Michael Wäser

Warum der stille Salvatore eine Rede hielt


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stellten auch aus einem weiteren Grund das absolute Maximum dar, denn der Wirkstoff, der dem Frisbee diesmal beigemengt war, offenbarte seine ungeheure Wirkung augenblicklich und musste daher so schnell wie möglich an den Ort befördert werden, an dem er sie entfalten sollte. Vera stellte sich passend zum Wind und zu der Richtung, in die sie das Frisbee werfen wollte, nicht zu fest, aber auch nicht zu kraftlos, damit es lautlos in einem sanften Bogen über den Platz und direkt zum Podest fliegen konnte. Sie schloss die Augen, atmete sanft ein, ging leicht in die Knie, holte ohne Anstrengung aus und ließ ihren Arm mit dem präparierten Frisbee nach vorne schnellen. Noch im Moment des Werfens spürte sie, dass es ein guter Wurf war. Gleich war die Scheibe hinter dem vorderen Gebäude verschwunden. Vera kletterte wieder durch das Baugerüst zurück auf die Straße, ohne abgewartet zu haben, ob das Frisbee sein Ziel erreicht und den gewünschten Effekt entwickelt hatte. Zwei Tauben, die sie auf ihrem Weg durch die Altstadt so lange umflatterten, bis sie sich endlich an einem Brunnen ihre Hände waschen konnte, lenkten nicht, wie sie befürchtete, die Aufmerksamkeit von Passanten auf Vera. An mögliche Rückstände an ihren Händen und an die feinen Sensorien der Tauben hatte sie in ihrer Aufregung nicht gedacht, man konnte eben nicht alles vorhersehen und planen, das hatte ihr Trainer auch gesagt. Ein gewisses Risiko ließ sich nie ausschließen, ob Anfängerin oder nicht. Sie hatte ja keine Handschuhe anziehen können, das hätte ihr die notwendige Sensibilität in der Wurfhand genommen. Gleich mit Latexhandschuh zu trainieren, daran hatte niemand gedacht. Und ein nächstes Mal, bei dem sie den Fehler vermeiden konnte, würde es kaum geben. Aktionen zu wiederholen, war zu riskant. Sie verscheuchte die Tauben noch am Brunnen. Nun bemerkte Vera erleichtert: Die Leute beachteten sie gar nicht, sondern sammelten sich um die Fernsehgeräte und Transistorradios, die in Läden und Bars aufgestellt waren. Immer lauter diskutierten sie miteinander, was Bovniker gern taten, manche fluchten, was sie noch lieber taten, und manche lachten ihr gehässiges Bovniker Lachen. Auf dem ganzen Weg zur Bushaltestelle und während sie in einem verborgenen Kellereingang ihren Mantel und die Perücke ablegte und in ihren Beutel stopfte, hörte Vera zwischen lautem Lamentieren aus den Häusern und Polizeisirenen von den Hauptstraßen immer wieder Leute lachen, lachen über das, was sie vermutlich nur wenige Sekunden lang, bis zum Abbruch der Übertragung, gesehen hatten und sich nun gegenseitig erzählten, während statt der Übertragung der Feierlichkeiten ein Naturfilm über die Vegetation des Karstgebirges gesendet wurde. Sie warf den Beutel in eine Mülltonne und entfernte sich rasch, aber nicht auffällig hastig. Das Lachen der Bovniker, das sie so verachtete, sie empfand es zum ersten Mal im Leben als Belohnung. Den ganzen Weg bis nach Hause stieß es immer wieder aus den Fenstern und Türen hinaus in die Gassen und Straßen, wo der gleichmäßige, schnelle Rhythmus ihrer Absätze dieses unberechenbare Staccato für Vera erträglicher machte. Allmählich begann sie zu begreifen, dass ihr erster Einsatz für die Bovniker Untergrundbewegung ein Erfolg war.

      Die abenteuerliche Geschichte des Soldaten Lydian Perta, fünfter Teil: Ein glückliches Kind

      Eine solche Zeremonie hatte es in Bovnik noch nie gegeben. Nicht für einen einzelnen Soldaten, einen einfachen Korporal zumal, wenn auch Träger des Ordens Held der Freiheit und, posthum, in den Rang eines Sergeanten erhoben, den er sich, darin waren sich alle einig, selbst verdient hätte, wäre er nicht vorzeitig ums Leben gekommen. Nicht nur, dass neben den Angehörigen des Verstorbenen die Spitzen sämtlicher Teilstreitkräfte, Generäle allesamt, dem jungen Infanteristen die letzte Ehre erwiesen, auch der Oberkommandierende, General Sontir, und eine Regierungsdelegation unter Führung des Verteidigungsministers, der es sich nicht nehmen ließ, die Trauerrede zu halten, waren an diesem achtzehnten August in den alten Bovniker Dom gekommen, selbstverständlich begleitet von einem Tross mit Vertretern der nationalen und internationalen Presse. Ihr Erscheinen hier an diesem symbolhaften Ort – der Dom befand sich direkt am Platz des Sieges, wies auch nach Jahren Neuer Kriegführung deutliche Spuren der Zerstörung auf, die noch immer nicht gänzlich ausgebessert waren, und galt seit Jahrhunderten als die Seele des alten, stolzen Bovnik – ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der Staat Bovnik hier ein Zeichen setzen wollte, eines, das nicht nur im eigenen Land, sondern auch vom Kriegsgegner Thunak und der Weltöffentlichkeit wahrgenommen werden sollte.

      Der Leichnam lag aufgebahrt in einem offenen Sarg, umkränzt von unzähligen Blumengebinden, welche die Nationalfarben Bovniks im Sonnenlicht erstrahlen ließen, das durch die durchlöcherten Fenster in die Kirche strömte: Weiß, Grün und Rot. Man hatte dem Toten, zumindest am Oberkörper, jene Kleidung angezogen, in der er gestorben war: seine Galauniform, nun mit zerrissenem Revers und einem offenen Schulterpolster. Deutlich erkennbar waren Blutflecke auf dem grauen Stoff über der Brust und dem weißen Hemdkragen, Spuren seines gewaltsamen Todes und Zeichen des Protestes der Hinterbliebenen, ihrer Regierung und des ganzen Landes. Der Orden, den der junge, ehrgeizige Soldat kaum zwei Stunden vor seinem Tod für herausragende Leistungen erhalten hatte, war ebenfalls an seinem Jackett belassen und nicht vom Blut gereinigt worden. Nur sein zerfetzter Unterkörper blieb den Blicken der Trauergäste verborgen, die untere Hälfte des Sarges hatte man geschlossen und die bovnische Nationalflagge darüber ausgebreitet. Und doch war es nicht diese Ehrung, die ihn zu der außergewöhnlichen Figur machte, um die sich nun symbolisch die ganze Nation, vertreten durch die gewählte Regierung, versammelte. Der Orden „Held der Freiheit“ wurde regelmäßig und nicht unbedingt selten Soldaten verliehen, die sich im gegenwärtigen Krieg um die Unabhängigkeit des bovnischen Staates verdient machten. Das kleine, junge, gemarterte Land hatte seinen kämpfenden Söhnen wenig mehr zu bieten als Ehre und die eine oder andere Hilfe bei der Wohnungssuche oder der Berufswahl nach dem aufopferungsvollen und trotz Neuer Kriegführung lebensgefährlichen Dienst oder aber der bestmöglichen medizinischen Versorgung, wenn sie im Kampf für ihr Land verwundet wurden. Weshalb die oberste politische und militärische Führung des Landes gerade jetzt und bei diesem Mann so entschlossen öffentlich Anteilnahme zeigte, wurde ersichtlich, als der Verteidigungsminister ans Mikrofon trat und das Wort an die Trauergäste richtete:

      „Dieser Mann, Soldat, Korporal und von heute an Sergeant Lydian Perta, fand den Tod im Alter von nur 22 Jahren. Er fand den Tod auf die ehrenhafteste Weise, die wir uns vorstellen können – im Kampf für unsere Freiheit, in seiner Uniform, mit dem Heldenorden, den wir ihm gerade erst dankbar an seine junge, hoffnungsvolle Brust geheftet hatten. Sergeant Lydian Perta war also bereits zu Lebzeiten ein Held. Nun, nachdem er auf so heimtückische Weise sein Leben verloren hat, ist er sogar mehr als das. Lydian Perta ist unser aller Vorbild. Er wurde Soldat, wie sein Vater, wie sein älterer Bruder, und wie sein Bruder starb er als Soldat. Seine Familie hat für unsere Freiheit das Kostbarste hingegeben, das eine Familie haben kann, und wir alle sind deshalb seinem Vater und seiner Mutter in diesen schweren Zeiten verpflichtet! Wir dürfen unsere Freiheit, die Freiheit, die für diesen Mann so heilig war, dass er für sie gestorben ist, nun nicht jenen anheimfallen lassen, die sie uns nehmen wollen, jenen, die diesen Mann, den letzten Sohn dieser Familie, grausam, feige und entgegen allen gültigen Regeln dieses Krieges ermordeten. Dass Sergeant Perta an einem vermeintlich sicheren Ort, in einem vermeintlich sicheren Dienststatus aus dem Leben gerissen wurde, zeigt uns, dass unsere Feinde sich nicht mehr an die Regeln halten wollen. Es zeigt uns, dass wir, ja, wir selbst, nachlässig geworden sind, denn wir, und ja, auch ich, wir alle hätten wachsam sein müssen, aber wir waren es nicht. Wir hätten nichts auf das Wort unserer Feinde geben dürfen, aber wir taten es trotzdem, denn wir sind ehrlich, wir sind gut, und wir sind dumm. Dieser Held, der in seinem Sarg mitten unter uns liegt, er mahnt uns, er verpflichtet uns, den Feinden, die sich um uns herum wieder sammeln, die, so wie sie es bei Sergeant Perta getan haben, ohne Rücksicht und ohne Regeln in unserer Mitte zuschlagen, um unsere Widerstandskraft zu erschüttern, er verpflichtet uns, den Feinden vereint die Stirn zu bieten. Nicht so vereint wie ehemals, nicht so vereint wie in diesem Augenblick, sondern so vereint wie nie zuvor! Denn wenn wir es nicht tun, wenn wir noch ein einziges Mal unachtsam sind, werden wir alle untergehen. Regelwidrige Attacken des Feindes aus Thunak gegen unsere Bevölkerung, gegen unsere Familien, rechtschaffene Menschen, wir haben sie zu oft nicht verhindert, aber wir werden sie verhindern. Tollwütige Angriffe aus dem Innern gegen unsere Geschlossenheit, wir haben sie nicht vorhergesehen, aber wir werden sie vorhersehen. Sergeant Lydian Perta wird dieses Land und seine Bevölkerung inspirieren, sein Opfer wird die Volksbewegung einen, unsere Truppen aufrütteln, wird unsere Regierung und ihre Kräfte nicht ruhen lassen, denn