Gloria Fröhlich

Kuckucksspucke


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dabei aber widerwillig in einen Pulk wild agierender Jungen geraten und bekam einen heftigen Faustschlag in den Magen, dass ihr Hören, Sehen und für entsetzliche Augenblicke das Atmen verging.

      Seitdem stand sie immer etwas abseits, sozusagen in Sicherheit.

      Aber das, wovor Line sich inzwischen zu schützen versuchte, geschah eines Morgens dann doch. Obwohl sich alle Kinder morgens nach Klassen sortiert in ordentlichen Reihen vor der großen Schultür aufstellen mussten und keinen Laut mehr von sich geben durften, bis der Lehrer mit strengem Gesicht und dem Blick auf seine Taschenuhr und dann auf seiner schwarzen Trillerpfeife das Signal gab, in die Klassen zu marschieren, wurde gleich wieder auf dem Flur, außer Sichtweite des Lehrers, gedrängelt und geschubst, und Line konnte nicht verhindern, dass sie zwischen die Großen und ihr kleiner Fuß unter den schweren Lederstiefel eines der rempelnden Jungen geriet.

      Von den nachfolgenden Kindern wurde sie unaufhaltsam vorwärts gedrängt.

      Line biss vor Schmerzen die Zähne zusammen, um nicht laut zu schreien.

      Doch dann schossen ihr die Tränen in die Augen.

      Ihr Fuß war ein einziger, brennender Schmerz!

      Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, aus dem Pulk herauszukommen und erreichte schließlich humpelnd ihren Platz.

      Line weinte lautlos in sich hinein und hinunter zu ihrem Fuß.

      Der Schmerz ließ langsam nach und wurde dann von einer pochenden Wärme durchflutet.

      Aber die Tränen!

      Line weinte und weinte und wurde mehr und mehr von einer grenzenlosen Traurigkeit ergriffen, die nichts mehr mit ihrem Fuß zu tun zu haben schien.

      Ihr Kummer war nicht zu bremsen, und das alles noch völlig unbemerkt von Frau Beutel, der Lehrerin, kein Wunder, bei so vielen Kindern.

      Erst als es Line schüttelte, als sie gequält schluchzte und Hanna gerufen hatte: „Line weint“, wurde Frau Beutel auf sie aufmerksam.

      Schnell stand sie neben ihr.

      Frau Beutels mitfühlende Frage brachte Line nun noch mehr aus dem Gleichgewicht und verschlimmerte ihren Zustand sogar noch.

      Die große Sorge der Lehrerin war nicht zu überhören.

      „Warum weinst du, was ist los, tut dir etwas weh?“

      Dabei strich sie Line beruhigend über den Kopf, nahm sie an die Hand und mit sich nach vorn zu ihrem Stuhl neben dem Pult.

      Sie setzte sich und zog Line auf ihren Schoß.

      Alle Blicke waren nun auf sie und Frau Beutel gerichtet.

      Und Line befand sich jetzt wieder mal in einer „Situation.“

      Frau Beutel wiederholte ihre Frage noch einmal betont leise und ziemlich nah an Lines Ohr.

      Der Tritt auf ihren Fuß war nun schon eine ganze Weile her.

      Sie spürte nur noch die anhaltende Wärme und konnte doch jetzt unmöglich sagen, dass ihr ein großer Junge vor einer Ewigkeit mit seinem schweren Stiefel auf den Fuß getreten hatte.

      Kein Mensch würde deswegen jetzt noch heulen.

      Wie stünde sie denn da?

      Jetzt ging es einzig und allein darum, das Gesicht zu wahren und nicht als wehleidige Heulsuse ausgelacht zu werden.

      Und deshalb musste ihr jetzt rasch etwas einfallen.

      Etwas, das schockte und so richtig schlimm war und Grund genug für viel Mitleid, um ihre Heulerei zu rechtfertigen.

      Am besten eine richtige Krankheit, dachte Line.

      Und ihr fiel etwas ein.

      Dazu holte sie ganz tief Luft, hielt den Atem an, legte den Kopf mit schmerzverzerrtem Gesicht ein wenig auf die Seite und hob die Hand an die Stirn, um zu demonstrieren, wie katastrophal ihr gesundheitlicher Zustand war.

      Die andere Hand sackte kraftlos auf die Brust.

      Und nun klagte Line mit nur noch einem Hauch von einer Stimme über „starke Herzschmerzen.“

      Frau Beutel riss die Augen auf.

      „Herzschmerzen, du hast Herzschmerzen?“

      Sie stellte Line neben sich, ohne sie loszulassen und wurde hektisch, als galt es, bloß keine Zeit zu verlieren. Frau Beutel hatte ein besorgniserregendes Gesicht, und in der nächsten Sekunde schien sie sich an die „Erste Hilfe für ganz schwere Fälle“ zu erinnern.

      Line begriff nicht so schnell, wie ernsthaft krank sie in Frau Beutels Augen war, als sie auch schon in deren dunkelgrünen Mantel gehüllt, lang ausgestreckt, auf dem Fußboden lag und unter ihre Beine einige Schulbücher geschoben wurden, damit sie höher lagen, als ihr Kopf.

      Sie flüsterte dicht an Lines Ohr noch, bleibe bitte so liegen, bevor sie ihr schmales Handgelenk zwischen ihren Fingern hielt. Mit leerem Blick sah sie durch die Fensterfront auf das hellrote Ziegeldach vom Haus des Schusters und bewegte leicht die Lippen. Nach kurzer Zeit schien sie schon etwas beruhigter zu sein.

      Von einem der Kinder ließ sie nach einem Lehrer schicken, um ihre Klasse nicht unbeaufsichtigt zu lassen, während sie sich um Line bemühte und sie dann samt Mantel waagerecht auf ihre Arme nahm.

      Und sehr, sehr leidend, ließ Line sich nun völlig gehen.

      Als wäre sie aus Gummi, so ließ sie sich von Frau Beutel den nicht kurzen Weg in die Wohnung der Großeltern schleppen.

      Frau Beutel atmete inzwischen schwer, als sie Line auf dem sandfarbenen Plüschsofa der Großmutter ablegte. Die Sorge um Line kroch die Wände hoch, nachdem Frau Beutel Nase an Nase mit Lines Großmutter geflüstert hatte.

      Um als leibliche Verwandte nicht tatenlos herumzustehen, lagerte die Großmutter Line auf ihrem besten Samtkissen noch weicher.

      Inzwischen war auch die Hausbesitzerin, Frau Klemm, zur Stelle.

      Aufgescheucht von dem ungewohnten Trubel in ihrem sonst eher ruhigen Haus, drängte sie sich neugierig an Lines Lager und sah sie dann doch sehr besorgt an.

      „Sie klagt über Herzschmerzen“, hauchte die Großmutter bestürzt.

      Frau Klemms Gesicht bestätigte, dass es hier eine Krise gab, die sie erfahrungsgemäß schnell in den Griff bekommen würde.

      Sie machte auf dem Absatz kehrt und wisperte:

      „Ich bin gleich wieder da.“

      Lines Hand lag indessen noch immer wie festgewachsen auf ihrer Brust.

      Wo ihr Herz hinter den Knochen schlug, wusste sie nicht so genau, aber die Richtung schien zu stimmen. Sie hielt die Augen nicht ganz geschlossen und schaute durch den winzigen Spalt in das Gesicht ihrer Großmutter.

      Und nun, nun machte sich Line Sorgen um sie.

      Wie ernst und kummervoll die braunen Augen der Großmutter auf ihr ruhten.

      Es schien sogar, als würden sie in Tränen schwimmen.

      Doch Line genoss die Wichtigkeit um ihre Person sehr, wenn auch schon mit einem Anflug von Schuldgefühlen des jetzt unnötigen Gehabes wegen der Sache, von der nur sie wusste, dass sie nicht so war, wie sie schien.

      Line signalisierte ihrer Großmutter jetzt mit einem leisen Stöhnen, dass dieser „Herzanfall“ der sie völlig unerwartet aus der Schulstunde gerissen hatte und sie nun geschwächt auf das Plüschsofa drückte, etwas ganz anderes war, als ihre sonstigen Ohnmachtsanfälle in ausweglosen „Situationen“, an die die Großmutter sich längst gewöhnt und aufgrund medizinischer Aufklärung, dass sie harmlos waren und sich mit der Zeit verwachsen würden, nicht mehr beachtet hatte.

      Und da es für Line jetzt sowieso kein Zurück mehr gab, spielte sie ihre Rolle glaubwürdig weiter. Mit nun fest geschlossenen Augen „ruhte“ sie.

      Frau Klemm kam zurück