Gloria Fröhlich

Kuckucksspucke


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Kopf weit nach unten, fast auf Beate, und ein leiser Klagelaut löste sich aus ihrer Kehle beim Anblick ihres schmerzlichen Verlustes.

      Ihre Augen schwammen in Tränen, als sie sich wieder zu ganzer Größe aufstellte und dabei ihr Hohlkreuz ganz durchdrückte.

      Sie sah in das fassungslose Gesicht von Lüders Mutter und dann in das Undurchdringliche seines Vaters.

      Dann flogen ihre Blicke hin und her, und sie schluchzte: „Warum?“

      Lüders Vater machte einen zaghaften Schritt nach vorn: „ Ich wollte das nicht, aber sie ist mir taumelnd ins Rad gerannt, ihr Kopf hat sich in den Speichen verfangen, sie war sofort tot, sie hat nicht gelitten, glauben sie mir, außerdem wirkte sie völlig erschöpft“.

      Die Frau umfasste ihr Kinn und wandte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht von Beate ab. Sie schien sich langsam zu beruhigen und mehr noch, als sie nachdenklich ihr rechtes Ohrläppchen unter den Haaren befühlte.

      Während ihr Blick erneut über die tote Beate huschte, hauchte sie: „Ja, ja, sie war schwach. Beate fraß seit einer Woche nicht mehr. Ich war ja dabei, als sie meinen Ohrring mit der echten Perle verschluckte.

      Er ist einfach heruntergefallen, als ich das Hühnerfutter ausstreute, einfach so!“

      Ihr neugieriger Blick fiel nun auf das Holzbrett.

      Entschlossenheit straffte ihren Körper.

      Sie schien allen Kummer vergessen zu haben und zu kombinieren.

      „Ist das?“

      Lüders Mutter nickte betreten.

      „Wo ist der Magen, kann ich mal gucken, sie merkt es ja nicht mehr, da kann ich doch mal nachsehen, ob ich ihn finde, mein Mann hat schon gefragt, er weiß nichts“.

      Als sie den flachen, dunkelroten, bläulich schillernden Muskel mit spitzen Fingern aus dem wabernden Klumpen fischte, das Messer nahm, ihn von allem Gekröse befreite und dann wie ein Brötchen aufschnitt, wobei es makaber knirschte, wich Lines Mitgefühl mit Beate, und sie entwickelte ein großes Interesse für echte Perlen.

      Im Inneren des Magens, der nun behutsam aufgeklappt wurde, schaute Line auf dickes, dunkelgelbes Plissee, mit dem er ausgekleidet war.

      Die Frau durchforstete nun mit leicht gekrümmtem Zeigefinger, aufmerksamen Augen und ihrer lebhaften himbeerroten Zungenspitze zwischen den Lippen, die dichten Magenfalten.

      Ihr Gesicht erhellte sich, nachdem sie zunächst winzige Steinchen herausgefischt hatte.

      Dann erlosch ihre anfängliche Freude abrupt.

      Aber sie schien nicht aufgeben zu wollen, denn ihr Gesicht befand sich nun dicht über dem glänzenden, gewundenen Gedärm ihrer toten Beate.

      Sehr sachte drückte sie einen Strang gelber Perlen beiseite und seufzte leicht, während Line glaubte, da wäre ein unverhoffter Perlenschatz gefunden worden.

      Doch dann erfuhr sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas von Eierstöcken.

      Beates nahe Angehörige wühlte weiter in den kalten Eingeweiden der toten Beate.

      „Nichts“.

      Aber vielleicht steckt er noch im Schlund“, hoffte sie und schob sogleich ihre Faust mit ausgestrecktem Zeigefinger und ohne großes Feingefühl durch den breiten Hautschlitz bis hinter das feste Brustbein und dann ganz nach oben in Beate, so dass der kopflose Hals sich ein letztes Mal krümmte.

      Und dann - mit einem kleinen, spitzen Schrei, hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger etwas in die Höhe, von dem sie behauptete: „Das ist er“.

      Mit einem müden Lächeln streifte sie noch einmal die tote Beate, ihre Beate.

      Und mit einem Seufzer flehte sie: „Esst sie bitte mit Bedacht, ich kann das nicht, der hier reicht mir“.

      Dabei schaute sie auf ihre Faust mit dem begehrten Inhalt, drehte sich rasch um und erreichte mit eiligen, federnden Schritten die Tür.

      Line folgte ihr in der Hoffnung, wenigstens einen kurzen Blick auf eine wirklich echte Perle werfen zu können. Doch dazu sollte es nicht kommen, denn die Perlenfrau saß blitzschnell auf ihrem Fahrrad und fuhr davon. Der Rock ihres bunten Sommerkleides flatterte im Wind, als Line ihr enttäuscht hinterher sah.

      So war dann Lines Phantasie weiterhin gefordert, da Perlenbeschreibungen nicht zum dörflichen Geschwätz gehörten, so wie Vieles, was Lines Sicht auf das Leben und ihre subjektiven Eindrücke oftmals beinahe wöchentlich ins Wanken brachten oder sogar rigoros veränderten.

      So auch nach wenigen Tagen, als sie, nicht einmal besonders überrascht, im duftenden Bäckerladen neben ihrer Mutter begreifen sollte, dass Ome, dessen Verschwinden im gurgelndem Fleet von ihr erfolgreich verdrängt worden war, überhaupt nicht ertrunken war.

      Und es war Line sogar ziemlich egal, dass Ome weiterhin quicklebendig herumspazierte. Sie hörte jetzt beinahe gelangweilt einen lebhaften Dialog zwischen der Bäckersfrau und einer Frau mit an, die sich nach langem Hin und Her endlich für ein „Angeschobenes“ entschieden hatte. Sie waren sich schnell und mit einem tiefen Atemzug auch darin einig, dass ein Unglück selten allein kommt. Line hörte dann aber doch noch genauer hin, was mit Ome wirklich passiert war.

      Der große Junge von der Schmiede, der den Auftrag hatte, im Verrücktenheim etwas abzuliefern, hatte sich über das auf einige Quadratmeter begrenzte, heftig bewegte Wasser im Fleet gewundert und dann Ome entdeckt, der mit sämtlichen Extremitäten wie wild zappelnd, um sein Leben gekämpft hatte. Nicht nur einmal hatte er ihn nach Luft schnappen und immer wieder auftauchen und versinken sehen, war dann beherzt ins Fleet gesprungen und hatte Ome mit großer Kraftanstrengung ans Ufer und auf den Sommerweg gezogen. Dort hatte der Gerettete sich durch verzweifeltes Hin- und Herwälzen am nassen Körper mit dem weichen Sand dick paniert, wobei ihm hustend reichlich Wasser aus dem Mund gesprudelt war. Aber er lebte, war jedoch völlig erschöpft liegen geblieben und dann von seinem Retter und einigen herbeigeeilten Helfern wie ein nasser Sack ins Verrücktenheim geschleppt und auf sein Bett gehievt worden.

      Ome war kräftig und hatte sich schnell von den Strapazen seines Überlebenskampfes erholt. Der Lebensretter wurde weit über die Grenzen des Dorfes hinaus bekannt und dermaßen übertrieben bejubelt, dass es Tille, einer Pubertierenden in schwieriger Phase, unsagbar auf die Nerven gegangen war.

      Es hatte sie gedrängt da rigoros einzugreifen und dem Ganzen schnell ein Ende zu setzen. Sie war so neidisch auf seinen Ruhm und hatte selbst nach derartiger Beachtung gelechzt, dass sie ihre Phantasien mobilisierte und dann eine Idee hatte.

      So verlor Tille keine Zeit und setzte diese schon einen Tag später und bei herrlichem Sonnenschein, in die Tat um.

      Sie lockte einen jüngeren, dicken, unbeliebten Nichtschwimmer unter einem Vorwand ganz nah an das Fleetufer, versetzte ihm mit der flachen Hand auf den Rücken einen kräftigen Schlag, der ihm den Atem und das Gleichgewicht nahm, und ihn stumm vor Entsetzen und ohne große Umstände Hals über Kopf in die Fluten stürzen und wie einen Stein untergehen ließ.

      Nach dieser von Tille gut durchdachten und perfekt ausgeführten Vorbereitung für die eigentliche Aktion, wollte sie nun wie wild beginnen, den wieder Aufgetauchten zu retten.

      Unvorhergesehenerweise wurde das jedoch mehr als beschwerlich, denn der wehrte die helfenden und nun dringend erforderlichen, rettenden Zugriffe ganz energisch und prustend ab, weil er nicht zu Unrecht annehmen musste, dass seine Angreiferin ihm weiterhin nach dem Leben trachtete, und er sich vor ihr mit verzweifelter Abwehr und planschender Schnelligkeit in Sicherheit bringen musste, um das zu verhindern.

      Tille hatte inzwischen Panik, dass ihre Rettung misslingen könnte, was nun auch nach den glucksenden Geräuschen außer Sichtweite im dichten Schilf zu urteilen, zur schrecklichen Wahrheit zu werden schien.

      Aus Leibeskräften schrie sie um Hilfe und büßte damit die Möglichkeit ein, eine Lebensretterin zu werden und zu geplantem Ruhm und gewollter Ehre zu gelangen.

      Zu ihrem Ärger war der, der ihr das gründlich vermasselte,