleierte Schlüpfer mit eigensinniger Zwickelfarbe an der Wäscheleine befestigte, wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellen und sich dann trotzdem noch unsagbar recken musste.

      Line ging ein wenig später mit ihrer Mutter und Großmutter an der Wäscheleine vorbei, und die Großmutter empörte sich kopfschüttelnd mit Blick auf die Schlüpfer von Imkes Schwester:

      „Nun sieh doch, wie kann man nur“.

      Und Line wusste nicht, was sie meinte mit „wie kann man nur“ und wurde nun erst recht neugierig, weil die Großmutter nun alles darauf anlegte, Line den Anblick auf die Schlüpfer zu ersparen und ihr den Kopf nach vorn drehte und sich damit beeilte, sie so schnell es ging, mit ins Haus zu nehmen.

      Es gab Kartoffelsuppe und Blutwurst, die in einer schwarzen Bratpfanne auf dem Bollerofen, dessen Ofenrohr durch die untere Scheibe des Fensters nach draußen ging, gebraten wurde, und der durch die Hitze die schon krosse Haut ein ganzes Stück weit aufplatzte.

      Seitdem Lüder und Line Verliebte waren, ließ Lüder Line nicht mehr aus den Augen und hatte dann auch das normale Imponiergehabe, das Line allgemein von Jungen kannte. Die taten sich immer wichtig und machten komische Sachen, damit Line und die anderen Mädchen hinsahen. Und wenn sie hinsahen, dann machten sie nur noch schlimmere und manchmal sogar richtig gefährliche Sachen.

      Wenn Line das einzige Mädchen in der Nähe der