seine Kollegen. Bereits nach acht Minuten war die gesamte Schiffsbesatzung des Rettungsbootes AR BEG startklar. Die Besatzung bestieg das Boot, und sie glitten in wenigen Minuten über den Slip aus dem Bootshaus ins Wasser. Der Rettungskreuzer der SNS 127 mit seinen 700 PS verließ den Hafen an der Pointe de Trévignon. Selbst der hatte Mühe, sich durch die gewaltigen Wellen zu kämpfen, die unentwegt auf das Schiff zurollten. Die Seenotrettung von Port Manec´h wäre deutlich näher an dem Segler gewesen, allerdings verfügten die lediglich über ein Zodiac, ein Schlauchboot. Das war bei dem aktuellen Sturm nicht einzusetzen.
Die in Seenot geratene Yacht war mit einem AIS (Automatic Identification System) ausgestattet. Das erleichterte die Ortung, so dass ihre Position genau festgestellt werden konnte.
Die Männer in ihren orangefarbenen Schutzanzügen reagierten gelassen auf das gewaltige Getöse der meterhohen Wellen, die über den Bug ihres Rettungskreuzers hereinbrachen. Das Schiff und seine Besatzung schienen diesen Ungetümen gewachsen zu sein. Die rote Leuchte der Backbordseite und die grüne Steuerbordlampe tauchten abwechselnd aus dem Wasser auf. Die Wassermassen stoben in hohem Bogen zur Seite, und die Gischt legte sich aufs Fenster der Brücke. Der Scheibenwischer arbeitete unermüdlich gegen den ständigen Wasserfilm auf den Fenstern. Marc Jestin steuerte das Schiff durch die Wogen. Für die unerschrockenen Männer der Seenotrettung gehörte ein solcher Einsatz zur Normalität. Ein Notruf bei ruhigem, angenehmem und wenig spektakulärem Wetter war eher die Ausnahme, auch wenn das hin und wieder vorkam. René stand in seiner Schwimmweste und dem Neoprenanzug neben dem Kapitän und hielt mit dem Fernglas Ausschau nach dem Havaristen. Jede Minute zählte bei einem solchen Einsatz. Das Rettungsboot bäumte sich auf und senkte sich. Es war bei dem Wetter keine leichte Aufgabe, den Horizont nach dem Segler abzusuchen.
„Dort ist er!“, schrie René, um gegen das Getöse der Brecher anzukommen. Er und sein Kollege, Louis Colin, bereiteten sich auf die Bergung des Schiffbrüchigen vor. Mit Seilen und Karabinerhaken ausgestattet verließen sie die Brücke, befestigten sich an den vorgesehenen Halterungen am Boot, um sicherzugehen, dass die Wellen sie nicht ins Meer rissen, falls sie ins Wasser springen müssten. Die Wassermassen, die über das Schiff hereinbrachen, zerrten an ihnen und forderten ihre ganze Konzentration und Kraft. Langsam näherte sich das Schiff dem in Seenot geratenen Boot. René warf dem Verunglückten den Rettungsring zu. Der Mann griff nach dem Ring und konnte ihn fangen und halten. Jetzt könnten sie ihn näher ans Schiff ziehen.
„Ich hänge irgendwo fest“, schrie der Mann aus voller Kehle.
„Wo hängen Sie fest?“, rief Louis.
„Meine Beine hängen fest, ich kann nicht sagen woran…“, antwortete der Mann, den Rest seiner Worte verschluckte die nächste Welle.
Renée musste ins Wasser springen, um den Mann von seiner Fessel zu befreien. Mit dem Seil war er am Schiff gesichert, so dass er zu jeder Zeit wieder aufs Schiff gezogen werden konnte. Die Schwimmweste war zwar hinderlich, aber er wollte sich nicht ohne sie in die Fluten stürzen. Das Wasser war kalt, er spürte die Kälte durch seinen Neoprenanzug. Auch für einen ausgebildeten Rettungsschwimmer war diese Aktion eine Herausforderung. Er gelangte mit gewaltiger Kraftanstrengung zum Verunglückten. Jetzt musste er den Mann befreien. Schnell hatte er das Problem erkannt. Eine Segelleine hatte sich mehrfach um sein Bein gewickelt und war durch das Strampeln inzwischen so verheddert, dass er sie nicht so einfach lösen konnte. Der Havarist fuchtelte wild um sich.
„Bleiben Sie ruhig, sonst kann ich Sie nicht loskriegen“, schrie René ihm zu. René holte sein Messer aus der Halterung und versuchte damit das Seil zu durchtrennen.
„Bleiben Sie ruhig, ich kann Sie nicht losschneiden“, rief er erneut und versuchte weiter, den Mann zu befreien. Endlich hatte er ihn von der Leine getrennt. Louis zog ihn auf Renés Zeichen an das Schiff heran und hievte ihn mit Hilfe eines weiteren Kollegen an Bord. In diesem Moment wurde das Segelboot von einer enormen Welle getroffen und in die Tiefe gezogen. Im nächsten Augenblick tauchte es mit großer Geschwindigkeit wieder an der Oberfläche auf. Der gebrochene Mast schnellte aus dem Wasser und traf René am Kopf. Er verlor die Besinnung. Louis hatte alles vom Schiff aus beobachtet und zog verzweifelt an dem Rettungsseil, mit dem sein Freund und Kollege befestigt war. Auch der Kollege, der den Schiffbrüchigen inzwischen ins Innere des Schiffes gebracht hatte, eilte herbei und half, René aus dem Wasser zu holen.
René Audic war immer noch bewusstlos, als er wieder an Bord war. Der Notarzt war per Funk verständigt worden und erwartete sie an der Trévignon. René atmete noch. Blut trat aus seiner Wunde am Kopf. Louis sprach mit ihm. Keine Antwort! Seine Bewusstlosigkeit ließ eine ernsthafte Verletzung vermuten. Bis in den Hafen brauchten sie mehr als eine halbe Stunde. Sofort nach ihrer Ankunft wurde René mit dem Notarztwagen in die Klinik nach Concarneau gebracht. Die sofort eingeleiteten Notfallmaßnahmen und Untersuchungen konnten das Leben von René Audic nicht mehr retten. Das Meer hatte ein neues Opfer gefunden. René hinterließ eine Frau und einen einjährigen Sohn. Der Havarist überlebte und konnte das Krankenhaus bereits nach drei Tagen verlassen. Noch in der Klinik telefonierte er mit seiner Bootsversicherung. Er deklarierte seinen Schaden und beantragte die Erstattung für seinen Verlust. Bereits am Tag seiner Entlassung orderte er ein neues Boot. An den Tod seines Retters verschwendete er keinen Gedanken. Er hatte nicht einmal nach seinem Retter gefragt, kein Dankeschön für die Rettung ausgesprochen.
Jean Audic ließ sich die letzte Woche noch einmal durch den Kopf gehen. Der Tod seines Sohnes war eine Tragödie. Sein Enkel würde jetzt ohne Vater aufwachsen, und er konnte nicht sagen, wie lange er seiner Schwiegertochter und seinem Enkel noch helfen konnte. Er war über 70 Jahre alt, da konnte es auch ganz schnell zu Ende gehen. Natürlich hoffte er, dass der liebe Gott ein Einsehen mit ihm hätte und ihm vielleicht noch zehn oder mehr Jahre geben würde, dann könnte er seinen Enkel und seine Schwiegertochter eine Weile lang unterstützen. Sie konnten jeden zusätzlichen Euro gebrauchen. Dieser wohlhabende und arrogante Schnösel hatte überlebt, während sein Sohn bei dessen Rettung sein Leben verloren hatte. Jean wandte sich um und machte sich auf den Heimweg. Sein Haus in Kerfany war zu klein, um als gemeinsamer Wohnraum für seinen Enkel und seine Schwiegertochter zu dienen, dachte er auf dem Rückweg. Es war ein Fischerhaus, wie man sie früher gebaut hatte. Für sein restliches Leben reichte es aus.
Kapitel 2
Paul Malencourt plante, nur noch vier Tage in Névez zu bleiben. Sein Haus in der rue Park Nonn wäre danach wieder zwei Monate lang verlassen. Er wollte noch mindestens fünfzehn Jahre arbeiten, bevor er die Geschäfte vollständig auf seinen Sohn übertrug. Stahlhandel war ein einträgliches Geschäft rund um Paris. Die Bauindustrie hatte Aufträge über Aufträge und konnte beinahe nicht mehr allen Anfragen nachkommen. Sein Baustahl war gefragt und wurde benötigt. Die Firma, ursprünglich von seinem Vater gegründet, gehörte zu den ersten Adressen. Entsprechend waren seine Umsätze und sein Verdienst. Seinen Sohn hatte er frühzeitig in die Geschäfte eingeführt, so dass er sich durchaus mehrfach im Jahr einen längeren Aufenthalt in der Bretagne erlauben und seinem Sohn die Führung der Firma überlassen konnte. Seine Frau war vor zehn Jahren verstorben, er gestaltete seine Aufenthalte alleine. Das Haus pflegte eine Frau aus Névez, die regelmäßig zum Putzen kam. Sie kümmerte sich bei Bedarf auch um das leibliche Wohl bei kleineren Partys, war im Haus anwesend, wenn der Partyservice die gewünschten Speisen brachte und sorgte für die Bedienung der Gäste. Partys gab es bei Malencourt selten, höchsten ein oder zweimal im Jahr.
Geld spielte in seinem Leben keine Rolle, er hatte es und zeigte das auch mit seinem Ferrari. Er gehörte zu den geizigsten Menschen, wenn es um die Bezahlung von Rechnungen ging. Heute hatte der Briefträger ihm die Rechnung der Seenotrettung zugestellt. Die Herren erlaubten sich doch tatsächlich, für ihre Aktion, die bestimmt keine zwei Stunden gedauert hatte, einen Betrag von 400 Euro zu berechnen. Ein Erschwernissaufschlag von 180 Euro wegen des Sturms war auch aufgelistet. Paul Malencourt tobte innerlich und war nur zähneknirschend zur Überweisung der geforderten Summe bereit. Wäre dieser Sturm nicht aufgekommen, hätte er diese Halsabschneider bestimmt nie gebraucht. 400 Euro für eine einzige Rettungsaktion erschienen ihm überteuert. Für diesen Preis verkaufte er vier Baustahlmatten von sechs Metern. Dass es sich bei der Rettungsaktion um sein Leben gehandelt hatte, hatte er entweder