Michael Wäser

Warum der stille Salvatore eine Rede hielt


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die heiße Glühbirne ganz dicht vor seinen Augen und schüttelte sie vorsichtig am Ohr seiner Mutter – denn er trug ja die Ohrhörer – damit sie prüfen konnte, ob das kostbare Stück noch in Ordnung war. Ola nickte, noch immer sprachlos. Jan drehte die Glühbirne zurück in die Fassung und widmete sich im Licht der geretteten Birne wieder dem Fernsehprogramm, welches den ganzen Abend schon über Veras Werk berichtete, das von offizieller Seite als „hinterhältiger, aber wirkungsloser Giftanschlag auf die Bovniker Bevölkerung und ihre Anführer“ bezeichnet wurde. Die Moderatoren und die Regierung riefen zur Mitwirkung bei der „Jagd auf die feigen Terroristen“ auf. (Über eine überzogene Darstellung ihrer gewaltlosen Aktionen und die möglichen Auswirkungen auf das Verhalten der Regierung gegenüber AR würde Vera noch einmal mit Mikos zu reden haben, dachte sie.) Es roch nach verbrannter Haut. Das Kind klatschte vor Begeisterung in die Hände. Und wieder staunte die Familie. Zum ersten Mal tat es etwas anderes als dasitzen, essen oder trinken, seit es vor Wochen einfach hereinspaziert und, weil es so hungrig ausgesehen hatte, zum Abendessen eingeladen worden war, worauf es seitdem jeden Abend erschien und nach dem Essen wieder ging. Es lächelte zwar nicht – das wäre den Kiljans geradezu als Wunder vorgekommen, denn es hatte noch niemals gelächelt – aber es applaudierte. Nachdem es applaudiert hatte, saß es wieder so still da wie sonst. Es saß da, auf seinem Stuhl vor der Tischtennisplatte, die das Einschussloch der Granate aus Zeiten der alten Kriegführung nur teilweise verschloss, und hinter der die Sonne auf den Horizont aus Wohnblöcken wie diesem hinabzusinken begann.

      Sica

      Das einzige Tröstliche, das Mme. Eloise Altimer der Situation in Bovnik an diesem Abend abgewinnen mochte, war, dass sie auf die Sensationslust der Bovniker vertrauen konnte. Sie würden die ungeheure Demütigung, welche der Regierung gerade widerfahren war und nach den Maßstäben der einfach gestrickten Bovniker durchaus eine Sensation darstellte, bald vergessen, weil am selben Tag ein Wal explodiert war. Ein solches Ereignis erregte in Bovnik mittlerweile weitaus mehr Aufsehen und ereignete sich vor allem sehr viel seltener als das öffentliche Lächerlichmachen von Repräsentanten des Staates durch die Chaoten. Doch auch wenn die Bovniker Bevölkerung die Verhöhnung ihrer Regierung alles andere als billigte, sondern sich (nachdem sie sich in zunehmend beunruhigendem Maße darüber amüsiert hatte) im Gegenteil jedes Mal selbst angegriffen und verhöhnt fühlte, hatte die Chefin des Bovniker Geheimdienstes keinen Grund, diese Attacken auf die leichte Schulter zu nehmen. Denn es war ihr Job, genau die Art von Vorkommnis zu verhindern, welches sich heute Abend schon wieder zugetragen und bereits einer ganzen Reihe von Amtsvorgängern ihre Stellung gekostet hatte, und nicht nur die. Nein, weitaus mehr als das! Sie war lange genug im Geschäft, um zu wissen, wie hoch sie ihren Kredit anzusetzen hatte und dass sie einen, maximal zwei Lakaien in den Abgrund stoßen konnte, bevor sie selbst an der Reihe war – wenn sie nicht bald einen Erfolg vorweisen konnte. Ein Erfolg bedeutete die Erweiterung – oder zumindest die Aufrechterhaltung – ihres Kredits, eine Verhaftung bewahrte oder vergrößerte den Sicherheitsabstand zwischen ihr und dem Abgrund, eventuell auch die Anzahl von Lakaien, die nach den nächsten Vorkommnissen vor ihr würden dran glauben müssen. Ein Ereignis wie das heutige allerdings kam einem Erdrutsch gleich, ließ den Boden zwischen ihr und der Abbruchkante auf einen Schlag abbröckeln. Mit der Instrumentalisierung und Beeinflussung des Bodens kannte sich Mme. Altimer eigentlich bestens aus. In der ganzen Bovniker Führungsebene gab es niemanden, der diese Technik der Existenzsicherung besser beherrschte als sie. Schon in ihrem ersten Verwaltungsjob nach dem Studium hatte sie bemerkt, wie ungemein wirkungsvoll es war, Konkurrenten und Untergebenen den festen Boden unter den Füßen zu nehmen, wenn sie zu kritisch wurden oder nach ihrem Posten griffen. Sie nutzte jede sich bietende Gelegenheit, und ein gewisses Maß an Macht erleichterte dieses Vorgehen, ihre Kollegen und Untergebenen zu verwirren, ihnen die Orientierung zu rauben, ihnen unterschiedliche, oft auch widersprüchliche Informationen, unmögliche Aufgaben zu geben und dabei zuzusehen, wie sie immer verzweifelter versuchten, damit irgendwie zurecht zu kommen, um nicht wie Trottel dazustehen. Sie perfektionierte diese Technik bald derart, dass sie den Boden um sich herum bei Bedarf geradezu verflüssigen konnte. Da es in Bovnik sehr häufig zu kleineren Erdbeben kam, kannte Mme. Altimer die Verunsicherung, die ein schwankender, rüttelnder oder zitternder Boden auslösen konnte, nur zu gut und nutzte sie als Inspiration für ihre eigene Existenzsicherung. Wie ein Erbeben die Sandkörner in der Erde löste sie die Verbindungen zwischen den Bestandteilen dessen, was ihr personales Umfeld zusammenhielt. Wo ihre Mitarbeiter eben noch glaubten, sicher stehen und agieren zu können, verloren sie plötzlich ihr Vertrauen, ihre Gewissheiten, vor allem aber: die Berechenbarkeit ihrer Situation, der Entscheidungen und der Beziehungen um sie herum – insbesondere der zu Altimer, aber nicht nur dieser. Verunsichert, schwankende Häuser, die im verflüssigten Boden zu versinken drohten, waren sie nur noch damit beschäftigt, ihren eigenen Untergang zu verhindern, während Altimer in aller Seelenruhe ihre Karriere vorantrieb. Freilich – diese Methode nützte vor allem bei Gleichrangigen oder Untergebenen ersten Grades. Bei Sesselfurzern wie dem Agenten hier vor ihrem Schreibtisch wäre sie übertrieben gewesen. Ihn konnte sie bei Bedarf ganz direkt ins Aus befördern, auch wenn sie schon absehen konnte, demnächst selbst zum Rapport beim Regierungschef bestellt zu werden. Das war nur noch eine Frage von Minuten, allerhöchstens von Stunden. Der Kerl schien auch die Sekunden zu zählen, die ihm noch blieben, denn er schaute unentwegt verstohlen auf seine Armbanduhr. Eine von den Dingern, die sich in der Behörde und im ganzen Regierungsapparat wie eine ansteckende Krankheit ausbreiteten: für den Rang und die Bedeutung ihres Trägers mindestens eine Gehaltsklasse zu kostspielig. Nutzen würde ihm seine teure Zwiebel jetzt auch nichts mehr.

      Sie selbst hatte immerhin so eben noch festen Grund unter den Füßen, aber Sica, der Lakai, der ihr gerade gegenüberstand, hier in ihrem Büro, dieser Lakai ruderte am Abgrund bereits unübersehbar mit den Armen, in der verständlichen, aber im wahrsten Sinne des Wortes unbegründeten Hoffnung, er werde noch irgendwo Halt finden oder sie – man denke! – sie selbst werde ihm ihre Hand zur Rettung ausstrecken. Der Mann war erledigt, er wollte es hinter seiner altmodischen, schweren Brille nur noch nicht wahrhaben. Sein Nachrücker stand schon bereit, direkt neben ihm und um einiges jünger und unverbrauchter als er. Dieser athletische, attraktive Agent, wusste er, dass er der letzte Puffer zwischen seiner Dienstherrin und dem Abgrund war, sobald er an die Stelle dieses erbärmlichen Verlierers träte, der vor dem Schreibtisch stand und versuchte, Mme. Altimer einen Jauchelaster als Sportwagen zu verkaufen? Sie spielte scheinbar abwesend mit den beeindruckend großen und schimmernden Perlen an ihrer Halskette, beobachtete den älteren Lakaien dabei, wie er in der Duftwolke ihres italienischen Parfums und ihres französischen Haarsprays nach Luft rang, während sich der Junge in gesundem Abstand hielt. Gut, dachte sie, er konnte sich das momentan noch leisten und es so aussehen lassen, als sei er höflich, sich seines niedrigeren Ranges bewusst und vielleicht sogar zurückhaltend. Dumm war er also nicht. Bei ihm würde es ihr nicht so leicht fallen, ihn abstürzen zu sehen. Nicht so leicht wie es ihr jetzt fallen würde, dem schwitzenden, nach Atem japsenden Kerl vor ihrem Schreibtisch den finalen Tritt zu verpassen, sobald sie seinen Bericht zu Ende gehört und ihn gezwungen haben würde, jede schmerzhafte und demütigende Einzelheit absolut unnötigerweise noch einmal vor seinem jungen Kollegen zu wiederholen.

      „Nur noch einmal, um mir die Situation besser vorstellen zu können, Sica: Wie viele Menschen befanden sich heute Abend auf dem Platz des Sieges – abgesehen von den Spitzen unseres Staates und unserer Unterhaltungsindustrie, den Vertretern der Presse, mehrerer Fernsehteams und den Lackaffen von der UN?“, fragte sie und klang beinahe, als habe sie wirklich noch nicht verstanden.

      „Rund neuntausend.“

      „Davon Sicherheitskräfte?“

      Sica räusperte sich. „Knapp dreitausend.“ Sica sah verstohlen auf seine Armbanduhr.

      Altimer nickte, als habe sie nun verstanden. „Und niemand von diesen sechstausend Bürgern und dreitausend Staatsbeamten der Sicherheits- und Polizeibehörden hat gesehen, woher dieses Ding … dieses …“

      „Frisbee“, sprang Lensky, der junge Agent, Mme. Altimer bei.

      „… woher dieses Frisbee geflogen kam.“

      „Nein, Mme. Altimer, niemand. Es kam einfach um ein Haus herum geflogen. Soviel