Michael Wäser

Warum der stille Salvatore eine Rede hielt


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ich meine Überlegungen noch zu Ende führen?“, startete Vladimir einen letzten Versuch, doch seine Chance hatte er gehabt. Ola war am Zug.

      „Du weißt nie, wo du rauskommst und wann. Heute war plötzlich die halbe Stadt gesperrt wegen irgendwelcher Tauben auf dem Platz der Idioten. Wegen Tauben! Als wäre das eine Staatsaffäre!“ In der Familie hatte sich eingebürgert, die abfällige Bezeichnung für den „Platz des Sieges“ zu verwenden, natürlich nur, wenn man unter sich war. „Warum überhaupt noch jemand mit dem Bus fährt, ist mir ein Rätsel.“

      Vera rührte verkrampft in ihrer Suppe. „Sie machen einen Sport draus, glaub ich, so was wie Roulette.“ Ola lachte bitter.

      „Dann sollte ich bedeutend mehr Geld verlangen.“

      „Gewinnbeteiligung!“, skandierte Ernèst, als stünde er inmitten einer protestierenden Masse auf dem Platz des Sieges, aber dort hatte schon lange niemand mehr gegen irgendetwas protestiert.

      „Ich habe seinerzeit gehungert, um an verbotene Bücher zu kommen“, warf Vladimir ein. Der kämpferische Ton seines Sohnes weckte Erinnerungen.

      „Dein Sohn hat welche geschrieben, um nicht zu hungern.“ Ola tätschelte den behaarten Unterarm ihres Gatten. Vera bekam ein wenig Gänsehaut, denn die Liebe zu Büchern hatte sie von den beiden Männern geerbt. Ihr Literaturstudium nutzte ihr trotzdem nichts.

      „Das hat er. Mein Sohn!“, nickte Vladimir stolz. „Würde er nur besser kochen.“

      Das erinnerte Ola daran, dass sie eben einen Nachtisch hatte kaufen wollen:

      „Ich wollte Erdbeeren mitbringen, es gibt ja welche. Ich sage im Laden, ich möchte Erdbeeren mit Erdbeergeschmack, da sagt die ‚Gibs nich, nur die wir haben!‘ Ist das zu glauben?“ Alle nickten verständig, außer Jan, der sich auch beim Essen nicht vom Fernsehen abhalten ließ. Mathilde sprach ihn trotzdem an:

      „Du könntest vielleicht deine Würstchenlieferanten – Jan! – mal auf gute Erdbeeren ansetzen.“ Jan nickte, aber allen war klar, dass sein Nicken nichts zu bedeuten hatte.

      „Wo ist denn Billie wieder?“, wollte Ola wissen. Ihre älteste Tochter wohnte zwar noch zu Hause, ließ sich aber selten blicken. Zu viele ehrgeizige junge Männer warteten auf lebenslustige Frauen wie sie, wenn sie nach Feierabend das Büro verließ, in dem sie arbeitete.

      „Die ist wieder unterwegs, denke ich mal“, sagte Vera.

      „Jede Nacht bei einem Anderen!“ Ola gefiel der Lebenswandel ihrer Tochter nicht, auch wenn Billie im Unterschied zu Vera nicht ständig zitterte.

      „Lass sie doch“, beschwichtigte Ernèst. „Sie will was vom Leben haben. Ist schwer genug.“

      Ola schaute über den Tisch, wo das Kind saß und stumm seine Suppe löffelte: „Ihr Platz ist ja wenigstens nicht leer.“

      „Heute Abend gehe ich wieder zum Training“, sagte Vera und ärgerte sich sofort, nachdem sie es gesagt hatte. Sie wollte nicht als jemand erscheinen, der sich als besonders wohlerzogen gegen die leichtlebige Schwester abheben wollte. Doch genau das war sie immer gewesen. Wohlerzogen, unauffällig und einsam. Die Männer, die ihr den Hof gemacht hatten, konnte sie an einer Hand abzählen, und sie hatte sie außerdem alle abgewiesen. Ihre erste, eher unerfreuliche und unbeholfene Erfahrung mit einem Jungen aus ihrer Schulklasse hatte sie einigermaßen verstört und darin bekräftigt, lieber keine Freundschaften oder Liebesabenteuer zu riskieren. Vielleicht ärgerte sie sich auch darüber, dass sie ihre Familie bezüglich des Trainings heute ausnahmsweise belog. Aber, das wusste sie, ans Lügen sollte sie sich besser gewöhnen, jetzt, wo sie ihre Eintrittskarte in den aktiven Kreis von AR gelöst hatte.

      „Du mit deinem Sport. In diesen Zeiten“, sagte Vladimir halb ironisch, halb anerkennend. Vera schaute ihn nicht an.

      „We never know”, sagte sie.

      Ernèst nahm sich bereits seine zweite Portion.

      “Mit der Nase zwischen Buchdeckeln wird nicht jeder glücklich.“

      Plötzlich erhob sich Ola. Ihr Blick hatte das Zifferblatt ihrer Herren-Armbanduhr gestreift – gerade noch rechtzeitig:

      „Freitagabend, achtzehn Uhr fünfundvierzig, schönen Gruß von General Tulpensteel!“, verkündete sie, alle Anwesenden hoben mit beiden Händen ihre Teller an und warteten ab. Nicht lange, und das vertraute Geräusch einer anfliegenden Granate wurde lauter und lauter. Dem scharfen Krachen der eigentlichen Explosion folgte unmittelbar das typische Summen von Signaturmunition, die auf zivile Objekte trifft: Wie eine gigantisch verstärkte Version des Brummens jener beliebten Feuerwerkskörper, die man „Biene“ nannte, eine rasch anschwellende, stark vibrierende Mischung aus Nebelhorn und Kreissäge, begleitet von einer hellen, blauen Lichterscheinung, die durch die Ritzen um die Tischtennisplatte und durch das kleine Küchenfenster drang. Bald nach dem Eintreffen der akustischen Vibration begann das gesamte Haus in derselben Frequenz zu vibrieren und natürlich der Tisch und alles, was die Familie nicht in ihren Händen hielt. Im Unterschied zum Explosionsgeräusch hielt das Summen und Vibrieren mehrere Sekunden an. Daher lösten sich im näheren Umkreis eines Granateinschlags auch immer wieder Schrauben aus Gewinden, Nägel aus Wänden, fielen Tassen und Teller von Tischen und aus Schränken. Die Vibrationen hatten noch nicht so weit nachgelassen, dass die Familienmitglieder ihre Teller wieder abstellen konnten, als es plötzlich dunkel wurde und sich im selben Moment die Glühbirne, als Ergebnis des Zusammenwirkens von ungezählten Granatvibrationen und der Erdanziehung, direkt über dem Suppentopf aus ihrer Fassung löste.

      Zu den wenigen Dingen, die Veras Familie mit der großen Mehrheit der Bovniker Bevölkerung gemeinsam hatte, gehörte der verbindende Stolz des Mangels. An allen Ecken und Enden mangelte es in Bovnik, mal an diesem, mal an jenem. Aber dieser seit vielen Jahren andauernde Zustand führte nicht zu Aufständen der Unzufriedenen – zu denen sich Veras Familie durchaus, aber lieber insgeheim zählte – sondern zur Stärkung des ohnehin kaum noch zu steigernden Gefühls nationaler Einheit, das im allgegenwärtigen „WE KNOW“ Ausdruck fand. (Dass es einen Weg gab, den Mangel bis zu einem gewissen Grad zu lindern, war den Kiljans durchaus bewusst, doch dafür hätten sie sich der Mehrheit anschließen müssen, was für sie nicht infrage kam.) Perioden des Mangels wurden immer wieder abgelöst von denen der partiellen Überversorgung. Es gab einfach keine vernünftige Koordination des Handels und der Produktion – noch nicht, wie die Regierung immer wieder beteuerte. Doch in Wahrheit lag das durchaus nicht in ihrer Absicht, die Situation war so, wie sie war, schon nach dem Geschmack der Regierenden. Die sporadische Überversorgung sorgte vor allem dafür, dass die Bovniker den Mangel, der unweigerlich folgen würde, wieder fürchteten und bereit waren, Opfer zu bringen, um ihn zu mildern. Obwohl die Kiljans, wobei sie sich dazu nicht außerhalb der Familie äußerten, die Regierung und die so unerschütterlich geeinte Bovniker Bevölkerung schlichtweg für eine Ansammlung gefährlicher Idioten hielten, wurden auch sie durch Mangel geeint. Jeder achtete gewohnheitsmäßig darauf, nichts zu verschwenden oder zu beschädigen, was gerade schwer zu ersetzen war. Glühbirnen gehörten leider momentan zu den schwer entbehrlichen Haushaltsgegenständen, die man in Bovnik nur zu horrenden Preisen auf dem Schwarzmarkt bekommen konnte – wenn überhaupt. Die Familie hatte in dem Augenblick, als das Licht ausging, also die Wahl, entweder einen oder mehrere Teller einzubüßen und den Tisch mit Suppe zu versauen, und vielleicht, mit viel Glück, Geschick und vor allem Reaktionsschnelligkeit zu versuchen, die Glühbirne aufzufangen, bevor sie im Suppentopf versank und unbrauchbar wurde oder dort gar in tausend Glassplitter zersprang, oder sich auf unbestimmte Zeit mit Kerzenlicht abzufinden. In der so unvermittelt hereingebrochenen Dunkelheit erfassten überhaupt nur Vera und das Kind die eigentliche Problematik der Situation schnell genug. Doch Vera, deren Aufmerksamkeitstraining bei AR erste Früchte zu tragen begann, saß zu weit vom Suppentopf entfernt, um noch eingreifen zu können und das Kind, welches die lose wackelnde Glühbirne schon während des Angriffs beobachtet hatte, wollte nicht riskieren, einen Teller zu beschädigen und womöglich vom Esstisch verbannt zu werden. Kurz – die Glühbirne fiel. Doch bevor sie auf den Topfrand aufzuschlagen drohte, hielt sie Jan sicher in seinen kräftigen, von der Hitze seines Würstchengrills verhornten Fingern. Der kleine Fernseher lag vor ihm auf dem Tisch,