Gloria Fröhlich

Kuckucksspucke


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aus der Kirche gekommen war. Und Line dachte an das Lied, das ihr die Großmutter mit glockenheller Stimme so gern vorsang, in dem die schöne, junge Lilofee aus der Kirche kam und sich Laub und grünes Gras sich neigten, bevor sie mit dem wilden Wassermann im tiefen, tiefen See verschwand.

      Damals war der Großvater noch jung und kräftig, klang es aus dem Mund der Großmutter etwas bedauernd, wohl, weil es jetzt nicht mehr so war.

      „Er konnte aus dem Stand heraus über den Gartenzaun springen“, jubilierte sie und zeigte dabei, wie hoch der Zaun war.

      Ganz schön hoch, dachte Line.

      Dann redeten sie von den Flitterwochen.

      Sagten aber zu Lines Verwunderung aber immer noch nichts vom Küssen.

      Als Line wissen wollte, was Flitterwochen sind, zwitscherte die Großmutter: „Dann genießen sie die Ehe und schwelgen im Glück“.

      Und Line fragte: „Lachen die dann immer?“

      „Sicher lachen sie auch, aber in erster Linie genießen sie es, dass sie verheiratet und endlich allein sein können“, flötete die Großmutter und Line sagte: „Und warum heißt das dann Flitter- und nicht Genusswochen?“

      Die Großmutter lächelte und sagte: „Ja, so könnte man es auch nennen“.

      Line fand das alles sehr aufregend und wollte so gern noch über das Heiraten nachdenken, wusste aber nicht, was sie darüber nachdenken sollte und war dann nur einfach neugierig auf die Hochzeit, auf das Kleid und den Schleier, und wie das Strahlen von innen beim Fliegenbein vielleicht aus dem Mund, den Ohren und Nasenlöchern kriechen und sich über ihren Kopf wie der helle Strahlenkranz bei den beiden Engeln hoch über dem Altar in der Kirche, verteilen würde.

      Line beobachtete während der nächsten Zeit keine Auffälligkeiten, die auf etwaige Hochzeitsvorbereitungen hätten hinweisen können, bis dann eines Tages die Tür zu Lüders Wohnung sperrangelweit offen stand. Line saß rein zufällig auf der obersten Stufe der breiten Holztreppe und sah durch die Streben des gedrechselten Geländers auf die Menschen unter sich und wie sie sich zwischen Lüders Wohnung und dem Flur vor Frau Mus Wohnung hektisch hin- und herbewegten. Das konnte nur die Hochzeit sein, dachte Line und suchte mit neugierigem Blick nach dem Fliegenbein.

      Sie sah Lüders Eltern, Frau Mu und die anderen Hausbewohner, sowie einige fremde Leute.

      Und dann entdeckte sie endlich Lüders Schwester, das Fliegenbein!

      Aber ganz und gar nicht als Braut!

      Sie trug ein einfaches, geblümtes Sommerkleid, als wollte sie zum Einkaufen gehen und nicht heiraten. Das Einzige, das an ihr anders war, als sonst, war der angemalte, knallrote Mund.

      Er war so knallrot wie die Blüten der Geranien auf Frau Mus Fensterbank.

      In der Hand hielt sie einen kleinen, bunten Blumenstrauß, den sie kurz an die Nase hielt und dann auf einen Stuhl legte, als brauchte sie ihn nicht mehr.

      Und das Fliegenbein strahlte überhaupt nicht an ihrem schönsten Tag.

      Weder von außen noch von innen.

      Sie sah aus, wie immer.

      Jeder der Anwesenden schüttelte ihr die Hand, streichelte ihr dabei den nackten Oberarm und redete ununterbrochen auf sie ein.

      Und Line hörte, dass das Fliegenbein nicht mehr Fräulein Feucht, sondern jetzt Frau Purzfell hieß, nachdem sie auf dem Standesamt gewesen war.

      Und wo war der, der Taugenichts hieß und den sie geheiratet hatte?

      Und wieso hieß sie jetzt nicht Frau Taugenichts?

      Komisch, dachte Line.

      Das war keine Hochzeit, das war ja wie Alltag.

      Und so war die erste Hochzeit und die erste Braut, die Line in ihrem Leben zu sehen bekam, eine große Enttäuschung.

      Und so etwas Langweiliges wollte Lüder mit ihr machen?

      Line war froh, dass sie „vielleicht“ und nicht gleich „ja“ gesagt hatte.

      Den fremden Mann, an dessen Arm sich das Fliegenbein nun klammerte, als könnte sie nicht alleine stehen, kannte Line nicht und vermutete, dass das wohl der Taugenichts war, denn das Fliegenbein lächelte süß und hatte dabei Samtaugen.

      Der Mann war geringfügig größer als das Fliegenbein und hatte scheckig rote Backen bis in den blütenweißen Hemdkragen hinein. Vielleicht würden sie sich gleich küssen, dachte Line, die das gern einmal gesehen hätte.

      Aber sie taten es nicht.

      Stattdessen griffen sie nach den gefüllten Gläsern und den Kuchenstücken, die auf einem Tablett herumgereicht wurden. Das war bestimmt der Hochzeitskuchen, von dem Lüder versprochen hatte, ihr ein Stück aufzubewahren.

      Und dann lief der Taugenichts zur Haustür, an der es heftig pochte und öffnete sie.

      Ein milchiger Lichtstrahl fiel auf den Fußboden.

      Für kurze Zeit wurden die weißen Fließen auf dem Fußboden noch weißer, und die schwarzen waren nicht mehr ganz so schwarz wie eben noch. In der Türfüllung erschien ein beleibter Mann mit Halbglatze, der einen schweren, schwarzen Koffer schleppte und mit viel Palaver sofort einen Stuhl bekam, auf den er sich erschöpft fallen ließ. Er fischte aus seiner Hosentasche ein zerknittertes, kariertes Taschentuch und wischte sich die Schweißperlen aus dem Gesicht. Das Fliegenbein brachte ihm aufgeregt ein bis zum Rand gefülltes Glas, in dem sie mit einem Löffel rührte, bevor sie es ihm gab und das er in einem Zug leerte. Mit hochrotem Kopf bückte er sich im Sitzen zu dem Koffer, wobei seine Ärmel bis über die Handgelenke nach oben rutschten, öffnete ihn mit zweimal „schnapp“ und hob sich etwas Schweres auf seine gespreizten Oberschenkel.

      Die“ Quetschkommode“, Line wusste, dass das Instrument so hieß, weil man es beim Spielen immer zusammenquetscht, sorgte umgehend für gute Laune und Kribbeln in den Tanzbeinen aller Hochzeitsgäste.

      Das frisch getraute Ehepaar hüpfte lachend in die Mitte des Flures, umklammerte sich mit unzähligen Händen, und jetzt, dachte Line, könnten sie sich doch endlich einmal küssen.

      Als die Musik einsetzte, ließ sich das Fliegenbein von dem Taugenichts so richtig hin und her schwenken. Er hielt sie gepackt und riss ihren Arm in die Höhe, hielt ihn oben, wirbelte sie herum und bog sie dann so weit nach hinten, dass die Haare vom Fliegenbein nicht mehr ihren Nacken bedeckten, sondern wie eine Gardine senkrecht herunterhingen.

      Und dabei lächelte sie den Taugenichts wieder aus Samtaugen an. Er lächelte zurück, und sie streckte ein Bein weit nach vorn. Sie machen Kunststücke beim Tanzen, dachte Line, auch weil geklatscht wurde. Und als sie sich noch immer nicht küssten und die anderen Männer sich Frauen geschnappt hatten und sich mit ihnen auf dem schwarzweißen Fliesenmuster drehten, langweilte sich Line und fing an, den Schorf an ihrem Knie abzupulen, bis es an der hellrosa Haut darunter wehtat. Sie konnte sich ausrechnen, dass die Stelle bis Sonntag nicht heilen würde, wie ihre Mutter es ihr versprochen hatte. Wie würde das zu ihrem Sonntagskleid aussehen!

      Line stand auf und lief die Treppe hinunter, öffnete die Haustür und ging nach draußen in den sonnigen Tag und in der Gewissheit, nichts Aufregendes zu verpassen.

      Die Musik war bis nach draußen zu hören und trug die frohe Stimmung aus dem Flur bis weit nach hinten in Frau Mus großen Garten.

      Line schlenderte an der Lindenlaube vorbei, sie ging bis ans Ende des Gartens unter die alten Obstbäume und lehnte sich an einen Birnbaum, als Lüder auf sie zulief und außer Atem rief:

      „Ich habe dich gesucht, das hier hat mir der von meiner Schwester für dich gegeben!“ Erwartungsvoll sah sie, wie er mit einer Hand und verzerrtem Gesicht in die enge Tasche seiner „Flegelhose“, mit Hosenbeinen bis ans Knie, griff, aus der es sofort dick und weiß an seiner Hand vorbei, heraus quoll.

      Nur langsam gab die Hosentasche seine verschmierte Hand frei, in der sich etwas hellbraunes, locker Gebackenes befand und noch mehr