Marc Wulfers

Obscurus


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müsste ich weinen. Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals bildete, hinunter und dann drangen, ohne dass ich bewusst darüber nachgedacht hatte, Worte aus meinem Mund, an die ich an jenem Tag schon einmal gedacht hatte. „Es sind nur die alten Gespenster.“ Schweigen lag zwischen uns und ich hatte schon die Hoffnung, dass ich es doch nicht laut gesprochen, sondern nur gedacht hatte.

      „Ich weiß, Thommy“, flüsterte Mary, als verstünde sie genau, was ich damit sagen wollte. Ich legte meinen Kopf auf ihren Busen und sie strich mir durchs Haar. Dann flüsterte sie noch einmal: „Ich weiß.“

      Etwas später drückten wir uns wieder und ich trat den Heimweg an.

      Ich lag im Bett und beobachtete die Schatten. Es war fast ein Uhr, aber ich konnte wieder einmal nicht schlafen. Das kam in letzter Zeit häufig vor und ich konnte unmöglich sagen, woran das lag. Vielleicht hatte ich einfach zu viele Gedanken im Kopf. Vielleicht hatte ich aber auch unbewusst Angst vor meinen Träumen.

      Auf dem Heimweg war ich wie ein Geist durch die dunklen, verlassenen Straßen gegangen. Es gab einen Moment, da dachte ich, wieder verfolgt zu werden. Aber nichts geschah. Ich lief den kurzen Weg nach Hause und kam ohne Überraschungen an.

      Jetzt, in der Dunkelheit meiner Wohnung, fühlte ich mich sehr einsam. Manchmal überkam mich nachts der Gedanke, dass alle Menschen auf einmal verschwunden waren und ich ganz allein auf der Welt wäre. Ich hatte Bilder im Kopf, in denen alles in Trümmern lag; wo es nie Sonne gab, sondern ewiges Zwielicht; wo eine alte Schaukel auf einem Spielplatz einsam im Wind schwang, mit einem leisen Quietschen, das niemand mehr hörte; wo alles vorbei war und verfiel, was je gewesen war. Manchmal überkam mich auch der Gedanke, dass es wirklich so war. Als läge unter der Oberfläche der Welt, die mich umgab, noch eine andere, in der alles schon zum Stillstand gekommen war. Ich fragte mich, ob das möglich war. Vielleicht, sagte diese kalte Stimme in meinem Kopf. Vielleicht ist es so. Aber was ändert es?

      Wahrscheinlich nichts, dachte ich. Das Leben ging weiter, immer weiter.

      Ich kletterte aus dem Bett und ging, nur in Unterhose, durch die dunkle Wohnung in die Küche zum Kühlschrank. Ich öffnete ihn und holte eine Flasche Wasser heraus. Dann setzte ich mich an den Küchentisch und trank einen großen Schluck. Kaltes Mondlicht fiel in den Raum. Ich sah, dass meine Luckies auf dem Tisch lagen und nahm mir eine. Rauchend blickte ich aus dem Fenster, zum Mond empor, der mich traurig ansah. Ich dachte an die ebenso traurige Frau auf dem alten Foto und dann wurde mir schlagartig bewusst, dass es nicht mehr auf dem Tisch lag. Panik breitete sich in mir aus und ich sprang vom Stuhl auf. Dann sah ich es auf dem Boden liegen, direkt neben mir. Ich bückte mich und hob es auf. Wieder wurde ich von diesen traurigen Augen gefangen genommen. Und dann, ohne dass ich wusste warum, küsste ich das Foto und gleichzeitig liefen mir Tränen über die Wangen. Ich presste es an meine Brust und war von Traurigkeit und gleichzeitiger Erleichterung erfüllt.

      Irgendwann schaffte ich es, mich wieder hinzusetzen. Ich zitterte, dann spürte ich plötzlich gar nichts mehr, sondern fühlte mich nur noch schwach und benebelt. Ich legte das Foto auf den Küchentisch und lief ins Schlafzimmer. Meine Beine waren so schwer, als wögen sie mindestens eine Tonne. Ich fiel wie ein Stein ins Bett und verkroch mich unter der Bettdecke wie ein Embryo. Nach einiger Zeit kam Igor aufs Bett gehüpft und durch sein monotones Schnurren schlief ich ein.

      Am nächsten Morgen wusste ich nicht, ob ich geträumt hatte oder nicht.

      Um sechs Uhr stand ich auf. Wie im Traum ging ich durch die dunkle Wohnung ins Bad, pinkelte und stellte mich unter die Dusche. Dort stand ich und wusste nicht, ob ich noch schlief oder schon wach war. Das Prasseln des Wassers drang wie ein Flüstern an mein Ohr, schien aus weiter Ferne zu kommen. Dann zuckte ich zusammen, rutschte aus und konnte mich nur mit Mühe an den Wänden der Duschkabine festhalten. Ich war kurz davor gewesen, wieder einzuschlafen. Der Schreck sorgte dafür, dass ich von einem Moment auf den anderen hellwach war. Ich trocknete mich ab und zog mir meinen alten blauen Bademantel an. Dann ging ich in die Küche und kochte mir Kaffee. Rauchend saß ich am Küchentisch und betrachtete das Foto.

      Wie schön sie war!

      Es kam mir fast so vor, als wäre sie noch schöner, als am Tag zuvor; obwohl das kaum möglich war. Wie sollte sich ein Foto über Nacht schon verändern können? Ich küsste das Foto wieder, diesmal ganz bewusst. Es hatte etwas Tröstliches an sich. Lange Zeit blickte ich in diese traurigen Augen und wünschte mir zum wiederholten Mal, dass ich ihre Farbe wusste.

      Igor riss mich aus meinen Gedanken, indem er laut miauend in die Küche kam und auf den Tisch sprang. Ich hatte die Zeit völlig vergessen. Schnell gab ich ihm sein Futter und ging dann ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Danach machte ich mir Brote für die Arbeit. Das Foto verstaute ich in einer meiner Jackentaschen.

      Auf dem Weg zur Bibliothek lief ich durch tiefen Neuschnee, der in der Nacht gefallen war. Die Stadt, die Menschen, die ebenfalls zur Arbeit gingen, der Verkehr, das Licht der Laternen – alles kam mir unwirklich vor, als läge noch eine Wahrheit unter den Dingen. Eine Wahrheit, die so elementar war, dass ich innerlich erschauerte.

      Ich betrat den leeren Stadtpark und hatte augenblicklich wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich versuchte, es zu ignorieren, und durchquerte den Park so schnell ich konnte.

      Den Tag erlebte ich in einer Art Trancezustand. Andauernd musste ich mich vergewissern, dass das Foto noch in meiner Jackentasche war. Es verdrängte alles andere aus meinem Denken. Claudia schien nichts zu bemerken – wahrscheinlich hielt sie mein Verhalten für normal und dachte, dass ich einfach ab und zu meine Phasen hatte.

      Ich glaube, an diesem Morgen begann ich, den Verstand zu verlieren. Vieles, was sich danach ereignete, erlebte ich in einer Art Traumwelt, als wäre ich in einer Blase gefangen, die ohne Ziel umhertreibt, nur, um irgendwann zu zerplatzen. Als meine Blase zerplatzte, hatte sich einiges verändert. Das Wenigste zum Guten.

      Am Abend dieses Tages saß ich auf meinem kleinen Ledersofa im Wohnzimmer in der Dunkelheit. Die Kopfschmerzen hatten angefangen, als ich von der Bibliothek aus nach Hause gegangen war. Sie waren ohne Vorwarnung gekommen und hatten mich in ihrer Intensität fast bis zur Ohnmacht getrieben. Im Stadtpark war mir schwarz vor Augen geworden und ich war vornüber in den Schnee gestürzt. Dort lag ich eine Weile benommen, in meinem Kopf hämmerte es, als wäre ein sadistischer kleiner Mann mit einem Presslufthammer am Werk. Ich war unfähig, zu denken, bestand nur noch aus diesem stechenden Schmerz. Ich fühlte Schnee, der meine linke Wange einfror. Wahrscheinlich hätte ich Stunden dort liegen können, aber als ich das nächste Mal klar denken konnte, befand ich mich im Flur meiner Wohnung und starrte in den Spiegel. Ich schrak zurück, weil ich den, den ich erblickte, nicht kannte. Es war ein Fremder, mit wirren Haaren und eingefallenen Wangen. Irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht. Sie schienen keine Farbe zu haben, waren weder hell noch dunkel, nur zwei Löcher, in denen eine milchige Flüssigkeit schimmerte. Dann setzte mein Denken aus und als es wieder da war, saß ich im dunklen Wohnzimmer und hatte Angst. Aber zumindest hatte ich danach keine Aussetzer mehr. Ich versuchte mich an den Tag zu erinnern, an die Arbeit, den Heimweg, was ich gegessen hatte. Aber ich konnte es nicht. Stumme Tränen rannen meine Wangen hinab, in meinem Kopf pulsierte etwas, das mich um den Verstand brachte.

      Mit großer Anstrengung brachte ich es fertig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich stand auf und ging in die Küche. Meine Beine fühlten sich wie Gummi an. In der Küche schaltete ich das Licht ein und der Schmerz wurde noch intensiver. Ich öffnete eine Schublade an der Anrichte und kramte eine Schachtel Aspirin heraus. Ich nahm zwei Tabletten, steckte sie in den Mund und schluckte sie sofort hinunter. Dann erlebte ich einen schlimmen Moment der Panik, als ich mich verschluckte. Ich würgte sie wieder hervor, zerkaute sie, schluckte den Brei hinunter und trank Wasser, indem ich meinen Kopf unter den Wasserhahn in der Spüle beugte. Danach saß ich am Küchentisch und überlegte, was ich tun konnte. Wenn ich Glück hatte, würden die Schmerzen irgendwann nachlassen, aber darauf konnte ich mich nicht verlassen. Mir wurde klar, dass ich überhaupt nichts tun konnte. Weder Fernsehen, noch Musikhören oder Lesen. Ich ertrug ja nicht einmal das Licht, das ich in der Küche angemacht hatte. Ich stand auf, schaltete es aus und ging ins Wohnzimmer zurück. Dort setzte ich mich wieder auf das Ledersofa und starrte in die Dunkelheit.

      Plötzlich