Marc Wulfers

Obscurus


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so lange, bis ich dachte, ich sähe einen Fremden vor mir. In gewisser Weise stimmte das auch. Ich sah so lange in die Augen meines Spiegelbildes, bis ich es mit der Angst bekam. Es war, als sähe man in die Augen des Wesens, das in einem steckt. Ich wandte den Blick ab.

      In der Küche öffnete ich den Kühlschrank und holte eine Dose Whiskas heraus. Thunfisch. Igor hatte eine Schwäche für Thunfisch, jedenfalls momentan. Als ich den Deckel am Verschluss aufzog, kam er, angelockt durch das Geräusch, das dabei entstand, sofort in die Küche gestürmt und miaute wieder laut. Ich füllte die Hälfte des Doseninhaltes auf einen Teller und stellte es ihm hin. Gierig fiel er über sein Fressen her und schmatzte dabei lautstark. Ich hoffte, dass er nicht wieder die ganze Nacht kotzen würde. Dann holte ich die zwei Videos, die ich aus der Bibliothek mitgenommen hatte, aus der Tüte und legte sie auf den Küchentisch, damit ich sie später nicht vergaß. Pulp Fiction und Smoke. Mary Stoleham hatte eine Schwäche für Harvey Keitel und dies waren die einzigen zwei Filme, in denen er mitspielte, die wir gerade in der Bibliothek gehabt hatten. Ich wusste, dass sie sich für Smoke entscheiden würde. Erstens, weil er da die Hauptrolle spielte, und zweitens, weil sie außerdem noch eine Schwäche für Zigaretten hatte (wie ich auch). Der wichtigste Grund von allen aber war, dass es einfach ihr Lieblingsfilm war. Trotzdem wollte ich noch eine Alternative dabeihaben. Man wusste ja nie.

      Ich kochte mir einen Kaffee, setzte mich an den Küchentisch, rauchte eine von den Luckies, die Benny mir gegeben hatte und betrachtete das Foto, bis ich mit beidem, Kaffee und Zigarette, fertig war. Dann sah ich auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits kurz nach sechs war. Um sieben war ich mit Mary verabredet und bis dahin musste ich wieder intakt sein. Mary merkte sofort, wenn etwas nicht in Ordnung war.

      Ich ging ins Wohnzimmer und nahm eine Foreigner-CD aus dem Regal, auf dem meine Stereoanlage stand, und legte sie ein. Kurz darauf schmetterte Lou Gramm Urgent durch die ganze Wohnung. Als ich ein paar Minuten später unter der Dusche stand und warmes Wasser über meinen Körper floss, drangen die Klänge von I’m gonna win zu mir herüber. Ich liebte diesen Song und sang lauthals mit.

      Als ich aus der Dusche trat, hatte ich mir den Angstschweiß des Heimweges vom Körper gewaschen und fühlte mich schon ein wenig besser. I’m gonna win, dachte ich, als ich mich abtrocknete.

      Pünktlich um sieben kam ich bei Mary an, die in einer Seitenstraße der Churchill Street wohnte. Als sie mir die Tür öffnete, vergaß ich augenblicklich alles, was mir an jenem Tag widerfahren war. Kaum sah sie mich, fiel sie mir um den Hals und wir umarmten uns innig und lange. Mary war eine kleine Frau mit wallenden roten Locken, einer schönen femininen Figur und dem wundervollsten Lächeln, das ich kannte. Als sie die Arme um mich schlang, spürte ich, wie sich ihre Brüste gegen mich drückten. Das Gefühl war mir so vertraut, dass ich erschauerte und eine Gänsehaut bekam.

      „Thommy, bist du dünner geworden? Du musst mehr essen, Junge.“ Sie musterte mich von oben bis unten kritisch, aber ein Grinsen umspielte ihre sanft geschwungenen Lippen. „Dein Schlaf ist auch nicht so gut, was?“

      „Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mary“, sagte ich. Ich zog Schuhe und Jacke aus und kurz darauf saßen wir auf dem großen schwarzen Ledersofa ihres gemütlichen Wohnzimmers. Mary mit einer Pall Mall im Mund, ich mit einer Lucky Strike. Aus den Boxen ihrer Stereoanlage vernahm ich die kehlige Stimme von Dave Gahan. Pizzageruch drang von der Küche ins Wohnzimmer.

      „Also, Thommy, wie geht es dir?“

      „Wie immer, nichts Besonderes. Außer, dass ich heute Veltore ertragen musste.“

      „So? Was wollte er denn?“

      „Er kam in die Bibliothek und verlangte, dass ich ihm alle Bücher übers Stricken raussuche. Für seine Frau.“

      Mary grinste einen Augenblick, dann nahm ihr Gesicht einen besorgten Ausdruck an. Ihre Stirn zog sich in Falten und sie sah mich eindringlich an. „Macht es dir noch etwas aus? Ich meine...“

      „Nein, Mary. Mach dir keine Sorgen darüber. Es ist so lange her. Reden wir nicht darüber, okay?“

      Noch einen Augenblick sah sie mir tief in die Augen, als vermutete sie etwas dahinter. Dann lächelte sie mich an. „Okay.“

      „Und, wie geht es dir?“, fragte ich und hoffte, dass ich normal klang.

      „Auch wie immer, schätze ich. Das Leben einer Fachverkäuferin für Textilien ist nicht so spannend. Du weißt ja, jeden Tag das Gleiche.“ Mary betrieb mit Ricarda Hummel ein kleines Modegeschäft in der Innenstadt. Manchmal brachte sie mir Sachen mit. Strickjacken, Pullover, T-Shirts. Eigentlich hatte ich fast all meine Sachen von Mary. Ich konnte mich nicht daran erinnern, selbst einmal etwas gekauft zu haben.

      „So, Thommy. Und nun lass uns zum Thema kommen.“ Ihr Gesicht nahm einen freudigen Ausdruck an. „Was für einen Film hast du mitgebracht?“

      Ich nahm die Tüte, die neben mir lag, und zog die zwei Videos wortlos heraus. Dann reichte ich sie ihr.

      „Smoke!“, rief sie aus. „Das ist lieb von dir!“ Sie umarmte mich und gab mir einen Schmatzer auf die Wange. Dann entschwand sie in die Küche. Ich blieb, wo ich war, und dachte über Mary und mich nach. Wir waren schon ein seltsames Paar. Ich kannte Mary, seit ich ein kleiner Junge war. Zuerst war sie eine Art Mutter gewesen, dann meine erste Liebe und nun war sie von beidem etwas. Keiner kannte mich besser als sie. Bis vor einem Jahr ungefähr hatte ich noch bei ihr gewohnt, dann war mir bewusst geworden, dass ich erwachsen wurde und dass meine Beziehung mit Mary kein gutes Ende nehmen würde. Ich musste endlich auf eigenen Beinen stehen. Trotzdem sahen wir uns jede Woche ein paar Mal, schliefen sporadisch miteinander und waren uns nach wie vor so vertraut wie immer. Ich war mir nicht sicher, wohin sich unsere Beziehung entwickelte. Sie war mittlerweile achtunddreißig und ich erst zweiundzwanzig. Ich glaubte, dass das früher oder später zu einem Problem werden konnte. Darum hatte ich versucht, mich ein wenig von ihr abzunabeln. Das änderte jedoch nichts daran, dass ich Mary auf eine elementare Weise immer lieben würde. Wenn es so etwas wie Seelenverwandtschaft gab, so waren Mary und ich zwei Seelenverwandte.

      „Na, Thommy, was grübelst du?“ Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie wieder ins Wohnzimmer gekommen war. Auf dem Couchtisch stand eine riesige, in viele Teile aufgeschnittene Pizza mit Salami, Paprika, Peperoni, Tomate, Gurken und viel Käse. Außerdem noch vier Flaschen Bier, zwei davon geöffnet. Wenn ich nicht bemerkt hatte, wie sie all das ins Zimmer getragen und auf den Tisch gestellt hatte, musste ich wirklich vollkommen weggetreten gewesen sein. Mary setzte sich neben mich auf die Couch und mir wurde bewusst, dass sie auf eine Antwort wartete.

      „Ich habe nur überlegt, was ich dir zu Weihnachten schenken soll“, sagte ich.

      Sie winkte ab. „Ach, zerbrich dir darüber nicht den Kopf und mach dir meinetwegen bloß keine Umstände, hörst du?“ Sie stand auf und legte Smoke in den Videorecorder ein. Dann machte sie ein paar Kerzen an, schaltete das Licht aus und kam wieder zu mir aufs Sofa. Sie nahm zwei Bierflaschen, reichte mir eine und sagte: „Prost, mein Lieber! Auf uns!“

      „Ja, auf uns und auf deine Kochkünste“, sagte ich. Sie lachte und zwickte mir ins Bein.

      Den weiteren Abend verbrachten wir auf dem Sofa, Pizza essend, Bier trinkend, rauchend und Smoke schauend. Und als der Film vorbei, die Pizza alle und die Bierflaschen leer waren, lagen wir einfach schweigend auf dem Sofa, hielten uns wie Teenager an den Händen und genossen die Stille und Friedlichkeit. Irgendwann flüsterte Mary: „Möchtest du heut hier schlafen? Ich meine wirklich nur schlafen? Du machst irgendwie den Eindruck, als würde es dir gut tun.“

      Ich überlegte eine Weile. Es wäre schön, Marys warmen Körper zu fühlen, an den ich mich schmiegen konnte, sie atmen zu hören, sie zu riechen und zu wissen, dass alles in Ordnung war. Aber ich hatte das Gefühl, dass es nicht richtig wäre. Nicht an diesem Tag.

      „Nein, Mary. Heute nicht. Ich muss morgen zur Arbeit und ich möchte morgen früh keinen Stress haben. Aber danke.“ Mary sah mich an, als suchte sie nach etwas in meinen Augen. Dann gab sie mir einen sanften Kuss direkt auf den Mund. „Okay, mein Spätzchen. Falls irgendetwas ist, du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst.“

      Ich