Michael Wäser

Warum der stille Salvatore eine Rede hielt


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offensichtlich beiseite wischen. Unsere Freiheit steht auf dem Spiel. Und deswegen schwören wir im Angesicht des Feindes, der uns wieder feige überfallen will, der nur auf die nächste Gelegenheit wartet, und im Angesicht dieses jungen, toten Helden: Lydian Perta, wir werden wachsam sein! Lydian Perta, wir werden standhaft sein! Lydian Perta, wir werden frei sein!“

      Wie in Bovnik üblich, zeigte niemand im Dom oder außerhalb des Gebäudes wirkliche Trauer. Bovniker lebten, wenn man das „Leben“ nennen wollte, hinter einer grimmigen, engstirnigen Maske, die allerdings ihrer Lebensweise so sehr entsprach, dass sie eigentlich gar keine Maske mehr war. Ihre Verbissenheit hatte sich in den Kriegsjahren zu ihrer sozialen Identität entwickelt, zum beinahe ausschließlichen verbindenden Faktor ihres Sozialwesens. Dass der Verteidigungsminister seine Trauerrede dafür instrumentalisierte, die Bovniker und die internationale Presse auf eine Eskalation des Krieges einzustimmen, erzeugte nicht nur keine Verwunderung, es wurde, wenn nicht erwartet, so doch ausdrücklich gutgeheißen und am Ende lautstark unterstützt. Dass man sich in einem sakralen Gebäude befand, machte weder für die Kirche einen Unterschied, die sich über jedes Großereignis in ihrem Dom freute, noch für die Besucher der Trauerfeier, die den Kirchenbesuch als Fortsetzung ihres Patriotismus mit anderen Mitteln ansahen. Die Versammelten erhoben sich daher ohne zu Zögern und skandierten „WE KNOW! WE KNOW! WE KNOW!“ Auch Pertas Eltern, typische Bovniker und somit engstirnig und mitleidlos, Pertas Eltern, deren Sohn ein größerer Held geworden war als sein Bruder, der größte Held gar, den Bovnik seit Langem hervorgebracht hatte, standen fest und riefen laut. Sie riefen, erfüllt von Stolz und erleichtert darüber, dass Lydian nicht ruhm- und nutzlos abgetreten war, wie sie es immer befürchtet hatten. Auch Pertas Schwester Dulce schrie laut „WE KNOW!“ genau in die Kameras der Fernsehteams hinein, schrie überwältigt von der Genugtuung, dass ihre Rache nah war, denn sie spürte, sie war nah. Sie würden es den Thunakis zeigen, sie würden es den Terroristen zeigen, oder sie würden, wenn die Warnungen des Ministers zutrafen, draufgehen so wie Lydian. Und wenn alle draufgingen! Erst die Thunakis und die Terroristen, dann Bovnik selbst. Das wäre besser, als so weiterzumachen wie zuletzt. Monate, nein, fast ein halbes Jahr, nachdem dieser seltsame Kerl Salvatore Krig die Wal-Explosion überlebt und seitdem das ganze Land geschwächt und irre gemacht hatte und nun drohte, es vollends in eine Kinderkirmes übergewichtiger Schwachköpfe zu verwandeln, sah sie endlich Licht am Ende des Tunnels. Eigentlich hatte der Kerl es gut gemacht. Krig hatte die Bovniker von sich selbst entfernt, Lydian, ihr Bruder Lydian sie wieder geeint. Und jetzt sahen sie, wo sie standen und wer sie eigentlich waren. Jetzt konnte die junge Kriegswitwe wieder aus ganzer Kraft mitschreien. Vereint würden sie auf den Weg zurückfinden. WE KNOW! Dachten die anderen Schreier anders darüber? Nein. Sie wussten, worum es ging. Seit Langem freute sich Dulce wieder auf die Zukunft. Sie schaute neben sich. Dort stand Heija, ihre kleine Schwester. Dulce erkannte sie kaum wieder. Heija war seit ihren ersten Bombardements ein außergewöhnlich schüchternes Mädchen gewesen und die Medikamente hatten sie nur noch unauffälliger und stiller gemacht. Nun aber schien sie es geschafft zu haben. Das Panzerherz, es schlug jetzt auch in Heijas Brust. Die schmächtige Zehnjährige schrie so laut, dass ihr die Adern aus den Schläfen traten und sich um ihre schmalen Lippen herum Schaum ansammelte. Deutlich konnte man ihr ansehen, dass auch sie den Krieg in sich willkommen geheißen hatte und wünschte, er möge niemals enden. Sie schrie und sah so glücklich aus, wie Dulce sie noch nie erlebt hatte. In der Tat, dieses Kind Bovniks und des Krieges, nach langen Jahren, die es selbst, die seine Familie und sein ganzes Land in demütigender Agonie verbracht hatten, es war nun endlich ein glückliches Kind.

      Ein einfacher Mann

      Über den Mann, der nach dem aufsehenerregenden „Verkehrsunfall mit Pottwal“, wie es fortan hieß, in die Notaufnahme des Bovniker Universitätsklinikums eingeliefert worden war, konnten die örtlichen Reporter anfangs nicht mehr herausfinden als seinen Namen und seine Adresse. Das frustrierte sie immens, denn Salvatore Krig führte anscheinend alles andere als ein aufsehenerregendes Leben. Wenn sie endlich jemanden in seiner Nachbarschaft aufgestöbert hatten, der Salvatore mehr als einmal, ja vielleicht sogar wiederholt begegnet war, so konnte die Person nicht mehr über ihn berichten, als dass er, ein „einfacher Mann“, dort wohne, regelmäßig mit seinem Motorroller unterwegs sei und ansonsten nicht weiter in Erscheinung trete. Eine Arbeitsstelle konnte nicht ausgemacht werden, Verwandte, Kollegen oder Freunde schienen überhaupt nicht vorhanden zu sein, nirgends, kein Einziger. Es gab in Bovnik keine weiteren Zeichen seiner Existenz, jedenfalls keine, die ohne tief gehende Recherchen auf die Schnelle nutzbar gemacht werden konnten (und es sollten auch später keine gefunden werden). So kam es, dass er als „Der Mann, der von einem toten Wal angegriffen wurde“ in den ersten Zeitungsschlagzeilen und Radionachrichten auftauchte und dieser Etikettierung im Folgenden auch nichts, jedenfalls nichts Wahrheitsgemäßes, hinzugefügt wurde. Salvatores an Nichtexistenz grenzende Lebensführung, welche die Presse zu Beginn noch ratlos machte, erwies sich aber sehr bald als Glücksfall, denn nun konnten die absurdesten Spekulationen ungehindert verbreitet werden, erzeugten unentwegt und ganz aus sich heraus neue Gerüchte, neue „Insiderinformationen“, neue Nachrichten „aus sicherer Quelle“, ohne jemals auf die möglicherweise ernüchternde Realität treffen zu müssen. Zeitungen überboten sich gegenseitig mit Exklusivmeldungen und verkauften sich prächtig, das Fernsehen zahlte für Interviews mit „geheimen Geliebten des Wal-Mannes“ hohe Summen. Begünstigt wurde das ungehemmte Wuchern der Fantasien um Salvatore auch dadurch, dass sich das Objekt der öffentlichen Begierde nach dem Vorkommnis mit dem Pottwal eine ganze Weile nicht zu den Spinnereien äußern konnte. Sofort nach seiner Einlieferung in die Bovniker Klinik war Salvatore nämlich operiert und anschließend in ein künstliches Koma versetzt worden, um seinen Heilungsprozess nicht zu gefährden und ihm die Schmerzen zu ersparen, die seine schweren Verletzungen mit sich brachten. Zehn Tage lang erfuhr die Öffentlichkeit nichts über ihn, was nicht komplett erfunden war. Mit anderen Worten: Über das wahlweise geheimnisvolle, einsame, kriminelle, tragische, wohltätige oder auch ausschweifende Leben, das Salvatore nicht geführt hatte, wusste zehn Tage nach seinem Unfall jeder Tellerwäscher in Bovnik besser Bescheid als Salvatore selbst.

      Salvatores wirkliche Geschichte hätte er der Presse genauso wenig erzählt, wie er sie bisher irgendjemandem erzählt hatte. Die Unkenntnis seiner Nachbarn über ihn rührte allerdings nicht unbedingt daher, dass er etwas vor ihnen verborgen hätte. Sie hatten den schweigsamen, wenig geselligen Mann einfach nie gefragt und er hatte seine persönlichen Lebensumstände, seine Herkunft oder auch seine Meinung zu alltäglichen oder bedeutenderen Themen noch nie für wichtig genug erachtet, sie mit anderen zu teilen oder zu diskutieren. Diejenigen, die im selben Hause wohnten, waren bis auf eine Person erst dort eingezogen, als Salvatore bereits dort lebte. Der brutale Krieg der ersten Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung hatte viele, auch zivile Opfer gefordert und zusammen mit der Vertreibung der thunakischen Minderheit ganze Stadtbezirke entvölkert oder neu besiedelt. Das Mietshaus, in dem Salvatore eine kleine Wohnung im ersten Stock bewohnte, stammte allerdings noch aus der Zeit des „ersten Wiederaufbaus“ nach dem letzten großen Krieg und hatte den Krieg gegen Thunak fast unbeschadet überstanden. Ein halbwegs moderner, zweckmäßiger Bau mit einer fast luxuriös erscheinenden kleinen Eingangshalle mit weißen, angestoßenen Wänden und einem Boden aus echtem Marmor, der sich auch als Umrandung des Fahrstuhleingangs und in Gestalt der massiven Treppenstufen wiederfand. Auch die schwarz lackierten, stählernen Treppengeländer mit Knöpfen aus Messing hatten ihre Anmutung gehobenen Stils nicht so rasch verloren wie die mittlerweile verrosteten, verbogenen oder wurmstichigen Gestelle in vielen anderen, älteren oder stark beschädigten besseren Häusern der Stadt. Dies war kein Haus, in dem Mittellose wohnten. Es gehörte zwar nicht zu Bovniks gehobener Gegend, aber wer hier eine Wohnung besaß, musste sich ihrer gewiss nicht schämen. Salvatore besaß seine Wohnung, seit er sie als junger Mann von geerbtem Geld gekauft hatte. Dieser Besitz und das restliche geerbte Vermögen hatten es ihm ermöglicht, so zu leben, wie er es bis zu seinem Unfall getan hatte. Er arbeitete nicht, musste kein Geld verdienen und lebte dennoch sehr bescheiden. Er unternahm keine Reisen, veranstaltete keine Partys, hatte keinen Damenbesuch oder sonst irgendeine Bekanntschaft. Wenn er einkaufen ging, verhielt er sich stets so höflich, wie es die Umstände und die grimmigen Bovniker Kaufleute für angemessen erscheinen ließen, sprach nur das Notwendigste und kehrte wieder in sein Heim zurück. Dort hatte