Jean-Pierre Kermanchec

Weiße Rosen aus Névez


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von dem großen Stein, der an dem Ast hängt.“ André zeigte auf den Brocken über dem Leichnam.

      „Gibt es hier im Garten weiße Rosen?“, fragte Monique Monsieur Guivarch.

      „Weiße Rosen? Nein, hier stehen rote, gelbe und rosafarbene Rosen. Weiße gibt es nicht. Ich persönlich finde weiße Rosen sehr schön und würde sie sofort pflanzen. Dort drüben gibt es eine schöne Stelle, dort könnten sie sehr gut…“

      „Haben Sie vielen Dank, Monsieur Guivarch“, unterbrach Anaïk seine Ausführungen.

      „Falls wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.“ Sie drehte sich um und ging zurück zu Dustin.

      „Hast du noch etwas gefunden?“, fragte sie ihren Kollegen.

      „Nein. Ich werde mir den Gurt, mit dem der Stein befestigt worden ist, im Labor genauer ansehen. Auch das Hanfseil will ich untersuchen. Viel mehr haben wir nicht. Ich vermute, dass sich daraus keine heiße Spur zum Täter ergibt. Der Stein gibt mir zu denken, ich kann mich erinnern, dass Gärtner häufig einen Stein an einen Ast binden, wenn sie verhindern wollen, dass ein Ast zu sehr in die Höhe wächst. Hat der Ast später eine gewisse Dicke erreicht, kann man den Stein wieder entfernen. Vielleicht handelt es sich ja um einen Gärtner?“

      „Interessante Überlegung, zumal mir der Gärtner, André Guivarch, gerade gesagt hat, dass Monsieur Malencourt seinen damaligen Gärtner vor drei Jahren entlassen hat. Vielleicht ein Racheakt des alten Gärtners?“

      „Denkbar Anaïk, aber ist das nicht etwas billig? Bringt man jemanden um, weil man einen Auftrag verliert?“

      „Wer steckt schon im Kopf eines Mörders?“

      Monique hatte sich im Garten weiter umgesehen und nach Spuren gesucht. Warum war der Hausbesitzer in der Nacht in den Garten gegangen? Sie durchstreifte den Garten und betrachtete jede Kleinigkeit. Sie fand nichts Wesentliches. Als sie wieder am Haus ankam und über die Terrasse ging, fiel ihr auf, dass eine Scheibe von den drei Balkontüren eingeschlagen war, die Tür stand offen. Sie ging näher zur Tür und sah sich das Loch an. Eindeutig, hier war ein Stein eingeschlagen. Sie sah ins Innere. Auf dem Boden lag der Stein und etwas entfernt ein Zettel. Sie trat ins Haus und sah sich das genauer an.

      Der Raum war mit Parkett ausgelegt. Sie durfte keine Spuren zerstören. Außer einem Stein, einem Zettel und Glasscherben von der Balkontür war nichts Auffälliges zu sehen. Sie ging zu dem Stein. Neben dem Stein lagen ein größerer Gummiring und das Papier. Monique hob das zerknitterte Blatt hoch. Mit einem Filzschreiber stand darauf geschrieben:

      Komm und sieh dir an, was du angerichtet hast. Auf deinem Kiesweg im Garten kannst du dein Werk bewundern!

      Es war eindeutig eine Aufforderung in den Garten zu gehen. Damit hatte der Mörder also Monsieur Malencourt in den Garten gelockt, und der war der Aufforderung nachgekommen.

      Monique ging zu ihren Kollegen zurück.

      „Dustin, ich habe im Haus einen Stein gefunden, der durch eine der Balkontüren geworfen worden ist. Daran muss dieses Blatt Papier befestigt gewesen sein. Sieh dir doch bitte mit deinen Leuten auch das Haus an.“

      „Hatte ich sowieso vor.“

      „Was steht auf dem Papier?“, fragte Anaïk jetzt ihre Kollegin.

      „Schau es dir an, das dürfte die Erklärung für seinen nächtlichen Gang in den Garten sein.“ Monique reichte ihrer Chefin das Papier.

      Komm und sieh dir an, was du angerichtet hast. Auf deinem Kiesweg im Garten kannst du dein Werk bewundern!

      „Damit ist Malencourt in den Garten gelockt worden. Sein Mörder hat auf ihn gewartet, und als Malencourt dann an dieser Stelle angekommen ist, hat er den Stein losgelassen, und der hat Monsieur Malencourt erschlagen. Dustin, meinst du, dass du an dem Stein Fingerabdrücke sichern kannst? Der Stein muss ja hierhergetragen worden sein“, wandte Anaïk sich an den Kollegen.

      „Ich kann es versuchen“, erwiderte Dustin und sah den Stein mit seinen scharfen Kanten an.

      „Er hat beim Transport bestimmt Arbeitshandschuhe getragen. Wir holen den Stein runter und nehmen ihn mit. Dazu brauchen wir aber eine Leiter", meinte Dustin weiter.

      „Eine Leiter? Ja klar, und wie hat der Mörder den Stein befestigen können? Hatte der Mann auch eine Leiter dabei?“

      „Nicht zwangsläufig, Anaïk, sieh mal, der Stein ist am Gurt befestigt gewesen. Der Mörder hat das freie Ende des Gurtes über den Ast geworfen und den Stein hochgezogen. Dann hat er das freie Ende des Gurtes durch die Verknotung am Stein geschoben. So hat er keine Leiter gebraucht.“

      „Und wenn du jetzt den umgekehrten Weg nimmst, dann brauchst du auch keine Leiter“, meinte Anaïk und sah Dustin an.

      „Stimmt, aber ich möchte keine eventuellen Spuren auf dem Gurt zerstören. Vielleicht hat er seine Handschuhe ja beim Verknoten ausgezogen. Ich möchte den Gurt lieber dort oben durchtrennen“, antwortete Dustin und zeigte zu dem Ast hoch.

      „Gut, wir lassen dich alles in Ruhe erledigen und machen uns auf den Rückweg ins Kommissariat.“

      Kapitel 4

      Anaïk Bruel stand vor ihrer großen Pinnwand und betrachtete die Eintragungen zu ihrem neuen Fall. Einen Toten in Névez hatte es bei der police judiciaire seit den Serienmorden vor einigen Jahren nicht mehr gegeben. Damals waren innerhalb kürzester Zeit drei Männer, an dem zur Gemeinde Névez gehörenden Küstenabschnitt zwischen dem Plage de Tahiti und dem kleineren Strand bei Rospico, ermordet worden. Der Fall ist in die Geschichte des Kommissariats als Die Möwenspur eingegangen. Er war von ihrem Vorgänger, Ewen Kerber, bearbeitet worden. Die endgültige Lösung des Falles hatte damals über drei Jahre lang gedauert. Paul Chevrier, der Mitarbeiter von Kerber, der heute in Brest tätig ist, hatte ihr bei ihrer ersten Zusammenarbeit mit der police judiciaire von Quimper davon erzählt. Die Besonderheit der Mordserie war damals, dass die Ermordeten alle mit Fischabfällen bedeckt gewesen sind.

      Jetzt gab es also wieder einen Mordfall in der touristischen Kleinstadt unweit von Pont-Aven. Der Tote war zwar nicht mit Fischabfällen bedeckt, dafür lag eine weiße Rose neben der Leiche. Ein beträchtlicher Unterschied, zumindest für die Nase.

      Anaïk sah sich die Bilder von der Leiche und der Mordwaffe an. Ein Gesteinsbrocken von mindestens 20 Kilogramm. Der Transport des Steins und die Befestigung hatten Zeit in Anspruch genommen. Da das Opfer zwischen 23 Uhr und Mitternacht zu Tode gekommen war, und die Dunkelheit erst gegen 22 Uhr 30 eingesetzt hat, müssen die Vorbereitungen in nur einer halben Stunde geschehen sein. Sie könnten einen Aufruf in der Zeitung veröffentlichen, mit der Bitte um Zeugen, die um diese Zeit etwas Auffälliges vor dem Anwesen von Monsieur Malencourt beobachtet haben. Vielleicht hatte jemand ein Fahrzeug gesehen oder beobachtet, dass eine Person einen Stein transportiert hat. Einen Versuch wäre es wert.

      Monique Dupont betrat das Büro ihrer Chefin und sah sie vor der Pinnwand stehen.

      „Hast du schon etwas entdeckt?“, fragte sie.

      „Nein, ich überlege gerade, ob wir einen Zeugenaufruf veröffentlichen sollten. Vielleicht hat jemand gesehen, wie der Gesteinsbrocken auf das Terrain gebracht worden ist.“

      „Daran habe ich auch schon gedacht. Ich habe mir auch überlegt, ob es uns weiterbrächte, wenn wir wüssten, woher der Stein stammt. Die Felsen an der Küste haben ja durchaus unterschiedliche Zusammensetzungen. Ich habe den Gedanken aber schnell wieder verworfen.“

      „Wieso eigentlich? Die Idee ist gut. Wir könnten damit eventuell auf den Wohnsitz unseres Mörders schließen“, meinte Anaïk und betrachtete erneut die wenigen Eintragungen. Dann sprach sie weiter.

      „Wir suchen ein Motiv. Das Motiv für den Mord könnte mit der Havarie von Malencourt zu tun haben und mit dem Tod des Retters. Darüber haben wir an der Fundstelle der Leiche schon spekuliert. Ich habe versucht, die Angehörigen des Verunglückten ausfindig zu machen. Ich bin auf seine Frau,