Gloria Fröhlich

Kuckucksspucke


Скачать книгу

Trauernden für Gottes Willen sorgte. Sie hörte, dass der Pastor dem Herrgott das uneingeschränkte Recht einräumte, unter den Menschen Leid und Trauer als Prüfung verbreiten zu dürfen, damit sie seine unerschöpfliche, göttliche Liebe erfahren konnten.

      Wie komisch, dachte Line jedes Mal.

      Die Predigt, die von der letzten und vorletzten und der davor und all den anderen kaum zu unterscheiden war, ging bei Line in ein Ohr hinein und aus dem anderen hinaus. Es war immer das gleiche, der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, Asche zu Asche und Staub zu Staub. Dann hatte Line für kurze Zeit das Gefühl, dass es eine dunkle Stelle im Himmel gab.

      Und während sie unablässig und ohne Rührung in die verbitterten, tränennassen Gesichter schaute, studierte sie die Steigerung der Zusammenbrüche der ganz nahen Angehörigen, die sich durch schwanken auf wackligen Beinen, schluchzen mit bebenden Schultern oder ins Grab stürzen wollen, äußerten.

      So war der Friedhof für Line auch ein Freilichttheater, in dem hin und wieder Dramen aufgeführt wurden, die ohne Beifall endeten.

      Beinahe täglich inspizierte sie den Gottesacker.

      Und wenn dann wieder und wieder der kahle Kopf des Totengräbers zwischen den Gräbern auftauchte und viel schwarze Erde auf den kleinen Hügel daneben flog, freute sie sich schon auf die Trauerfeier am nächsten Tag.

      Im Sommer mangelte es zu Lines Kummer an diesen Veranstaltungen ganz erheblich.

      Dann verhalf sie zu Tode gekommenen halben und ganzen Regenwürmern, Vogelgerippen, von Ackerwagen breit gefahrenen und von der Sonne gedörrten Fröschen mit erstaunlich gut erhaltener Farbgebung, zu einem blütenreichen Abgang in dunkler, feuchter Erde unter dem großen Rhododendron auf dem Rondell vor dem Haus von Frau Mu.

      Der Frühling und der Herbst waren als Jahreszeiten dafür bekannt, dass sie unter den Dorfbewohnern immer für reichliche Todesfälle sorgten.

      Es geschah aber auch, dass Line von einem Leichenzug auf der Landstraße überrascht wurde.

      Mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen stand sie dann am Straßenrand und studierte mit ungebrochenem Interesse jedes Mal wieder durch halb geschlossene Lider die versteinerten und verheulten Gesichter, die in der ersten Reihe dem Sarg folgten.

      Das Szenario des Trauerzuges verwandelte sich vor ihren Augen dann mehr und mehr in ein wunderschönes Gemälde.

      Die tänzelnden Rappen, die vom Kutscher wegen des geringen Tempos streng gezügelt werden mussten, trugen an ihren schwarzen Halftern silberne Scheuklappen.

      Aus den samtenen Mäulern tropfte weißer Schaum wie Schlagsahne, während sie ahnungslos verloschenes Leben über die dunkelblauen Basaltsteine der Landstraße zogen.

      Aber das Schönste war für Line der schwarz gelackte Leichenwagen.

      Vier dicke gedrechselte Säulen, an denen oben je eine lange schwarze Quaste schaukelte, trugen den Baldachin wie einen schwarzen Himmel, um den herum lange, schwarze Fransen wippten. Die üppige, bunte Blumenpracht auf dem Sarg war ein überwältigender Farbkontrast, der Line verzauberte.

      Dieses großartige Gemälde, das an ihr vorüber zog, wurde zum Schluss von einem Streifen bleicher Gesichter gerahmt, die miteinander flüsterten, aber absolut nichts von Trauer hatten.

      Line lauschte auf die gleichmäßig klackenden Pferdehufe und auf das leise und leiser werdende Konzert der vielen Schuhsohlen auf den Basaltsteinen.

      Und der letzte dunkle Rücken eines guten Freundes oder Nachbarn des Leichnams, signierte am Ende des Trauerzuges ahnungslos Lines soeben erlebtes Gemälde.

      Es verflüchtigte sich mit zunehmender Entfernung mehr und mehr, bis es schließlich ganz verschwunden, aber für immer und ewig in Lines Erinnerung bleiben würde.

      Dann entfaltete sie ihre Hände und war unendlich zufrieden mit dem Gedanken, dass sie noch lebte.

      Schon früh war für sie der Friedhof ein stiller, angenehmer Ort, an dem nicht nur die Toten Ruhe fanden. Es war auch ein Ort, an dem unzählige wilde Erdbeeren in Ruhe wachsen und reifen konnten, deren Entdeckung Line aus gutem Grund für sich behielt.

      Zwischen den vielen Gräbern, die sie wegen der Bepflanzungen, der Kreuze und unterschiedlichen Grabsteine in schön oder hässlich einteilte, fühlte sie sich ausgesprochen lebendig.

      Am liebsten ging sie an ein frisches Grab, das schon von weitem zu sehen war.

      Wie ein bunt bezogenes, dickes Federbett bauschten sich die Kränze und Blumensträuße auf dem unlängst aufgeworfenen Grabhügel, der nach modriger Erde roch.

      Sie saß dann in der Hocke davor, glättete die breiten, weißen Schleifen, die schwarz beschriftet und befranst waren und schaute voller Mitleid auf die vielen tot geweihten und welkenden Blumen.

      Als die Sonne eines späten Nachmittags lange Schatten auf den breiten, sorgsam geharkten Kiesweg warf, leuchtete neben einem frischen Grab etwas, nach dem Line sich schnell bückte. Sekunden später hielt sie einen kleinen, bleichen Knochen zwischen ihren Fingern, den sie mit einem Gefühl von gruseliger Gewissheit, aber ohne Berührungsangst, in der kleinen Tasche ihres Kleides verschwinden ließ.

      Zu dem Respekt, den sie dem Knochen entgegenbrachte, gesellte sich rasch eine große Begeisterung. Der Fund war so einmalig, dass sie beschloss, niemandem davon zu erzählen. Aber Line suchte sich dann doch einen verschwiegenen Mitwisser und ließ ihr Lieblingsschwein, das im Stall des Verrücktenheims im goldenen Stroh zuhause war, an dem kleinen bleichen Knochen riechen.

      Von da an teilte sie mit ihm ihr erstes, dunkles Geheimnis.

      Line fürchtete sich nicht auf dem Friedhof.

      Ome hatte sich immer gefürchtet und vom schwarzen Sensenmann gesprochen, der unter einer tief nach vorn gezogenen Kapuze seinen Totenkopf versteckt und auf dem Friedhof spuckt.

      Und Line hatte ihm widersprochen: „Spuuuuken, Ome, es heißt er spuuukt auf dem Friedhof, tut es aber nicht wirklich.“

      „Die tot geblieben sind jawohl“, hatte Ome behauptet und mit dem Fuß aufgestampft.

      Auf dem Friedhof gab es keine alten Bäume, die für Düsternis gesorgt hätten.

      Aber eine weiße Gruft, befriedet von einem schwarz gelackten Eisenzaun und zu der es ein paar Stufen nach unten vor eine schmale Tür ging.

      Dort hätte Line gern gewohnt.

      Lines Freund Lüder hatte kopfschüttelnd gesagt: „Ne, Line, das kann man nicht, und außerdem liegt da doch schon einer drin.“

      Und ihre Mutter hatte eine Gänsehaut bekommen und geflüstert: „Oh, mein Gott, Line, was sagst du da!“

      Line hätte es trotzdem gern gewollt, auch schon deshalb, weil am Eingang ein wunderschöner, großer, weißer Marmorengel in einem langen, faltenreichen Gewand mit hoch erhobenen, segnenden Händen stand.

      Die Schönheit des Engels beeindruckte und beruhigte Line, wenn sie nach oben in das ebenmäßige Gesicht und auf die geschlossenen Augen sah.

      Die großen Flügel waren hoch aufgerichtet, und Line versuchte immer vergeblich, nicht an den schmutzigen Gänseflügel zu denken, mit dem Frau Mu die Brotkrumen vom Tisch fegte, und dem schon einige Federn fehlten.

      Sie wollte diesen Vergleich einfach nicht.

      Die Flügel des Friedhofengels waren unversehrt und so weiß wie Gänseblümchen.

      Line hatte den Wunsch, sie wenigstens einmal zu berühren.

      Auf Zehenspitzen, und mit ganz nach oben ausgestreckten Händen, reichte sie gerade an die Flügelspitzen heran und fühlte mit ihren Fingern die Federn aus Stein – und wie eiskalt sie waren.

      2. Kapitel

      Line liebte es, dabei zu sein, wenn in der Wohnung ihrer Großmutter regelmäßig ein Kaffeekränzchen mit Kuchen,