Marc Wulfers

Obscurus


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kommt morgen, um sich die Bibliothek anzusehen und danach noch eine kleine Weihnachtsfeier hier zu machen. Hast du das etwa vergessen?“

      „Nein. Jetzt weiß ich es wieder.“ Ich wurde rot im Gesicht. Noch immer hatte ich das Foto in der Hand. Ich legte es auf den Tisch und dachte daran, dass Klinmoore ein weniger guter Stadtteil von Meltray war.

      „Na ja“, fuhr Claudia fort, „wir müssen die Bibliothek heute nach der Öffnungszeit noch ein wenig schmücken. Sie kommen morgen so gegen zehn. Von zehn Uhr bis zwölf Uhr gibt es also keinen Leserverkehr.“

      „Gut, alles klar“, sagte ich. „Habe ich irgendwas Besonderes zu der Feier beizutragen?“

      „Ja. Du könntest den Kleinen eine Weihnachtsgeschichte vorlesen, wenn du nichts dagegen hast.“

      „Nein. Ich denke, das geht in Ordnung.“

      „Fein“, sagte Claudia. Dann zögerte sie und sah mich an, als wüsste sie nicht, wie sie den nächsten Satz herausbringen sollte. „Da ist noch etwas, Thomas. Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll. Aber du bist seit gestern irgendwie ein wenig seltsam. Es wäre schön, wenn du morgen versuchen könntest, dir das nicht so anmerken zu lassen.“ Sie zögerte wieder. „Du musst mir nichts sagen und es geht mich ja auch nichts an, aber falls du jemanden zum Reden brauchst...“

      Was sollte ich dazu sagen? Ich konnte ihr ja schließlich nicht erklären, dass ich langsam den Verstand verlor, weil ich dieses Foto hatte. „Danke, Claudia. Aber es wird wohl daran liegen, dass bald Weihnachten ist, da werde ich immer etwas depressiv.“

      Sie schaute mich ernst an, dann klarten sich ihre Gesichtszüge auf. „Du bist ein schlechter Lügner, Thomas.“

      „Ich weiß“, sagte ich und lächelte ebenfalls. Claudia stand auf und ging wieder nach unten.

      Ich musste mich wirklich ein wenig mehr beherrschen. Claudia war die beste Freundin von Mary. Die Wege des Informationsflusses waren also sehr kurz. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit Mary über all dies reden konnte (schließlich wusste ich ja selber nicht wirklich, was vor sich ging). Auf jeden Fall wollte ich es nicht. Doch wie ich später feststellte, war es schon zu spät.

      Ich küsste das Foto und verstaute es wieder in meiner Jacke.

      Ich lief, wie immer, durch den Stadtpark nach Hause. Irgendwie kam ich gar nicht auf die Idee, einfach einen anderen Weg zu nehmen. Und was hätte das auch genützt. Mehr und mehr brachte ich das Sichbeobachtetfühlen mit dem Foto in Verbindung und hoffte... Worauf eigentlich? Ich wusste es nicht. Aber ich schätzte, dass es Antworten waren. Wenn derjenige, der mich beobachtete, tatsächlich derselbe war, der mir das Foto in den Briefkasten geworfen hatte, so musste er irgendein Ziel damit verfolgen und so früher oder später auf mich zukommen. Ich fragte mich allerdings auch, warum er nicht einfach bei mir klingelte oder mich anrief, wie jeder normale Mensch es getan hätte. Aber ich fand keine Antworten und der Grund, weshalb ich immer noch den Weg durch den Stadtpark nahm, war Neugierde.

      Es war sehr kalt und ein eisiger Wind pfiff um meine Ohren und schnitt mir ins Gesicht, aber wenigstens schneite es nicht mehr. Ich lief langsam den Hauptweg entlang und wusste, dass irgendwo in meiner Nähe jemand lauerte. Ich konnte es deutlich spüren, so als liefe er direkt neben mir.

      Wieder zählte ich beim Gehen unbewusst jede Laterne, an der ich vorüber kam. Bei Nummer zwölf wurde ich ein wenig sauer. Warum zeigte er sich nicht endlich? Ich blieb im Lichtkegel der Laterne stehen und atmete tief durch. Dann flüsterte ich: „Zeig dich, mach schon. Sag mir endlich, was du willst!“ Aber nichts geschah. Der Wind antwortete mir mit einem Pfeifen. Das war alles.

      Und dann, ohne, dass es mir wirklich bewusst war, schrie ich aus voller Kehle: „ZEIG DICH! NA LOS! ZEIG DICH DOCH ENDLICH, ICH WEISS, DASS DU DA BIST!“

      Die Stille, die danach herrschte, war unheimlich. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und alle Geräusche der Welt wären mit einem Mal verstummt. Ich stand stocksteif da und merkte, dass sich trotz der Kälte Schweißtröpfchen auf meiner Stirn bildeten. Das Licht der Laterne erinnerte mich an das Licht in leeren Krankenhausfluren bei Nacht.

      Dann spürte ich mit einem Mal, dass etwas näher kam. Doch wusste ich weder, aus welcher Richtung es sich näherte, noch, was es war. Vielleicht, so dachte ich, ist es nur deine eigene Angst, die sich in deine Eingeweide schleicht. Ja, das konnte gut möglich sein; dennoch hatte ich das starke Gefühl, dass sich noch etwas anderes, Körperliches, heranschlich. Ich verharrte weiterhin in Starre und dann wurde es plötzlich noch kälter, als es ohnehin schon war. Eine Wand aus Eiseskälte schwappte über mich hinweg und riss mich mit sich. Ich fiel nach hinten um und landete schmerzhaft auf dem Steiß. Die Wand war so plötzlich aufgetaucht, dass ich nicht einmal einen Schrei der Überraschung hatte ausstoßen können.

      Benommen lag ich auf dem Gehweg und spürte nun wieder den Wind, der über meinen Körper schnitt, als wollte er in meine Sachen kriechen. Was immer das eben gewesen war, es war vorbei, das wusste ich. Und ebenso wusste ich, dass ich es mir nicht eingebildet hatte. Was, um Himmels Willen, war das gewesen? Ich dachte darüber nach und vergaß, dass ich noch immer auf dem Boden lag. Das Gegröle von Jugendlichen irgendwo hinter mir riss mich aus meinen Gedanken und ich stand schwerfällig auf. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, bemerkte ich ein Gefühl, das mir mittlerweile sehr vertraut war. Es war der stechende Schmerz in meinem Kopf, der meine Schläfen pulsieren und Tausende spitzer kleiner Nadeln hinter meinen Augen tanzen ließ. Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte wieder zur Besinnung zu kommen. Ich durfte jetzt nicht nachgeben. Wenn ich mich gehen ließ, konnte es gut sein, dass ich wieder einen Aussetzer hatte, und das wollte ich unter allen Umständen vermeiden. Das Gegröle hinter mir wurde lauter und gab den Ausschlag dafür, dass ich mich wieder in Bewegung setzte. Für heute hatte ich genug. Ein Zusammentreffen mit einer Horde betrunkener Halbstarker war das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte.

      Ich humpelte mehr, als dass ich wirklich lief. Mein Steiß schmerzte und hinderte mich irgendwie daran, wie ein normaler Mensch zu laufen. Ich bin sicher, dass ich ein lustiger Anblick für jeden war, an dem ich vorüber ging. Aber das scherte mich überhaupt nicht. Ich nahm die anderen Leute, den Straßenverkehr, die Lichter der Schaufenster, den Wind und die Kälte gar nicht mehr wahr. Ich schwebte in meiner Blase nach Hause und fiel dort völlig erschöpft ins Bett.

      Als ich erwachte war es schon spät am Abend. Kaltes Mondlicht fiel in mein Schlafzimmer und die Digitalanzeige meines Radioweckers zeigte in leuchtend roten Zahlen an, dass es 23:16 war.

      Ich ließ meinen Kopf wieder auf das Kissen sinken. Als käme ich langsam aus einer Nebelschwade hervor, schälte sich aus meinem Verstand allmählich wieder die Erinnerung daran heraus, was ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause erlebt hatte. Diese unglaublich kalte Wand, die mich umgeworfen hatte. Die Kopfschmerzen danach. Der Schmerz an meinem Steiß. Zumindest konnte ich nun feststellen, dass die Kopfschmerzen sich ein wenig zurückgezogen hatten und einem dumpfen Pochen gewichen waren, das ich ignorieren konnte, wenn ich mich anstrengte. Ich schluckte trocken und merkte, dass meine Kehle völlig ausgedörrt war. Das gab mir Anlass, aufzustehen.

      Ich lief durch die dunkle Wohnung in die Küche und machte dort das Licht an. Aus dem Kühlschrank wollte ich eine Flasche Wasser nehmen, aber es war keines mehr da. Dafür aber eine Flasche Budweiser als Alternative. Ich wusste, dass es nicht gut für meinen Kopf wäre, wenn ich jetzt Alkohol trank. Andererseits verspürte ich ein fast archaisches Verlangen danach. Ich griff nach der Flasche und setzte mich an den Küchentisch. Dann überlegte ich es mir anders und ging ins Wohnzimmer.

      Igor lag auf dem Sofa und schlief. Als ich mich neben ihn setzte, hob er den Kopf und sah mich mit seinen grünen Augen an. „Abend, alter Kumpel“, sagte ich. „Was dagegen, wenn ich ein wenig Musik anmache?“ Er sagte nichts und musterte mich stattdessen aufmerksam. Ich schaute ihn ebenfalls an. Er machte keine Anstalten, als Erster wegzuschauen, und das brachte mich dazu, ein lautes Lachen auszustoßen. Der Klang, den es erzeugte, gefiel mir nicht. Es war irgendwie rostig und entsprach mehr dem Gegacker eines alten senilen Mannes. Das erschreckte Igor und er war mit einem Satz von der Couch gesprungen und in den Flur verschwunden. „Okay“, sagte ich in den leeren