Marc Wulfers

Obscurus


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Pink Floyd, dachte ich. Genau das Richtige jetzt. Ich schob die CD in den Player, drehte den Lautstärkeregler auf und setzte mich wieder auf das Sofa. Dann sprang ich auf, lief in den Flur und kramte das Foto von Annabell Conway aus meiner Jackentasche. Ich küsste es und lief mit ihm zurück ins Wohnzimmer. Dort legte ich es auf den Couchtisch, so, dass ich es sehen konnte, wenn ich mich zurücklehnte. Ich hielt das Budweiser in einer Hand, eine Zigarette in der anderen und lauschte den Klängen von Shine on you crazy diamond. Die Musik beruhigte mich, drang in all meine Poren und vertrieb jeglichen Schmerz. Ich dachte nur noch an Annabell Conway. Irgendwie musste ich mir die Tatsache eingestehen, dass ich mich in sie verliebt hatte. Das klang verrückt. Wer verliebte sich schon in das uralte Foto einer Frau, die schon lange tot war? Aber nach allem, was ich erlebt hatte, seit sich das Foto in meinem Besitz befand, wusste ich, dass es etwas zu bedeuten hatte und dass die Dinge langsam aus den Fugen gerieten. Ein großes Rad war in Bewegung versetzt worden und ich drehte mich nun mit ihm. Einem Teil meines Verstandes gefiel das ganz und gar nicht; aber ein anderer Teil wollte sehen, was sich tat. Denn irgendetwas würde geschehen, dessen war ich mir sicher. Ich musste nur abwarten und...

      „Thomas!“ Ein Ruf, wie aus weiter Ferne, drang durch die laute Musik an mein Ohr. Ich hielt ihn für Einbildung und machte keine Anstalten zu antworten, noch aufzustehen. Ich nahm noch einen Schluck Bier und ließ die Flasche dann fallen, weil Mary Stoleham plötzlich in meiner Wohnung stand und mich mit sorgenvollem Blick musterte. Bier lief über mein Hemd und meine Hose und wie im Traum sah ich, wie Mary die Lippen bewegte und etwas sagte. Aber ich war wie gelähmt, unfähig mich zu rühren. Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten?

      Plötzlich wurden die Klänge von Comfortably Numb abgewürgt und Stille herrschte. Mary kam zu mir, setzte sich neben mich aufs Sofa und sah mich mit sorgenvollem Gesicht an. „Thomas, ist alles in Ordnung mit dir?“ In ihrer hellen Stimme lag der Tonfall, den man benutzt, wenn man mit einem Geistesgestörten redet. Das machte mir Angst. Aber noch schlimmer war, dass Mary, meine Mary, von einer Sekunde auf die nächste in meiner Wohnung, meinem Wohnzimmer, meiner Couch neben mir war, als habe sie sich aus dem Nichts materialisiert. Ich war unfähig zu sprechen, so überrascht war ich über diesen Umstand.

      Sie hat einen Schlüssel, Dummkopf!, sagte die kalte Stimme in meinem Kopf. Sie hat sich Sorgen gemacht und ihn benutzt. Darum ist sie in diesem Augenblick in deiner Wohnung und mustert dich, als wärst du der Mann im Mond oder ein seltenes Exemplar einer vom Aussterben bedrohten Affenart.

      „Was machst du hier, Mary?“ Meine Stimme klang äußerst seltsam. Falsche Unbeschwertheit drang in meine Ohren. Ich nahm wahr, dass Mary eine weiße Bluse und einen schwarzen, wadenlangen Rock trug. Ihr Haar wallte wie kochende Milch um ihr Gesicht und rahmte dessen Ausdruck ein.

      „Ich habe mir Sorgen gemacht, Thomas. Was denkst du denn? Ich habe ein dutzend Mal versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht rangegangen. Außerdem habe ich dir bestimmt fünf SMS geschrieben.

      Ich hatte kein Festnetztelefon, nur ein Handy, das Mary mir zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Zurzeit befand es sich wahrscheinlich irgendwo in meiner Jacke. Ich benutzte es nicht oft. Hättest du lieber tun sollen, Schwachkopf!, sagte die Stimme in meinem Kopf. Und wahrscheinlich hatte sie Recht. Dann hätte ich mir zumindest diese unangenehme Situation erspart. Ich saß da, mit von Bier durchweichten Sachen, stank nach Rauch und Schweiß. Wer wusste, was ich sonst noch für einen Anblick bot. Zu allem Überfluss lag natürlich noch das Foto, als einziger Gegenstand (außer eines Glasaschenbechers, der zur Hälfte mit Asche und Zigarettenstummeln gefüllt war), auf dem Tisch. Das Schlimmste schien mir jedoch zu sein, dass ich unfähig war, zu sprechen. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, der dabei ertappt worden war, wie er im Schlafzimmer seiner Eltern heimlich die Sachen seiner Mutter anprobierte.

      Ich sah Mary an, deren Stirn sich in Falten zog, und die auf eine Antwort wartete. Als ihr klar wurde, dass sie keine bekam, legte sie ihre drängende Art ab und sprach in sanfterem Tonfall weiter. „Okay, Thomas. Komm mal her.“ Sie zog mich in ihre Arme, noch bevor ich etwas dagegen tun konnte. Ihre Bluse würde von dem Bier benetzt werden, das an meinen Sachen klebte. Aber ich ließ es dennoch zu. Dies waren die Augenblicke, deretwegen ich Mary liebte. Egal, was geschah, sie zeigte einem immer erst, dass grundsätzlich alles in Ordnung war und dass man über alles reden konnte. Ich spürte ihren Busen an meiner schmalen Brust und irgendetwas an dieser Berührung, an Marys festem Druck und ihrer Liebe, die mich wie ein Kokon umgab, brachte mich zum Weinen. Tränen liefen meine Wangen hinunter und ein kehliger Laut drang aus meinem Mund, der sich zu einem Schluchzen steigerte.

      Mary drückte mich noch fester an sich und flüsterte etwas.

      „Also, Thommy. Was ist los, hm?“

      Ich hatte mich wieder beruhigt und saß jetzt still und beherrscht neben Mary, die sich eine Zigarette angezündet hatte.

      „Hör zu, es tut mir leid, dass ich hier einfach so hereingeplatzt bin. Aber nachdem mich Claudia angerufen hatte und ich dich nicht erreicht habe, habe ich mir Sorgen gemacht.“

      Natürlich, dachte ich, Claudia Hertz. Ich überlegte noch immer, was ich ihr sagen sollte. „Mary, ich war einfach völlig fertig, als ich nach Hause kam. Ich bin sofort ins Bett gefallen und erst vor kurzem wieder aufgewacht. Es besteht also kein Grund zur Sorge.“ Ich hoffte, dass das halbwegs plausibel klang. Doch wusste ich, sofort, nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, dass das nicht der Fall war. Um Marys Blick auszuweichen, zündete ich mir ebenfalls eine Zigarette an.

      „Claudia hat mir erzählt, dass du seit zwei Tagen irgendwie... Nun ja, dass du dich irgendwie seltsam verhältst. Abwesend bist.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Außerdem...“ Sie zögerte. „Außerdem hat sie mir auch von diesem Foto erzählt, das dort liegt.“ Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung des Fotos. Ich sah ebenfalls dort hin. Ich konnte deutlich die Augen von Annabell Conway sehen. Sie schienen mich dazu aufzufordern, Mary davon abzuhalten, weiter von dem Foto zu reden. Und genau das hatte ich auch vor.

      „Und?“, fragte ich.

      „Nun, Claudia meinte, du warst so in Betrachtung des Fotos versunken, dass du sie gar nicht bemerkt hast, als sie ins Büro kam. Sie hätte mindestens zwei Minuten hinter dir gestanden, ehe sie etwas zu dir sagte. Ihr kam das irgendwie seltsam vor, als wärst du in Trance oder so.“

      Ich schaute Mary direkt an, die jetzt etwas verunsichert aussah. Ich bemühte mich, einen Blick aufzusetzen, der ausdrücken sollte, dass das alles Humbug war und nicht der Rede wert. Nach einer Weile schaute sie weg. Sie hatte rote Wangen bekommen und ich deutete dies als gutes Zeichen. Es widerstrebte mir eigentlich, Mary anzulügen, aber ich hatte im Moment keine andere Wahl. Wer wusste, was geschah, wenn ich ihr die Wahrheit sagte...

      „Schön, Mary“, sagte ich. „Es mag sein, dass ich in letzter Zeit ein wenig nachdenklich bin. Es mag ebenfalls sein, dass ich weggetreten wirke und mich für andere Leute seltsam verhalte. Aber denkst du ernsthaft, dass das irgendetwas mit dem Foto zu tun hat? Du weißt, dass es viele andere Gründe dafür geben kann. Außerdem haben wir bald Weihnachten und du hast mich um diese Zeit oft genug erlebt, oder?“

      Sie schaute wieder auf, mit rosigen Wangen, und nahm einen schnellen Zug von ihrer Zigarette. „Ja, Thomas, das habe ich. Und ich weiß, zu was du in diesem Zustand in der Lage bist. Hast du wieder damit angefangen?“

      Das Gespräch nahm eine Wendung an, die mir immer unangenehmer wurde. Aber daran war ich selber Schuld. Ich hatte ihm diese Richtung gegeben.

      „Nein“, sagte ich. „Nein, Mary, ich habe es seit zwei Jahren nicht mehr getan. Das weißt du doch, oder?“

      „Ja, natürlich, Thomas.“

      „Gut.“

      Für eine Weile lag betretenes Schweigen im Raum. Ich dachte schon, das Gröbste wäre vorbei, als sie wieder anfing. „Vielleicht wäre es besser, wenn du wieder zu Dr. Hanslow gehst. Ich meine ...“

      „Nein, ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Dr. Hanslow hat mir auch nicht wesentlich weiterhelfen können. Man muss das selber durchstehen.“

      Mary beugte sich nach vorne, um ihre Zigarette auszudrücken. Dabei fiel ihr