schöner Morgen in der nordischen Hauptstadt der Ragni. Dunkle Wolken zogen über das Land und in Bodennähe hatte sich dichter Nebel gebildet. Einzig und allein der weiße, reflektierende Schnee sorgte dafür, dass es nicht ganz so düster wirkte.
Hedda schaute hinaus in den Hof. Alle ihre Schlittenhunde waren dort nun untergebracht. Sie nickte zufrieden: «Ich danke Euch, meine Königin!» Sie war froh, dass die Herrscherin ihr angeboten hatte die Hunde hier im Hof zurückzulassen.
«Ihnen wird es hier an nichts fehlen!», meinte Varuna: «Mein Sohn wird sich um sie kümmern!»
Hedda nickte. Sie blickte auf den Jungen. Er war in etwa so alt, wie ihr Bruder bei seinem Tod gewesen war.
«Wie geht es nun weiter?»
«Das Schiff wird gerade vorbereitet. Wir segeln in Kürze los!»
«Ich war noch nie auf dem Meer, meine Königin!»
Varuna nickte: «Du wirst sehen. Es wird dir gefallen!»
«Wie lange werden wir unterwegs sein?»
«Zwei Tage, wenn der Wind günstig ist. Dann sind wir bei den Noaten.»
«Bei den Noaten?»
«Ein schreckliches Volk!», murmelte die Königin: «Man nennt sie auch die Barbaren der Meere. Aber mit Schiffen können sie umgehen. Das muss man ihnen lassen!»
«Aber was wollt Ihr dort?»
«Nun!», sagte die Königin: «Mit unseren Schiffen kommen wir nicht weit. Niemals so weit in den Süden. Also hoffe ich doch, dass die Noaten uns unterstützen!»
«Und wenn nicht?»
«Liebes. Du stellst zu viele Fragen!», die Königin schmunzelte. Allerdings wusste sie, dass die Frage berechtigt war. Auch die Noaten mussten den Göttern ein Opfer bringen. Und sie hoffte, dass sie sich gemeinsam auf die Reise machen konnten: «Und nun geh hinunter. Verabschiede dich von deinen Hunden!»
«Werde ich sie wiedersehen?», fragte Hedda ehrlich. Noch immer verstand sie nicht, wohin es ging und was ihr Auftrag war.
«Natürlich!», meinte die Königin. Aber im Grunde wusste sie es nicht. Nicht einmal annähernd. Ihr war nicht einmal klar, ob Hedda dies alles überleben würde. Die Götter verlangten ein Opfer. Eine Jungfrau aus dem Volk. Was mit ihr geschehen würde, das wusste keiner. Nicht einmal die Priester, wenn Varuna es richtig verstanden hatte.
«Nun gut!», nickte Hedda und ging dann vom Fenster weg: «Dann schaue ich mal nach meinen Hunden!»
Es hatte in der Nacht frisch geschneit. Es würde der letzte Schnee dieses Jahres werden. Hier im südlichsten Teil des nordischen Landes Ragnas schmolz der Schnee für einige wenige Monate. Eine große blühende Landschaft entstand deshalb nicht. Aber zumindest ermöglichte der kommende Sommer ein wenig neues Leben. Doch Hedda würde nicht da sein. Sie würde dieses Phänomen nicht erleben. Stattdessen würde sie weiter in den Süden fahren und Länder kennenlernen, die nicht einmal Schnee kannten. Länder, in denen es Hell und Dunkel gab. Tag und Nacht.
Sie stapfte durch den frischen Schnee.
«Hallo Hedda!», grüßte der Prinz freundlich: «Sie sind toll, deine Hunde!»
Sie strich ihm über den Kopf. Es fiel ihr gar nicht so leicht mit ihm zu reden. Zu sehr erinnerte er sie an ihren Bruder: «Du wirst auf sie aufpassen?»
«Ja!», er nickte: «Ich schwöre es bei den sieben Göttern und dem Allvater Regnator!»
«Gut!», sagte sie und zeigte auf eine Hündin: «Sie ist ein wenig zickig!»
Er grinste: «Ich weiß!»
Ihr war es wichtig, dass es ihren Hunden gut ging. Vielleicht würde sie mit ihnen irgendwann einmal zurück nach Tornheim reisen und die Siedlung wiederaufbauen. Gab es Überlebende? Sie musste die Gedanken verdrängen.
Sie umarmte den Prinzen freundlich und ging dann zurück zur Burg.
«Hedda!», hörte sie eine Stimme.
«Ja?»
Ein Mann mit weißem, wallenden Haupthaar ging auf sie zu: «Lass dich anschauen!»
«Wer seid Ihr?»
«Ich bin einer der Priester der Ragni!», sagte er.
«Tut mir leid. Das wusste ich nicht!», erwiderte sie und senkte den Blick.
«Ist schon gut!», murmelte er: «Du bist also die Auserwählte. Du bist das Götteropfer. Die jungfräuliche Serva!»
Sie nickte stumm. So richtig verstand sie immer nicht, was ihre Aufgabe war und sie erwartete.
«Du bist wunderschön. Die Königin hat recht!»
«Danke, ... Priester!», erwiderte sie.
«Es wird eine lange Reise. Mögen die Götter dich beschützen!», sagte er: «Mögen sie uns beschützen. Denn ich werde euch begleiten. Gemeinsam mit der Königin und dem Kommandeur unserer Streitkräfte!»
«Ich ... ich danke Euch!»
«Aber ich warne dich. Hüte dich vor der Königin. Ihre Ziele sind nicht immer gut. Wir wollen die Götter zufrieden stellen. Das hat Priorität. Vergiss das nie!»
«Werde ich nicht!», murmelte sie. Allerdings wusste sie auch, dass die Königin ihre einzige Bezugsperson sein würde. Wieso sollte sie dann irgendetwas in Frage stellen? Zumal es ihre Königin war.
Eine gute Stunde später war es soweit.
Die Ragni hatten insgesamt nur zwei größere Schiffe. Einfache Einmaster, die nicht vergleichbar mit größeren Schiffen waren, wie sie andere Völker teilweise hatten. Es gab nicht einmal ein Unterdeck, was bedeutete, dass man Wind und Wetter erbarmungslos ausgesetzt war.
Die Ragni waren keine wirklich guten Schiffbauer. Doch für Reisen bis zu den Inseln der Noaten waren die Schiffe ausreichend.
Für Hedda, die noch nie ein Schiff gesehen hatte, war dieses Wassergefährt ein wahres Monstrum.
«Du wirst dich ganz vorne hinsetzen!», sagte die Königin: «Nimm dir eine Decke und wickle dich damit ein. Es wird auf hoher See recht stürmisch!»
Hedda schaute auf die weiße Flagge mit der schwarzen Bärentatze. Das Wappen des Königs aller Ragni.
Die Besatzung bestand aus insgesamt zehn Mann. Acht Männer an den Rudern, ein Steuermann und ein Navigator. Zwischen den Männern konnten maximal zehn weitere Passagiere befördert werden.
Hedda betrachtete jeden einzelnen der Männer. Die hellhäutigen Ragni mit ihren schwarzen Haaren beachteten sie hingegen kaum. Sie, die Schönheit von Ragnas. Jeder war mit sich beschäftigt. Jeder richtete sich seinen Platz ein.
Hedda kletterte über die Reling ins Boot. Wie die Königin befohlen hatte, ging sie ganz nach vorne. Schon jetzt bewegte sich das Boot in den Wogen der Wellen. Hedda war augenblicklich klar, dass das kein Zuckerschlecken werden würde.
Für einen Moment starrte sie auf das offene Meer. Und damit gleichzeitig in eine ungewisse Zukunft. Durchaus auch mit Hoffnungen, die sie in sich trug. Sie wollte Tornheim hinter sich lassen. Ausgerechnet sie, die eigentlich nie das Ewige Eis hatte verlassen wollen. Aber nun hatte sich alles anders entwickelt. Aber auch mit Ängsten. Vielleicht mit mehr Ängsten statt Hoffnung. Weil es einfach eine ungewisse Zukunft war. Noch immer hatte sie nicht verstanden, was das Ziel dieser Reise war. Vielleicht auch etwas Furchtbares, Schreckliches. So dass sie sich wünschen würde in Tornheim mit den anderen gestorben zu sein.
Der Blick über das Meer war seltsam. Es war alles so weit. Ja, diesen weiten, schier unendlichen Blick kannte sie. Aus dem Ewigen Eis. Auch da sah alles immer ewig weit aus. Als würde das Eis nie enden. Nun ging es ihr mit dem Meer genauso. Und dieser Blick machte sie irgendwie froh. Weil sie ihn einfach kannte. Die Stadt hingegen war anders. War unfrei. Wohin man auch schaute waren Mauern und Wände. Nein, Freiheit war ihr schon lieber. Allerdings wusste sie