Marc Wulfers

Obscurus


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eins: Das Foto

      Ich erhielt das Foto am 16. Dezember 2002. Es war Montag und die Woche vor Weihnachten. Zwar hatte ich kaum Geschenke zu besorgen und blieb von den hektischen Einkäufen verschont, aber dennoch steckte mich das typisch hysterische Verhalten der Leute kurz vor Weihnachten an.

      Ich arbeitete in der Stadtbibliothek von Meltray. Ich war kein Bibliothekar, aber dank Mary Stoleham arbeitete ich seit knapp einem Jahr dort, und so wie es damals aussah, würde ich das auch noch eine Weile tun.

      An jenem Morgen war ich zu spät zur Arbeit gekommen. Das hatte den Grund, dass mein Kater (der auf den Namen Igor hörte) irgendetwas mit dem Magen hatte und in der Nacht in sämtliche Ecken meiner Wohnung gekotzt hatte. Auch auf meinem Bettvorleger lag ein schöner Haufen, in den ich fast getreten wäre, als ich schlaftrunken meine Beine aus dem Bett schwang. Also musste ich meine Morgenplanung verwerfen und machte erst einmal die ganze Schweinerei weg. Als ich zur Bibliothek kam, war es nach acht Uhr (normalerweise öffneten wir um acht Uhr). Der kleine Parkplatz vor dem Gebäude war leer, die Lichter hinter den Fenstern brannten nicht und eine kleine Menge wütender Menschen drängte sich am Eingang. Dazu kam noch, dass es schneite, und das schien die Laune der Meute nicht gerade zu bessern. Ich ging auf den Eingang zu und wappnete mich gegen ihre Angriffe. Die meisten Leute kannte ich. Da war Mr. Veltore, der pensionierte Grundschullehrer, in einen dicken braunen Mantel gehüllt, sein kahler Kopf glühte rot, so dass er aussah wie eine kleine, etwas unförmige Stehlampe. Er musterte mich durch seine Hornbrille, als ich näher kam. Er brauchte nichts zu sagen, ich konnte in seinen Augen lesen, was er dachte. Typisch, einfach typisch! Ich friere mir hier den Hintern ab und der Kerl traut sich auch noch, in aller Seelenruhe herüberzuschlendern, als hätte er seinen Spaß daran. Nun, Veltore kannte mich schon seit der Grundschule und seine Meinung von mir war noch nie besonders hoch gewesen.

      Ich sah Rita Marlowe, die sich mit einer Frau unterhielt, die ich nicht kannte. Etwas abseits stand ein Junge mit einem Rucksack, der rauchte. Das war Benny Smith, der vermutlich noch seine Hausaufgaben machen musste, bevor er zur Schule ging. Das heißt, eigentlich machte ich seine Hausaufgaben. Er ging in die neunte Klasse, war nicht gerade eine Leuchte, aber ansonsten ganz in Ordnung. Wir hatten eine Abmachung: Ich half ihm bei den Hausaufgaben, lernte mit ihm, damit er die neunte Klasse irgendwie schaffte, und er gab mir jede Woche ein Päckchen Zigaretten dafür. Als er mich sah, hob er eine Hand und winkte halbherzig. Ich winkte zurück. Es standen noch ein halbes Dutzend andere Leute vor dem Eingang und auf den letzten paar Metern zu ihnen legte ich mir die Worte zurecht, die ich sagen würde, bevor sie mir ihre Vorwürfe entgegen brachten.

      Mr. Veltore wollte seine Fistelstimme gerade erheben, als ich laut und an alle gewandt sagte: „Entschuldigen Sie bitte, dass wir heute später öffnen. Ich werde Sie in Kürze hereinlassen. Nur noch einen Moment Geduld.“ Ich wartete ihre Fragen nicht ab, sondern kramte den Schlüssel aus meiner Jackentasche, schloss die Haupttür auf und schlug sie hinter mir wieder zu. Von draußen vernahm ich empörtes Gemurmel, aber das war mir einerlei. Zuerst musste ich herausbekommen, was eigentlich los war. Wo waren Martha Timbey und Claudia Hertz, die sonst die Pünktlichkeit in Person waren?

      Ich tastete nach dem Lichtschalter neben der Tür und einen Augenblick später wurde die kleine Eingangshalle von gelbem Licht erhellt, das die billige Kopie eines Lüsters spendete, der in der Mitte der Decke hing. Die Wände waren normalerweise weiß, aber jetzt mit Weihnachtsschmuck behangen: mit lustigen Pappweihnachtsmännern, Rentieren, Schneemännern etc. Ich fand, es sah grauenhaft aus. Aber Martha Timbey bestand nun einmal darauf; wie ein Betrunkener darauf besteht, noch ein Glas Bier zu bekommen, obwohl er es kaum noch halten kann und klar ist, dass er es fallen lassen wird. So sahen auch die Wandbilder aus, die ich gebastelt hatte. Nächstes Jahr würden andere an den Wänden hängen, da war ich mir sicher. In der Mitte der Halle stand ein künstlicher kleiner Weihnachtsbaum, mit Lametta und silbernen und goldenen Weihnachtskugeln behangen. Ebenfalls schrecklich. Ich hätte ihn fast umgerannt, als ich schnellen Schrittes durch die Halle ging und in die Betrachtung der Wände versunken war. Ich erklomm die drei Stufen, die zum eigentlichen Eingang der Bibliothek führten, und schloss die zweiflüglige Eichenholztür auf. Sie führte in den großen Saal, der gewissermaßen das Herz der Bibliothek war. Ich machte auch hier das Licht an und ließ meinen Blick obligatorisch durch den Raum gleiten. Es schien alles in Ordnung zu sein. Bücherregale liefen etwa fünfzehn Meter in Reih und Glied durch den Raum, einen Gang in der Mitte lassend. Davor standen ein paar Tische mit Stühlen. Und davor der Tresen, mit Computer, Telefon und Karteikarten.

      Die Bibliothek war ein zweistöckiges Gebäude, grau verputzt und keine Schönheit. Hier unten war der öffentliche Teil und oben das Magazin und Räume für die Mitarbeiter. Eigentlich hatten wir einen recht großen Bestand, aber wenn man bedachte, dass dies die einzige Bibliothek in ganz Meltray war, war der Bestand doch nicht so gigantisch.

      Ich brauchte nicht nachzusehen, ob Mrs. Timbey und Claudia oben waren. Erstens, weil ich wusste, dass sie nicht da waren, und zweitens, weil das Telefon am Tresen mich aus meinen Gedanken aufschreckte. Ich ging hinüber und meldete mich förmlich, wie immer, auch wenn ich schon wusste, wer am Apparat war, noch bevor ich abnahm. „Stadtbibliothek Meltray, Thomas Holden am Apparat, was kann ich für Sie tun?“

      „Guten Morgen, Mr. Holden“, sagte eine rauchige und verkratzte Stimme. Es war Martha Timbey. „Mr. Holden, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Ich bin krank und kann heute nicht kommen. Herbert hat die Grippe und ich habe mich wohl bei ihm angesteckt.“

      „Das tut mir leid, Mrs. Timbey.“

      „Wie dem auch sei. Ich weiß nicht, wann ich wieder da sein werde. Der Arzt hat mir geraten, im Bett zu bleiben. Und in meinem Alter, Sie wissen ja... Glauben Sie, dass Sie und Claudia ein paar Tage ohne mich auskommen werden?“

      „Ja, natürlich. Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Timbey“, sagte ich.

      „Vielleicht bin ich zur Weihnachtsfeier am Donnerstag wieder da. Falls nicht, Claudia weiß, was zu tun ist.“

      „Wir werden das schon machen. Das Wichtigste ist, dass Sie sich erst einmal ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Alles andere bekommen wir schon hin.“

      „Na gut“, sagte sie, nicht ohne die Spur eines Zweifels in der Stimme. Mrs. Timbey war eine alte, etwas schrullige Frau und außerdem die Leiterin der Bibliothek und das seit etwa drei Millionen Jahren. Sie achtete immer darauf, dass alles so lief, wie sie es wollte. Selbst, wenn es sich nur um eine kleine Weihnachtsfeier für ein paar Kinder handelte, musste alles perfekt sein.

      „Ich wünsche Ihnen gute Besserung, Mrs. Timbey. Und machen Sie sich keine Sorgen.“

      Wir verabschiedeten uns und ich legte auf. Dann schaltete ich den Computer an und suchte im Leserverzeichnis die Nummer von Claudia heraus. Aber nach dem zehnten Klingeln legte ich den Hörer wieder auf die Gabel. Im Moment musste ich den Laden alleine schmeißen.

      Ich ging ins obere Stockwerk, in unser kleines Büro, drehte die Heizung auf, hängte meine Jacke an den Haken und legte die Tüte, in der mein Frühstück und Mittagessen verstaut waren, auf meinem Schreibtisch ab. Sehnsüchtig sah ich zur Kaffeemaschine hinüber, die auf einem kleinen Abstelltisch stand. Ich hätte dringend noch einen Kaffee gebraucht und außerdem noch eine Zigarette. Aber es ging nicht, ich musste die Meute einlassen, die sich unten gegen die Haupttür drängte. Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mir trotzdem in aller Ruhe einen Kaffee zu kochen, nur damit sich Mr. Veltore noch mehr ärgern konnte, weil er sich seinen kleinen pummeligen Arsch abfror. Aber ich dachte an Benny Smith, der um neun in der Schule sein musste. Es war zwanzig nach acht.

      Ich ging nach unten und ließ die Meute ein.

      Etwa um halb zehn war es in der Bibliothek wieder ruhig. Ich saß am Tresen, vor mir eine Tasse Kaffee, und las im National Geographic einen Artikel über die Urvölker Lateinamerikas. Eigentlich war es verboten, innerhalb der Bibliothek zu essen oder zu trinken, aber nachdem ich schon Mr. Veltore hatte ertragen müssen, der sich mal wieder vollkommen daneben benommen hatte, war mir das völlig egal. Den Kaffee hatte ich mir verdient und Martha Timbey war schließlich nicht da. Claudia auch noch nicht, was das betraf. Ich betrachtete zum hundertsten Mal den Spruch,