Michael Wäser

Warum der stille Salvatore eine Rede hielt


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auf seinem Motorroller gerade vom zweiten in den dritten Gang. Überraschenderweise stand die Explosion in keinem direkten Zusammenhang mit der bestehenden politischen Situation in Bovnik, sondern bildete den ab einem gewissen Zeitpunkt zwar vorhersehbaren, aber dennoch unerwarteten Höhepunkt einer Kette von Ereignissen, mit denen Salvatore, außer dass sie sein Leben beendeten, nicht das Geringste zu tun hatte.

      Wie an fast jedem Tag war der unscheinbare Mann an diesem Morgen im späten April durch Bovniks Straßen geknattert, hatte sich durch die engen Gassen des Haupthügels der Altstadt geschlängelt, die mit Wein bewachsenen Hänge an deren Rand durchquert und war dann über die Küstenstraße am neuen Hafen vorbei zurück Richtung Stadtzentrum gefahren. Aus der Entfernung war ihm der Schwertransport, der sich auf dem Weg zum zoologischen Institut der Bovniker Universität befand, nicht weiter aufgefallen. Eskortierte Tieflader und Lastwagenkonvois gehörten in dem geschundenen Kleinstaat zum alltäglichen Stadtbild. Erst als er sich den langsam fahrenden Vehikeln näherte und hinter den blauen Blinklichtern der den Zug abschließenden UN-Jeeps ein äußerst ungewöhnliches und auch ungewöhnlich großes Objekt auf der Ladefläche des Sattelzuges entdeckte, wurde seine Neugier geweckt. Er überholte den hinteren Jeep und verlangsamte dann neben dem dunklen, monumentalen Kadaver, um ihn bestaunen zu können, doch die Begleiter des Transporters hupten und schrien ihn an, er solle sich davonmachen und gefälligst weiterfahren. Also beschleunigte er wieder. Er passierte gerade die Mitte des Tieres, als es geschah.

      Mehrere Kubikmeter Blut, Blutgefäße und andere Organe und etwa die Hälfte der einhundertachtzig Meter Darm des Wals stürzten aus dem aufplatzenden Körper und überfluteten die Straße neben dem Sattelschlepper wie die Schlammlawine eines Erdrutschs. Die Innereien, die aus dem toten Wal herausgeschleudert wurden, schienen, so erzählten es Augenzeugen aufgeregt und nach Atem ringend den sich rasch versammelnden Schaulustigen, geradezu nach dem Rollerfahrer gegriffen, ihn vom Sitz geschleudert zu haben, bevor sie ihn unter sich begruben und der Motorroller, nachdem er noch eine kurze Strecke führerlos weitergefahren war, krachend unter ein geparktes Auto rutschte. Der mystifizierende Anflug, der dem ohnehin spektakulären Ereignis auf diese Weise beigemengt wurde, entsprach dem traditionell irrationalen Grundbefinden der meisten Bewohner dieses Landstriches und wurde folglich von niemandem bezweifelt. Stattdessen haftete er von nun an dem Unfallopfer als Legende an. Unmittelbar nach der Explosion herrschte für eine gewisse Zeit völlige Verwirrung. Hatten die Thunakis die Begrenzungsvereinbarung gebrochen und einen zivilen Transport mit unsignierten Granaten angegriffen, natürlich genau am Tag der großen Kundgebung auf dem Platz des Sieges, die am frühen Abend stattfinden sollte? War der Wal vielleicht zum Ziel der Bovniker Untergrundbewegung geworden, die ihn vor dem Nationalfest für einen ihrer geschmacklosen Späße missbrauchte? Weder ein Granatenabschuss noch eine echte Detonation waren zu hören gewesen. Nein, das Tier war offenbar ganz von selbst geplatzt. Letzte Gewissheit brachte der Geruch. Jeder Mensch in Bovnik wusste genau, wie es nach einer Sprengstoffexplosion roch, und nichts roch hier wirklich nach einer Granate. Stattdessen verbreitete sich über der gigantischen Sauerei auf der Straße ein Gemisch aus Gerüchen, das allen Menschen im Umkreis von zweihundert Metern den Atem nahm. Als erstes und flüchtigstes Element attackierten die Verwesungsgase aus dem Bauch des Wals den Geruchssinn der Umstehenden. Diesem folgte der Gestank des verdorbenen Fleisches und der Innereien des Wals, der sich langsamer verbreitete, aber wegen der Windstille an diesem Morgen nicht verflog. Als Drittes dünstete aus den geplatzten Därmen des Kadavers der scharfe, etwas salzige, Übelkeit erregende Geruch halb verdauter Tiefseekalmare. Die Sensibelsten unter den Zuschauern übergaben sich spätestens jetzt, was dem Geruchscocktail weitere unangenehme Noten hinzufügte. Ob es eher der Anblick war, der den Menschen so zusetzte, der Geruch oder beides zusammen, spielte nun keine Rolle mehr. Doch selbst die Hartgesottensten, die gerne mit einem Magen aus Stahl prahlten, wurden auf eine ernste Probe gestellt, als nun der König des Gestanks dem Chaos entstieg: Ambra. Die mehrere Kilogramm schweren, wächsernen Klumpen aus dem Verdauungstrakt des Pottwals schützen die Tiere vor harten, unverdaulichen Überresten ihrer Beute, indem sie z.B. den abgetrennten Schnabel eines Kalmars umschließen, sodass er im Darm des Pottwals keinen Schaden mehr anrichten kann. Die Substanz, die, wenn sie einige Wochen an der Luft trocknen konnte, sehr angenehm riecht und früher zum Grundstoff vieler Parfums gehörte, entwickelt im frischen Zustand einen gänzlich anderen Geruch, den ein deutscher Chemiker einmal mit einem Vergleich zu beschreiben versuchte. Der Geruch von frischem Ambra, schrieb er, habe sich eingestellt, als er einmal eine größere Menge menschlicher Exkremente über längere Zeit in einem Fass verrotten ließ. Der Gestank sei so durchdringend gewesen, dass er das fest verschlossene Gefäß aus dem Labor habe entfernen müssen. Die Wale jagenden Ureinwohner der Polarregionen evakuierten ihre Dörfer, wenn sie mit einem erbeuteten Pottwal zurückkamen und wegen starken Seegangs gezwungen waren, das Tier am Ufer auszuweiden und nicht, wie sonst üblich, schon auf See, so sehr stanken die Gedärme. Dies dürfte erklären, warum sich einige Begleiter des Zuges nur zögernd dazu entschließen konnten, sich einen Weg durch den beinahe mannshohen Haufen aus Blut, Blutgerinnseln und Innereien zu bahnen, der sich mitten auf der Straße über dem unbekannten Rollerfahrer auftürmte. Sie wateten durch das in der kühlen Morgenluft dampfende Geschlinge, wussten sich aber nicht recht zu helfen, zögerten auch, sich durch diese ungeheure Masse aus prall gefüllten Därmen hindurchzuwühlen, in sie einzutauchen, um den Unbekannten, der darunter lag, zu bergen und, wenig wahrscheinlich, zu retten. Denn das hier konnte ein normaler Mensch nicht überlebt haben. Falls doch, würde er ersticken, während die Helfer sich mit bloßen Händen durch die tonnenschweren, blutigen Überreste arbeiteten. Trotz des Gestanks, der sich über der Unglücksstelle nun dauerhaft festgesetzt hatte und das Atmen schon von sich aus fast unmöglich machte, warfen sich ein paar Beherzte in den warmen, blutigen Berg und zerrten mit bloßen Händen die baumdicken, schmierigen Därme zur Seite, minutenlang, sicherlich viel zu lang für den, der dort unten lag.

      Der etwa fünfzehn Meter lange Pottwal war am vorangegangenen Morgen tot am Strand in der Nähe des Hafens angespült, von Arbeitern entdeckt und der Hafenaufsicht gemeldet worden. Ein toter Wal in Bovnik, zumal dieser Größe, stellte ein außergewöhnliches Ereignis dar, und so war schon die Bergung, die äußerst kompliziert und mühsam vonstattenging und vom späten Morgen bis zum späten Abend dauerte, von Hunderten Zuschauern und etlichen Journalisten neugierig verfolgt worden. Zuerst war der Kadaver mithilfe eines Schleppers zu einer befestigten Hafenmole gezogen und dort festgemacht worden, damit ein von den Universitätsmitarbeitern dorthin bestellter mobiler Schwerlastkran den Wal unbeschädigt aus dem Wasser hieven und auf einen Sattelschlepper laden konnte. Die Chance, einen vollständigen, ausgewachsenen Wal in der Universität untersuchen zu können, bot sich den Bovniker Zoologen und Meeresbiologen zum ersten Mal überhaupt. Deshalb bestanden sie darauf, den Wal nicht zu zerteilen und lieber einen zweiten mobilen Kran zu ordern, als sich die ersten Probleme bei der Bergung zeigten. Sie schätzten das Tier nun auf 35 Tonnen und mussten zugeben, dass ein Wal im Wasser eindeutig leichter zu bewegen war als in der Luft. Der erste Kran brachte den mächtigen Kadaver alleine nicht aus dem Hafenbecken und drohte, selbst hineinzustürzen, weil ihn das enorme Gewicht des toten Tieres zum Kippen brachte. So mussten die Beteiligten und Unbeteiligten beinahe zwei Stunden auf den zweiten Kran warten. Sie unterhielten sich, ob sie nun Biologen waren oder nicht, lebhaft über Sinn und Unsinn der Bergung, über die einzig richtige und die vielen falschen Methoden dafür, über die jüngste Provokation der thunakischen Feinde und den schönen, sonnigen Vormittag. Eine übernatürliche Angelegenheit mochten die Bovniker zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus dem Vorfall machen, dazu sah der Wal einfach zu erbärmlich aus, fast so erbärmlich wie der erste Versuch, das viel zu schwere Tier aus dem Wasser zu befördern. Der gigantische Meeresbewohner war zwar aufsehenerregend, aber ansonsten einfach nur tot. Er wies, soweit man sehen konnte, keine frischen Verletzungen auf, die wenigstens auf einen dramatischen Kampf hingedeutet hätten, einen Kampf, den das Tier in der Tiefsee mit einem Riesenkalmar geführt haben könnte. Nein, dieser Wal war offenbar einfach so verstorben und tot an Land gespült worden. Wie alt mochte er sein? Wüste Spekulationen machten die Runde, man überbot sich mit Schätzungen, denn diese Wale, das hatte man ja gehört, wurden manchmal über zweihundert Jahre alt. Dieser hier, wenn er an Altersschwäche gestorben war, konnte also durchaus am Anfang des 19. Jahrhunderts geboren worden sein. Vielleicht hatte er schon früh Bekanntschaft mit Waljägern in kleinen Ruderbooten gemacht, war unter den großen Ozeanlinern, vielleicht gar unter der Titanic hindurchgetaucht,