Marc Wulfers

Obscurus


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mich von Claudia verabschiedete, war ich guter Stimmung. Das änderte sich schlagartig, als ich auf dem Heimweg merkte, dass ich verfolgt wurde.

      Ich entfernte mich von der Bibliothek, überquerte die Dixon Street (auf der der übliche Feierabendverkehr dahinrollte) und ging durch das gusseiserne Eingangstor in den Stadtpark hinein. Mittlerweile hatte es wieder zu schneien begonnen und ein rauer Wind blies mir Schneeflocken ins Gesicht, die sich wie kleine spitze Nadeln anfühlten. Über den weiten Rasenflächen des Parks lag eine noch dünne Schneeschicht, die aussah wie Puderzucker auf einem Kuchen.

      Ich zog die Schultern etwas nach oben und lief mit gesenktem Kopf den Hauptweg entlang. Nach einiger Zeit war der Verkehr der Dixon Street verstummt und nur der eisige Wind schnitt an meinen Ohren entlang. Der Park war menschenleer. Ich blickte nach vorne. Der Hauptweg war eine Art Allee, beiderseits des Weges mit Kastanien bestanden, die im Sommer prachtvoll grün und im Herbst geheimnisvoll vielfarbig waren. Jetzt kam es mir fast so vor, als stünden übergroße Gerippe mir Spalier, die mit knochigen Armen nach mir griffen, wenn der Wind sie durchfuhr.

      In regelmäßigen Abständen kam ich an den Lichtkreisen der Laternen vorbei und zählte unbewusst jede einzelne, während ich im Geiste bei Mary Stoleham weilte. Als ich die zwölfte Laterne gerade hinter mir gelassen hatte, glaubte ich, hinter mir ein Husten zu hören und fuhr zusammen. Ich unterdrückte den Drang, mich wie ein verängstigtes Reh umzublicken, und beschleunigte stattdessen meinen Schritt. Mein Herz tat dasselbe. Als das zweite Mal das Husten hinter mir ertönte, rau und irgendwie unnatürlich, als käme es nicht von einem Menschen, sondern von einem tollwütigen Tier, verspürte ich den Drang, einfach loszustürmen und wegzulaufen. Ich kann nicht erklären, warum ich diese irrationale Angst verspürte. Schließlich wäre es ja vermessen gewesen, anzunehmen, dass ich der einzige Mensch war, der den Weg durch den Stadtpark nahm.

      Statt wegzulaufen, wie ein kleines Kind, blieb ich im Lichtkegel der nächsten Laterne stehen und drehte mich um. Ich sah nichts. Im Abschnitt zwischen dieser und der vorigen Laterne lag ein Reich aus Dunkelheit und Schatten. Der Wind, der Schneeflocken durch die Luft wirbelte, machte das Erkennen auch nicht einfacher. Adrenalin durchfuhr meinen Körper und ich geriet einen Moment lang in Panik. Der Augenblick ging vorüber und ich lief, ohne, dass ich es bewusst gewollt hätte, langsam den Weg zurück. Ich kam ins Halbdunkel zwischen den Laternen und fühlte mich dort seltsamerweise ein wenig sicherer. Das heißt, bis ich die Spuren sah. Spuren von großen Schuhen, die direkt neben meinen verliefen, deren Größe sich dagegen wie die eines Zwerges ausnahm. Ich hatte das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ich blickte mich hastig um, sah aber nur die kahlen Kastanien und die Rasenflächen, die sich ins Dunkel zogen. Wenn mich tatsächlich jemand verfolgte, so hatte er keine Möglichkeit, sich schnell irgendwo zu verstecken. Außer natürlich hinter den Stämmen der kahlen Bäume.

      Ich spielte für einen Moment mit dem Gedanken, einfach umzukehren und zur Dixon Street zurückzulaufen. Aber dann fiel mir noch etwas anderes ein. Vielleicht erlaubte sich irgendein Witzbold auch nur einen Scherz mit mir. Wenn ich zurück rannte, wäre ich dem Arsch auf den Leim gegangen. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass das nicht stimmte, aber der Gedanke half mir irgendwie.

      Ich setzte mich wieder in Bewegung und zwang mich dazu, nicht zu schnell zu laufen. Dabei warf ich verstohlene Seitenblicke zu jedem Baum, an dem ich vorbeikam und zählte weiter unbewusst die Laternen. Das Gefühl des Beobachtetwerdens nahm nicht ab, aber das Husten ertönte nicht mehr und ich sah auch nichts. Ich dachte schon, ich hätte mir alles nur eingebildet, als ich an Laterne neunzehn plötzlich wieder die Fußspuren sah. Sie begannen einfach im Nichts. Ich lief, trotz der Panik, die wieder in mir aufkeimte, ruhig weiter und wandte meinen Blick stur geradeaus. Durch die Schneeflocken, die mir der kalte Wind ins Gesicht trieb, musste ich fast ununterbrochen zwinkern. Nur noch vier Laternen, sagte ich mir. Noch vier Laternen und es ist vorbei. Mit der Zeit vernahm ich wieder den Lärm von Straßenverkehr. Das Tor am anderen Ende des Parks wurde größer und größer und schließlich stand ich davor und blickte wie im Traum auf den Verkehr der Churchill Street. Ich stand da, als wagte ich nicht, einen Fuß aus dem Park zu setzen. So, als hätte die Kälte meine Beine einfrieren lassen. Dann sah ich nach unten. Die Fußspuren führten bis zum Ausgang des Parks und bogen dann nach links ab. Natürlich, dachte ich, wie könnte es auch anders sein?

      Ich ging weiter, bog nach links ab und lief eine Weile die Churchill Street entlang, meinen Blick auf die Spuren gerichtet. Eine alte Frau ging an mir vorüber und blickte mich grimmig an. Irgendwann vermengten sich die Fußspuren mit denen anderer Leute und ich verlor sie. Dennoch wusste ich eines mit Sicherheit: Sie würden, könnte ich sie weiterverfolgen, direkt zu dem Haus führen, in dem ich wohnte. Was würde mich dann dort erwarten, wer würde mir auflauern und was wollte er von mir?

      Letzten Endes lauerte mir niemand auf. Stattdessen hatte ich einen weißen Briefumschlag in meinem Briefkasten. Ohne Adresse, Absender, Briefmarke und Poststempel. Ich wusste, dass mein Verfolger ihn eingeworfen hatte. Er musste nicht lange vor mir hier gewesen sein. Aber ich wusste ebenso gut, dass er jetzt verschwunden war. Als ich den weißen Briefumschlag in der Hand hielt und vor den Briefkästen stand, zitterten meine Hände.

      Ich saß an meinem Küchentisch, noch in Jacke und Straßenschuhen, und hielt den Umschlag in den Händen. Igor strich um meine Beine, reckte das Köpfchen nach oben und miaute. „Ich weiß, mein Kleiner“, sagte ich. „Kriegst ja gleich was.“ Er sah mich wütend an, ein vorwurfsvolles Maauuu! ertönte und er ging beleidigt aus der Küche.

      Ich hatte mich beherrschen müssen, den Brief nicht sofort aufzureißen. Ich dachte, dass es besser war, wenn ich saß. Jetzt hielt ich den Umschlag in den Händen und versuchte, mich wieder zu beruhigen. Mit einem kleinen Messer, das ich sonst zum Gemüseschneiden benutzte, öffnete ich langsam den Umschlag. Dann förderte ich eine Fotographie zutage. Kein Brief, sondern nur diese eine Fotographie.

      Meine Hände begannen wieder zu zittern, als ich sie mir ansah. Sie zeigte das Gesicht einer Frau und war schwarz-weiß. Die Frau schaute direkt in die Kamera und hatte ein ernstes, fast trauriges Gesicht, das von langem glattem Haar eingerahmt wurde. Ihre Gesichtszüge waren so exakt, dass ich innerlich erschauerte. Ihr Alter schätzte ich auf Mitte zwanzig.

      Sie war wunderschön.

      Ich blickte lange in ihre Augen, und mir war, als könnten sie mich ebenfalls sehen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so dasaß, aber ich weiß noch, dass ich ein wenig traurig darüber war, dass ich die Farbe ihrer Augen nicht wusste. Nur mit Mühe gelang es mir, mich von dem Foto loszureißen. Dann sah ich mir die Beschaffenheit des Fotos genauer an. Es schien schon sehr alt zu sein. Der Rand war gezackt, wie bei Briefmarken; die Rückseite war gelblich verfärbt und... Dort stand etwas, in einer alten Schrift, die ich nicht lesen konnte. Ich nahm an, dass es ein Name war. Ihr Name? Vielleicht. Ich versuchte lange Zeit, die Buchstaben zu entschlüsseln. Aber es gelang mir einfach nicht. Ich legte das Foto vor mir auf den Tisch und betrachtete wieder diese fremde Frau, die aus einer anderen Zeit stammte. Sie ist schon längst tot, hörte ich eine kalte Stimme in mir sagen. Und auf einmal fühlte ich mich aufgrund dieses Gedankens völlig niedergeschlagen. Natürlich war sie tot. Ich dachte daran, wann und zu welchem Zweck das Foto gemacht worden war. Wer war der Fotograph gewesen? Warum sah die Frau so ernst und traurig aus? In welchen Verhältnissen hatte sie gelebt? Wann war sie gestorben und woran? Wer hatte das Foto nach ihrem Tod besessen? Und vor allem, warum hatte ich es bekommen? Diese letzte Frage erinnerte mich wieder an meinen Heimweg. Warum hatte mich jemand ein Stück verfolgt, war dann zu meinem Haus gegangen und hatte mir den Umschlag in den Briefkasten geworfen? Ich fand keine Antworten auf diese Fragen.

      Ich stand auf und ging in den kleinen Flur meiner Wohnung. Dort zog ich Jacke und Schuhe aus und betrachtete mich dann im Spiegel, der gegenüber der Eingangstür hing. Ich hatte irgendwo einmal gelesen, dass man keinen Spiegel direkt gegenüber der Wohnungstür aufhängen sollte, da sonst die positive Energie, die man beim Betreten der Wohnung mit hereinbrachte, sofort wieder nach draußen abgestrahlt wurde. Humbug, dachte ich, heute war ich ängstlich, als ich die Wohnung betrat. Was schadet es also?

      Mein Spiegelbild zeigte einen mittelgroßen, hageren Mann mit Dreitagebart und kurzen, etwas zerzausten Haaren. Schlafringe waren unter den graugrünen Augen zu erkennen und eine große Sorgenfalte, die sich senkrecht über