Karlheinz Seifried

Zu nah am Abgrund


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Es ist nicht bekannt, wie eine so große Anzahl Randalierer ungesehen ins Zentrum von Bremen gelangen konnte. Die Polizei hat aber schnell reagiert und das betreffende Gebiet sofort abgesperrt. Wir geben jetzt zurück an die Zentrale, bleiben aber vor Ort und halten sie über die weiteren Ereignisse auf dem Laufenden.“

      Horst und ich sahen uns an, wir wurden kreidebleich. Zwei Mann und ein Gedanke, wir holten uns ein weiteres Bier und hopp und ex, weg war es. Langsam kehrte unsere Gesichtsfarbe zurück.

      Was war in Bremen passiert? Was ist da abgegangen? Kein Wort von gesperrten Zufahrten oder defekten Einsatzwagen der Polizei. Wir klebten mit den Ohren am Lautsprecher, um ja keine Meldung zu verpassen.

      „Meine Damen und Herren, wir schalten jetzt wieder um zu unserem Reporter in Bremen“, hörten wir aus dem Radio den Sprecher sagen.

      „Hallo Zentrale! Ich stehe hier am Rand des Bahnhofsvorplatzes und sehe gerade, wie die Polizei den Kreis um die Rockergruppe immer dichter zieht. Die Rocker wehren sich mit Schlagstöcken und Ketten und die Polizei setzt Wasserwerfer ein. Immer mehr Demonstranten werden entwaffnet und zu den warteten Polizeifahrzeugen gebracht. Es sieht so aus, als wenn die Polizei jetzt alles im Griff hat. Ich gebe wieder zurück zur Zentrale.“

      Wir hatten erst Mittagszeit, sonst wäre jetzt noch ein Bier fällig geworden. Eigentlich sollte um dreizehn Uhr der Spuk vorbei gewesen sein und jetzt wurden die Typen in Bremen nacheinander einkassiert.

      Von London aus mussten wir unbedingt mit Wolfgang telefonieren, der wusste bestimmt mehr über den Ablauf in Bremen. Bis dahin mussten wir uns in Geduld fassen.

      An Bord hatten wir einen Vorfall, der die weitere Reise stark beeinflussen sollte. Einer unserer Matrosen musste in London von Bord und ins Krankenhaus. Für Ersatz war schon gesorgt, aber was da an Ersatz an Bord kam, war eine einzige Katastrophe. Ein Albino! Weiße Haare, schneeweiße Haut und Augen wie aus Eiskristall, ohne jegliches Gefühl, einfach eiskalt. Dieser Typ machte uns das Leben an Bord zur Hölle. Er hatte zum Schluss die ganze Mannschaft, bis hin zum Kapitän, fest in seiner Hand. Ein Tyrann wie er im Buche stand. Ein Horrorfilm war im Vergleich zu dem, was wir in den folgenden Wochen erleben sollten, ein Kinderfilm.

      Das Erste, was wir in London machten, war die Übergabe der Ware, die wir aus Hamburg mitgebracht hatten, zu organisieren. Also telefonieren, den Code angeben, Treffpunkt der Übergabe festlegen. Zwischendurch habe ich den Briefkasten aufgesucht, um zu sehen, ob Nachrichten da waren, was natürlich der Fall war. Also hatten wir diesmal zwei Aufträge auszuführen, was nicht selten der Fall war. Beim ersten haben wir die Ware aus Hamburg übergeben und beim zweiten Treffen mit einer ganz anderen Gruppierung haben wir Ware für Südamerika bekommen.

      Es lief auch diesmal alles ohne Probleme, schnell und routiniert ab, so dass wir noch an diesem Abend mit Wolfgang telefonieren konnten. Von ihm erfuhren wir, was wirklich in Bremen abgelaufen war. Big Boss und das Führungsteam hatten sich an meinem Plan gehalten und alles so in die Wege geleitet, wie es abgesprochen war. Nur die einzelnen Gruppierungen selbst hielten sich nicht an die Abmachung.

      Sie dachten, dass die schnelle Art besser sei, also in die Stadt fahren, draufhauen und alles kaputt machen und schnell wieder raus, als mein umständlich geplanter Ablauf, bei dem noch nicht einmal alle am Bahnhof hätten mitmachen können.

      Auch die Sonderteams hielten sich nicht an die Absprachen, sie dachten wohl auch, diesen Spaß kann man sich nicht entgehen lassen und auch sie fuhren deshalb direkt zum Bahnhof. Dass so viel Eigenmächtigkeit das ganze Unternehmen zum Scheitern bringen könnte, das haben sie nicht bedacht. Das war mal wieder ein tolles Beispiel dafür, dass Muskelkraft allein nichts bringt. Nur die Kombination von Muskelkraft und Verstand ist gefährlich und führt zum Erfolg. Damit war das Thema Bremen abgehakt, das Gebiet Bremen war fürs erste von Rockergangs gesäubert. Die Polizei konnte mit ihrer Arbeit zufrieden sein.

      Unser Schiff nahm unterdessen Kurs auf Panama und für uns begann das Drama an Bord. Mit dem Albino!

      Nach und nach hatte er die ganze Crew unter seiner Kontrolle gebracht und terrorisiert. Wir, das waren Horst, die beiden Jungmänner (Auszubildende im zweiten Lehrjahr) und ich, bekam es schon am frühen, nächsten Morgen zu spüren. Es war erst vier Uhr am Morgen, als unsere Tür ausgerissen wurde, der Albino reingestürmt kam und uns anschrie, wir sollten aufstehen. Wie um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, hielt er uns sein Messer an die Kehle und drohte uns, diese auch durchzuschneiden, wenn es nicht schneller ginge.

      Dazu muss man wissen, dass er kein normales Messer benutzte, dieses Exemplar hatte einen Griff aus Elfenbein und dafür mehrere passende Einsätze. Der Messergriff war so gearbeitet, dass die drei verschiedenen Zusätze darin Platz fanden und innerhalb von Sekunden ausgewechselt werden konnten.

      Er hatte die Auswahl zwischen einem zweischneidigen Messer, einen Mahlspieker und einem Teil, an dem die eine Seite aus einer Säge bestand und die andere als Miniaxt einsetzbar war. Durch einen Knopf im Griff konnte er diese Teile schnell wechseln, ohne auch nur ein Teil in die Hand zu nehmen.

      Die einzelnen Teile waren so in der Scheide eingelassen, dass er den Griff einfach nur über die Nut stecken und einrasten lassen musste. Die Teile hatten eine Länge von fünfzehn bis dreißig Zentimeter, mit dieser Waffe war nicht zu spaßen, schon gar nicht, wenn man erlebt hat, wie er damit umgehen konnte.

      Auf diese Art und Weise wurden wir nun Tag für Tag geweckt. Nur die Zeit variierte, mal kam er schon um ein Uhr dann wieder erst um fünf Uhr. Gerade so, wie er es wollte. Mal kam er mit dem Messer, ein anderes Mal mit dem Beil und wenn er gerade Lust darauf hatte, dann floss auch mal etwas Blut. Aber das war nicht alles, auch während des Tages ließ er uns seine „Macht” spüren und schikanierte uns rund um die Uhr, wo er nur konnte, durch zusätzliche Arbeiten und hinterhältige Attacken.

      Zu allen nur erdenklichen Zeiten ließ er uns aufstehen, um irgendwelche Arbeiten zu verrichten, dann konnten wir uns wieder in unsere Kojen legen, nur um kurze Zeit später wieder von ihm geweckt zu werden.

      Ganz besonders viel Spaß hatte er an einem Messerspiel, dabei hielt er unsere Hand so auf dem Tisch fest, dass sie mit gespreizten Fingern wie angenagelt dalag, dann zog er sein Messer und stach ganz schnell zwischen den einzelnen Fingern hin und her. Manchmal ritzte er die Finger dabei auf, es hätte aber auch schlimmer kommen können. Bei diesem Spiel, das oft in den Hafenkneipen gespielt wurde, wird sonst immer gewettet, wie lange man das ohne Verletzung schafft und dabei sind schon so manche Finger auf der Strecke geblieben.

      Man kann sich sicher vorstellen, dass wir dabei immer Blut und Wasser geschwitzt haben, vor allem dann, wenn er das im angetrunkenen Zustand machte. Das zog sich so bis Chile hin, unsere Nerven lagen blank und wir hatten die Nase voll. Wir berieten uns zu viert und kamen überein, dass der Albino von Bord musste.

      Da er in der Zwischenzeit die ganze Crew unter Kontrolle hatte, vom Smutje bis zum Kapitän, war das gar nicht so leicht zu bewerkstelligen. Es gab niemanden an Bord, der uns hätte helfen können oder wollen. Es war also Eigeninitiative angesagt. Wir begannen einen Plan zu entwerfen, um ihn zu beseitigen. Es musste auf jeden Fall an Land geschehen, dadurch würde kein Verdacht auf uns fallen. In Chile verschwanden schon mehrere Seeleute.

      Nur dieses Vorhaben war gar nicht so einfach zu bewerkstelligen. Wir hatten keinerlei Informationen über ihn, was er so an Land machte und wohin er immer ging. Wer sollte uns diese Informationen geben? Freunde, mit denen er über seine Vorlieben und Gewohnheiten redete, hatte er ja nicht. Uns blieb also nichts anderes übrig, als ihn zu beschatten, um dann spontan und schnell zu handeln. Wir erstellten einen Plan, in dem organisiert war, wer ihn wie lange beobachten und beschatten sollte. Das klappte, wie wir meinten, an Bord auch ganz gut und ohne großes Aufsehen. Nur als er an Land ging fing es an, schwierig zu werden. Wie sollten wir uns untereinander benachrichtigen, wenn es etwas Wichtiges zu berichten gab oder wenn sich kurzfristig eine Gelegenheit bot, ihn zu beseitigen? Wir vier teilten uns deshalb in zwei Gruppen ein. Aus dem Hinterhalt würden zwei von uns bestimmt eine Möglichkeit haben, ihn zu erledigen, dazu nahmen wir unsere Messer mit an Land.

      Während die anderen zwei damit beschäftigt waren, den Albino zu beschatten, erledigten Horst und ich unsere Briefkasten- und Botengänge.

      So langsam wurden