Gloria Fröhlich

Kuckucksspucke


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Blicken tränenverschleierter Augen ein- und ausflogen und sich beharrlich ihrer Sache widmeten und sich nicht davon abhalten ließen, die Tote bis ins Grab zu begleiten.

      Stellen sie sich das mal vor!

      Mit ihren Taschentüchern haben die nahen Angehörigen, die gleich hinter dem Sarg hergingen und das Elend mit ansehen mussten, versucht, die Fliegen zu verscheuchen, aber die Biester waren hartnäckig, wie Fliegen eben so sind, es war gruselig.“

      Line konnte geradezu den bestialischen Verwesungsgeruch riechen, der von der dicken, toten Frau im Sarg ausgegangen sein musste.

      Sie kannte den Gestank aus dem dichten Brombeergebüsch ganz hinten im Garten von Frau Mu nur zu gut, als dort ein schwarzer, toter Vogel auf dem Rücken mit hoch aufgerichteten, starren Beinen vor sich hin faulte, in dessen offenem Bauch dicke, weiße Maden in gleichmäßigem Rhythmus um einander tanzten.

      Die Damen ächzten hinter vorgehaltenen Händen.

      In diesem Augenblick spürte Line das merkwürdige Gefühl wieder, das sich in ihrem Bauch auch jetzt ganz absonderlich anfühlte, wie damals, als sie die ramponierte, hässliche Puppe, die ihre Cousine ihr großzügig überlassen hatte, und mit der sich Line nur aus der Not heraus abzufinden, jeden Tag wieder große Mühe gab, in aller Stille und mit keinem schlechten Gewissen begraben hatte. Es war schon lange niemand mehr gestorben, und sie hatte darin eine Möglichkeit gesehen, ihr Bedürfnis nach der begehrten Beerdigungszeremonie zu befriedigen. Mit der Puppe unter dem Arm und mit einem Löffel war in den Garten gegangen, war ein wenig unter den großen Rhododendron gekrochen und hatte ein tiefes Loch gegraben, die Puppe hineingelegt und langsam mit Erde bedeckt, bis auch von ihrem Gesicht nichts mehr zu sehen war. Line hatte inne gehalten, als die Puppe unter der Erde verschwunden war. Auf Knien hatte sie dann inbrünstig gebetet und eine handvoll Gänseblümchen dazu gezwungen, das Grab zu schmücken. Langsam und mit gesenktem Kopf hatte sie die letzte Ruhestätte ihrer ungeliebten Puppe in stiller, seltsamer Stimmung verlassen. Und dann spürte sie wenig später, wie ein kleiner, geheimer Kummer von ihr Besitz ergriff, und als es dämmerte, überkam sie unendliche Reue. Schließlich hatte sie Panik für die Puppe empfunden, obwohl sie von ihr immer von „der Puppe“ und nie von „meiner Puppe“ gesprochen hatte. Auf flinken Füßen war sie zu der winzigen Erderhebung gerannt und hatte die schon welken Gänseblümchen beiseite geschoben und wie gehetzt mit bloßen Händen nach der Puppe gebuddelt, ihren Kopf gegriffen und die Puppe mit einem Ruck aus dem Grab gezogen. Sie hatte ihr auf dem Weg ins Haus die feuchte Erde vom Leib geklopft, sie in die leere Apfelkiste gelegt, die neben dem großen Kachelofen stand und zur Hälfte mit Holzwolle gefüllt war und erleichtert „So“ gesagt.

      Inzwischen wusste Line aber auch, dass nicht alles, was tot war, beerdigt wurde.

      Manch ein totes Tier wurde gegessen.

      Zum Beispiel ein Huhn.

      Wie das gehandhabt wurde, wollte Line miterleben, als es um das tote Huhn ging, das kopfüber an dem Fahrradlenker von Lüders Vater hing.

      Wie es zu Tode gekommen war, wusste Line nicht, aber dass es gegessen werden sollte, wurde schnell von Lüders Mutter beschlossen, die aus der Tür geeilt war und vor Begeisterung wegen der unvorhergesehenen ordentlichen Fleischmahlzeit in die Hände geklatscht und gut gelaunt: „Mal was Richtiges“, gezwitschert hatte.

      Lüders Vater hatte sein Rad an die Hauswand gestellt und das Huhn losgebunden, dem dabei ordentlich der Kopf wackelte.

      Dann trug er es an den großen, blassgelben, verkrampften Füßen kopfüber baumelnd ins Haus. Seine Frau und Lüder folgten ihm freudig.

      Und Line fragte gar nicht erst, ob sie mitgehen durfte, sondern blieb ihnen dicht auf den Fersen. Sie war neugierig und hatte keine Vorstellung davon, was mit dem Huhn geschehen würde. Für sie hatten Hühner einen Namen und legten Eier, sonst nichts.

      In der Küche nahm sich Lüders Mutter sofort der armen Kreatur an und legte das leblose Ding in eine große Schüssel, an der noch weiße Emaillereste leuchteten.

      Auf dem Herd dampfte es schwach aus dem Wasserkessel, und sie legte Holz nach, weil das Wasser sprudelnd kochen sollte, wie sie murmelte.

      Line ahnte noch nicht den Grund dafür.

      Nach einer Weile nahm Lüders Mutter den singenden Kessel vom Herd, und vor Lines fassungslosem Gesicht goss sie das heiße Wasser über das tote Federvieh, das für kurze Zeit im Dampf verschwand.

      Es wird regelrecht verbrüht, gruselte sich Line und sah, dass das Huhn innerhalb kurzer Zeit um die Hälfte zusammengeschrumpft und bis auf die Haut nass war.

      Lüders Mutter ließ das Elend in der Schüssel keinen Moment aus den Augen, während sie sich eine dunkle Schürze umband. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und ließ eine Weile vergehen, bevor sie das nasse Huhn packte, ihre Oberschenkel spreizte und es in die Mulde ihrer Schürze legte.

      Und mit brutaler Gewalt, zuerst die großen Federn aus Schwanz und Flügeln, riss sie mit kurzen, schnellen Bewegungen dann auch die kleinen, weichen Federn von Rücken und Brust und wenig später die zarten Daunen vom Bauch der Tierleiche.

      Ein paar davon klebten sofort an ihren Händen, die vom heißen Wasser inzwischen rot und aufgedunsen waren. Um ihre Füße herum, wurde der graue Steinfußboden im Handumdrehen mit dem gerupften Federkleid des zukünftigen Leckerbissens bedeckt.

      In kurzer Zeit war das Huhn völlig nackt.

      Seine Haut war weiß wie Grießbrei, hatte vereinzelt blaurote Flecken, wie nach tüchtigen Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand, und picklig war sie auch.

      Line stierte entsetzt auf das, was sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, und das sie nicht zuordnen könnte, wenn sie nicht wüsste, was es vor seiner Zerstörung gewesen war.

      Der nasse Hühnerkopf hing jetzt mit schrumplig, weiß verschlossenen Augen über den Schürzensaum, genau in der Mitte zwischen den Knien von Lüders Mutter.

      Die stand nun vom Stuhl auf und drückte ihn dabei mit den Kniekehlen nach hinten. Die Stuhlbeine schurrten auf dem Steinboden, und das Geräusch riss Line aus ihren Gedanken. Lüders Mutter machte einen gequälten Eindruck, als habe sie und nicht das Huhn etwas durchgemacht. Ihre nasse, himbeerrote Hand umklammerte den dünnen Hühnerhals, und sie suchte fischend mit der anderen nach etwas in der Schublade des Küchentisches neben sich, das dann gefunden, schmal und hell aufblitzte.

      Ein Messer!

      Damit konnte man Schlimmes anrichten, wusste Line, und das wurde ihr auch Sekunden später am Leibe des toten Huhnes vorgeführt.

      Als der Kopf mit schnellen Handgriffen, aufblitzendem Messer und knackendem Geräusch abgetrennt wurde, öffnete das Huhn den Schnabel, als wollte es protestieren.

      Danach hielt Lüders Mutter die splitternackte Hühnerleiche am kopflosen Hals gepackt über ein Holzbrett und schlitzte ihr mit einem einzigen graden Schnitt den blassen, eingefallenen Bauch von oben bis unten auf.

      Was nun aus dem breiten Hautschlitz heraus quoll, dann an fleischigen Schnüren neben dem Huhn hing und schleimig auf das Holzbrett glitschte, würgte Line.

      Ein entsetzlicher Gestank nahm ihr den Atem, und angewidert starrte sie auf den Klumpen unappetitlicher Gebilde mit unterschiedlicher Farbgebung.

      Es fiel ihr schwer, zu glauben, dass das essbar sein sollte, und dass sich Lüders Familie wirklich darauf freute.

      Lüders Mutter legte das miserabel zugerichtete Huhn gerade wieder in die Schüssel, als jemand an die Wohnungstür hämmerte und etwas rief, das undeutlich dahinter blieb und in der Küche nicht zu verstehen war.

      Lüders Vater rannte durch den Flur zur Tür und öffnete.

      An ihm vorbei stürzte eine Furie und nahm mit schriller Stimme den direkten Weg in die Küche, als würde sie sich gut auskennen.

      „Ich weiß, dass Beate hier ist, was habt ihr mit ihr gemacht, ist sie tot?“

      Mit wenigen Schritten war sie am Ort des Geschehens, packte mit beiden Händen den