Michael Wäser

Warum der stille Salvatore eine Rede hielt


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auf diese Weise versichern. Seine Augen brannten nun recht unangenehm. Salvatore schloss die Lider, kniff sie zu, so fest er konnte. Es strengte ihn an, also ließ er es bald wieder sein. Langsam verschwand das Brennen, aber nun tränten seine Augen. Er spürte, wie die Tränenflüssigkeit zu beiden Seiten seines Gesichts hinab rann. In seinem linken Ohr schien sich die Flüssigkeit zu sammeln. Hier begann es zu jucken. Dieses Ohr war also, wo es hingehörte. Allmählich besserte sich das Brennen in den Augen, das Tränen ließ nach. Die Tränenflüssigkeit auf seinem Gesicht kühlte sich ab, die Bahnen, die sie genommen hatte, trockneten an und juckten nun ebenfalls. Oder war es das Salz, was nun juckte? Salvatore versuchte, seinen Kopf hin und her zu schütteln, um die Tränenflüssigkeit, die sich in seinem Ohr gesammelt hatte, herauszuschleudern oder zumindest großflächiger zu verteilen, aber dazu fehlte ihm die Kraft. Also wartete er, bis die Tränen in seinem Ohr von selbst trockneten. Die Tränen auf der rechten Seite seines Kopfes waren vermutlich unterhalb seines Ohres, von dem er nun annehmen konnte, dass es ebenfalls nicht fehlte, bis in seinen Nacken geflossen, denn dort juckte es ihn nun mit ein wenig Verzögerung auch. Während er wartete, besann er sich auf seine Beine. Die hatte er irgendwie vergessen. Sie zu prüfen war sicher nicht so einfach, wie bei den Händen, denn er hatte seine Zehen noch nie gegeneinander führen können, jedenfalls nicht an ein und demselben Fuß. Er entschied, es erst einmal mit einer beliebigen Bewegung der Zehen zu versuchen, musste aber bald einsehen, dass seine Zehen sich nicht bewegen ließen, ebenso nicht seine Füße und seine Beine. Das musste nicht bedeuten, die Beine seien nicht vorhanden, sagte er sich, aber es war auch nicht unbedingt geeignet, Heiterkeit zu verbreiten. Alles in allem befand er sich offenbar in einer ungewohnten, vielleicht sogar besorgniserregenden Situation. Sein Puls stieg. Wo war er überhaupt? Er hatte keine Ahnung, wo er war. Warum konnte er sich nicht bewegen? Warum kaum etwas sehen? Was war eigentlich passiert, was hatte ihn in diese Situation gebracht? Es gelang ihm, nicht in Panik zu geraten. Im Grunde fühlte er sich wohl. Abgesehen von dem Jucken in seinem Ohr und dem Druckgefühl auf seinem Hals fühlte er sich sogar ausgesprochen wohl. Er konzentrierte sich auf diejenigen Sinneseindrücke, die ihm keine Mühe bereiteten. Der Geruch. Der Geruch, den er wahrnahm, kam ihm zwar nicht gewöhnlich vor, aber auch nicht völlig fremd. Ein klar umrissener Geruch, ein gleichermaßen alarmierender wie vertrauenerweckender Geruch. Er atmete etwas tiefer ein, um ihn genauer identifizieren zu können, erinnerte sich, wie er einmal in einem Krankenhaus einen entzündeten Mückenstich hatte behandeln lassen, weil sein Handgelenk auf die Dicke seines Oberarms angeschwollen war, da zuckten seine Augen vor Schreck. Begleitet von kurzen, blitzartigen Helligkeitsänderungen drangen dumpfe Geräusche herein, harte Schläge, besser, Einschläge. Granateinschläge, gefolgt von tiefem Summen. Genau, Geräusche hatte er noch gar nicht in Betracht gezogen. Er hatte ja auch noch keine registriert, seit er erwacht war, das bemerkte er jetzt. Salvatore erkannte die Geräusche wieder. Vertraute Geräusche. Signaturgeschosse. Das Wort übte eine beruhigende Wirkung aus. Seine eben aufgekeimte Angst legte sich wieder. Signaturgeschosse. Er war in Bovnik. Vermutlich in einem Krankenhaus. Aber er war zu Hause.

      Das Bovniker Uni-Klinikum, ehemals „Kaiserliches Universitätsklinikum“, blickte auf eine glorreiche, wenn auch mittlerweile angestaubte Geschichte zurück. Die Keimzelle seines Erfolges, die neurologische Abteilung, zehrte noch heute, beinahe zehn Jahre nach dem Zerbrechen des Staates Thunak und der Unabhängigkeit Bovniks, bald siebzig Jahre nach der Auflösung des Kaiserreiches und einhundertzehn Jahre nach der Gründung des Instituts, vom Ruhm seines zutiefst humanistischen Gründers, und der leitende Professor schien überzeugt, dessen Errungenschaften nichts auch nur annähernd Segensreiches mehr hinzufügen zu müssen. Stattdessen profilierten sich die Ärzte der Neurologie und Psychiatrie seit dem politischen Umbruch und unter dem Eindruck seiner Folgen für die innere und äußere Sicherheit des jungen Staates lieber in der engen Zusammenarbeit mit den Staatssicherheitsbehörden, mit anderen Worten: sie perfektionierten die Methoden der „Befragung Aussageunwilliger“, testeten und entwickelten „unterstützende“ Medikationen und Verfahren und werteten Verlauf und Ergebnisse ihrer Anwendung nach streng wissenschaftlichen Maßstäben aus, um sie weiter zu optimieren. Der noch jugendliche, kleine, um nicht zu sagen zwergenhafte Staat Bovnik verfügte aufgrund des außergewöhnlichen Engagements der besten Neurologen des Landes über die berüchtigtsten und erfolgreichsten Folterer des ganzen Kontinents, die sich allerdings so gut wie ausschließlich mit thunakischen Spionen und Soldaten befassten. Abgesehen davon konnte jeder reguläre Patient der Bovniker Neurologie sicher sein, eine ausgesprochen kompetente Diagnose und Behandlung zu erhalten, und auch jeder Unfallpatient, bei dem eine Schädigung des Gehirns oder Nervensystems nicht von vorneherein ausgeschlossen werden konnte, verließ das Klinikum nicht, ohne dass zumindest die grundlegenden neurologischen Parameter gewissenhaft überprüft worden waren. Die außerordentliche Qualität der Bovniker Neurologen und Neurochirurgen war zwar auch außerhalb Bovniks bekannt, doch niemand wollte in ein Kriegsgebiet kommen, Kopf und Kragen riskieren, um von einem zugegebenermaßen hervorragenden Neurochirurgen operiert zu werden. Doch seit die Signaturtechnologie angewendet wurde, änderte sich die Situation zusehends, und so fanden nun auch zahlungskräftige Patienten aus dem Ausland Aufnahme in den altehrwürdigen Gemäuern des Klinikums. Ihr Geld sorgte im Gegenzug dafür, dass sich die Klinik noch bessere Ausstattung leisten konnte. Bald würde sie weltweit an der Spitze stehen, prognostizierten nicht wenige Kenner der Branche. Einer der ersten dieser ausländischen Patienten war der Vorstandschef eben jenes Rüstungskonzerns, welcher dafür gesorgt hatte, dass Zivilpersonen in Bovnik nicht mehr um ihr Leben fürchten mussten als an Orten der Erde, in denen kein Krieg herrschte. Ein Schlaganfall hatte ihn mitten in einer Vorstandssitzung ereilt, in der erbittert um die künftige Strategie zur Verbreitung ihrer, wie sich herausgestellt hatte, tatsächlich bahnbrechenden Signaturtechnologie gestritten worden war. Allen im Vorstand war nur zu klar geworden, welch unermessliches Marktpotenzial sie würden ausschöpfen können, welche geradezu absurd hohen Wachstums- und Gewinnmargen sie würden realisieren können, wenn auch nur ein Bruchteil der Möglichkeiten umgesetzt würde, die sich zu jenem Zeitpunkt abzuzeichnen begannen. Denn ihre Technik schien wirklich zu funktionieren. Mit ausreichender Zuverlässigkeit hatte sie erst die Erwartungen erfüllt, dann aber bald weit übertroffen. Lizenzvergaben, eigene Anwendungen und Waffenproduktion, Beteiligungen an produzierenden und entwickelnden Unternehmen und: Kunden in der ganzen Welt, auf jedem Kontinent, auf staatlicher und privater Seite erwarteten den Konzern. Geld ohne Begrenzung. Jeder würde die Technik haben wollen, wenn ihre Wirksamkeit unzweifelhaft bewiesen und erprobt und für die Handhabung der ihr innewohnenden ethischen Problematik „griffige Formulierungen“ gefunden sein würden. Und wenn auch nicht jeder staatliche oder privatwirtschaftliche Interessent offen danach fragen würde, so doch wenigstens unter der Hand. Zumindest „erproben“ würde sie nahezu jeder Staat dieser Erde. Und jeder sollte sie auch bekommen. Sehr bald, nachdem der Vorstandschef während der Sitzung in sich zusammengesackt war, hatten die PR-Strategen die große Chance erkannt, die in dieser Situation steckte. Sie würden sie benutzen, um der Welt zu demonstrieren, wie groß das Vertrauen der Firma und der Familie des Vorstandschefs in die Signaturtechnologie war – sie hielten der Ehefrau des Vorsitzenden eine gefälschte Anweisung des Todkranken unter die Nase, ihn im eingetretenen Fall nach Bovnik zu bringen und schickten ihn zur Behandlung und Rehabilitation mitten in den Krieg, den Krieg, der mit ihrer neuen Technologie geführt wurde. Schon jetzt, der bedeutende ausländische Patient hatte gerade einmal seine erste Operation hinter sich und erholte sich nur wenige Zimmer von Salvatore entfernt, begann der Schachzug des Konzerns, die gewünschte Wirkung zu entfalten. Die Vereinten Nationen, die über die Technik tief zerstritten waren und ihren Einsatz in diesem Konflikt nur überwachten, weil sie vorher vollkommen hilf- und erfolglos darin agiert hatten, waren nun, nach knapp zwei Jahren der neuartigen Kriegführung, ausgesprochen kleinlaut geworden. Die Verantwortlichen des Konzerns durften demnach zuversichtlich sein, dem Vorstandschef, sobald er wieder in der Lage sein würde, seine Situation zu erkennen und sich zu der dreisten Urkundenfälschung möglicherweise kritisch zu äußern, einige höchst beeindruckende Zahlen vorlegen und ihn damit – so gut kannte man ihn – ohne Zweifel überzeugen zu können.

      Salvatore konnte die Gegenstände in seinem Krankenzimmer nun schon besser erkennen. Sogar seine restlichen Finger ließen sich wieder etwas bewegen und er versuchte, seine rechte Schulter anzuheben. Es gelang. Er bemerkte den Signalknopf, der über seinem Bett von dem galgenähnlichen Gestell baumelte, gleich neben dem grauen Haltegriff, der aussah wie eine fette Triangel.