Tekla Reimers

Liebesleben und Geschlechterkampf


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abweichen. Für die menschliche Körperhöhe ist das weltweit gemessen worden. Nehmen wir die gesamte Weltbevölkerung in den Blick, so verschwimmen die statistischen Unterschiede zwischen Frauen- und Männerkörpern. Dann überlappen etliche Mittelwerte der männlichen und weiblichen Merkmale von Bevölkerungen mit verschiedener Abstammung: Bei Asiaten der Äquatorregion sind beide Geschlechter, in Körperbau, Behaarung und Gesichtsbildung, dem femininen Pol angenähert, bei den meisten Afrikanern dem maskulinen. Diese Art der Betrachtung erweist Europäerinnen als gleich groß wie asiatische Männer - auch statistisch. Im Durchschnitt sind Holländerinnen tatsächlich ebenso groß wie Süditaliener; und durchschnittlich hoch gewachsene Afrikanerinnen nilotischer Abstammung überragen die Männer benachbarter Bantuvölker um einen halben Kopf. Solche Beispiele für gleiche Körpergröße von Frauen und Männern mit verschiedener Abstammung lassen sich fast beliebig viele finden.

      Es gibt kaum eine überschneidungsfreie Trennung der Geschlechter in Merkmalen des Körperbaus - zumal wenn Bevölkerungen verschiedener Abstammung beteiligt sind, etwa nilotische Afrikaner und Bantuvölker oder australische Ureinwohner und Südeuropäer. Wenn allein die körperliche Eignung ausschlaggebend wäre, müssten in Gegenden wie New York oder San Franzisko, mit ihrem Völkergemisch aus Asien, Afrika und Europa, die Baukolonnen, Bergleute, Stahlwerker oder Cowboy-Trupps immer auch Frauen dabei haben. Vor allem Schwarze und Nordeuropäerinnen. Überdurchschnittlich große und starke Frauen können sich körperlich zweifellos, in den traditionellen Männerberufen, behaupten.

      Das kulturelle Konzept vollkommen verschiedener Geschlechter, die sich gegenseitig ergänzen, - wie es insbesondere von dem griechischen Philosophen Platon formuliert wurde - verlangt aber nach eindeutiger Unterscheidung weiblicher und männlicher Menschen. In den europäischen Traditionen platonisch-christlicher Ideale der Mädchenerziehung versteckten große, starke Frauen ihre Körperkraft durch Kleidung und Haltung, trainierten ihre Muskeln nicht, schwächen sich heutzutage gar mit Diäten, um ihren Körper den gesellschaftlichen Forderungen für weibliche Schönheit anzupassen.

      2. Erzählung I: Alix wächst heran und überschreitet die weibliche Rolle.

      Wenn ich meine Haare abschneide, immer Hosen trage und auf Bäume klettere, könnte ich doch auch ein Junge werden, dachte Alix, reiten und kämpfen kann ich genauso gut wie die. Ich werde einfach der Sohn sein, den mein Vater sich wünscht! Mit zehn Jahren war ihr noch niemals die Idee unüberwindlicher Geschlechtsunterschiede gekommen. Sie fühlte sich stark und groß genug, es mit den meisten Jungen ihrer Klasse aufzunehmen. So klug wie die war sie allemal. Was ihr noch fehlte, würde sie schon lernen.

      In ihrer kleinen Stadt, an der großen Straße nach Norden schien nahezu jedes Unglück letzten Endes vom verlorenen Krieg herzurühren. Wie Alix vermutete, lag dort irgendwo auch die dunkle Ursache dafür, dass ihr Vater nur Töchter bekommen hatte: Als er in den II.Weltkrieg ziehen musste zeugte er Margarete, die Älteste. Clarissa nachdem er aus der Schlacht um Stalingrad mit knapper Not entkommen war und schließlich sie selbst, Alix, kurz nach seiner Heimkehr aus amerikanischer Gefangenschaft. Ihre Mutter hatte schrecklich gelitten, allein mit zwei kleinen Kindern: unter der Angst vor Bomben, der Sorge um ihren Mann, dem vollkommenen Mangel an allem, was das Leben angenehm machte. – Doch Alix’ Vater war mit dem Ergebnis all der Mühsal überhaupt nicht zufrieden.

      Nach ihrem Entschluss ein Sohn zu werden, benahm Alix sich so frech und laut, wie irgendein Junge. Das ging ein, zwei Jahre ganz gut, dann wurde sie im Schulunterricht, zweimal kurz hintereinander, getadelt. Beim dritten Mal bekämen die Eltern eine Nachricht, von wegen „nicht tragbar für ein Gymnasium“.

      Der Vater fand höhere Bildung für seine Töchter sowieso unnötig. „Mädchen heiraten ja doch“, sagte er und hoffte insgeheim auf Schwieger- und Enkelsöhne für seine Firma, die traditionsreiche Holzhandlung ‚Schulz und Söhne’. Deshalb suchte er unter seinen Töchtern schon lange dringend nach einer Kandidatin fürs Büro. Alix‘ vorzeitiger Schulabgang käme ihm gerade recht und er könnte sie zwingen ihre Ausbildung bei ihm als Buchhalterin zu machen. Da steckte sie lieber erst mal zurück.

      Indessen herrschte Alix’ Mutter im Hause der Familie Schulz. Sie bestimmte über Essen und Kleider, Kinder und Dienstboten. Ganz wie Friedrich Schiller in seinem Nationalepos bürgerlicher Gesittung dichtete: „Drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder...“. Solange Köchin, Waschfrauen und Kindermädchen finanzierbar waren, blühte diese Art innerfamiliäres Matriarchat. Die Mutter führte ihren Haushalt, indem sie Anweisungen gab, wie gekocht, wie gewaschen und wie ihre drei Kinder versorgt werden sollten.

      Bevor Alix eingeschult worden war, während die beiden älteren Mädels bereits zur Grundschule mussten, hatte die Mutter für sich und ihre jüngste Tochter das Frühstück im Salon auftragen lassen. Gemütlich tranken sie ihren Tee mit Milch, plauderten, die Mutter warf einen Blick in die Zeitung. Danach gingen sie zur Schneiderin, manchmal zum Frisör oder machten Besorgungen in der Stadt. In ihren hübschen Kleidchen, mit einer blassblauen Schleife in den blonden Locken, fühlte sich Klein-Alix an der Hand ihrer Mutter, wie eine Prinzessin.

      Dies bürgerliche Glück hatte allerdings nicht lange gedauert: Das letzte Dienstmädchen verschwand ersatzlos Anfang der Sechzigerjahre, denn das deutsche Wirtschaftswunder bot von da an auch ungelernten weiblichen Arbeitskräften besser bezahlte Jobs in Industrie und Gewerbe. Alix’ Mutter stand dann selber am Herd und am Waschzuber. Alles Übrige mussten die Töchter tun: putzen, bügeln und backen, einkaufen, Hund und Viehzeug füttern, Hühner, Gänse, Enten, außerdem die Gartenarbeit für Gemüse, Kartoffeln, Obst. Als Jugendliche schufteten die Mädels wie Mägde.

      So verlebte Alix ihre Kindheit in einer Welt von Frauen: Was ihre Mutter, die Schwestern und Dienstmädchen taten, wollten oder auch nur dachten, bestimmte den Gang ihrer Tage, wurde zum Maßstab ihres Menschenbildes. Denkanstöße, Inspiration, praktische Kenntnisse und Handlungsvorgaben erhielt sie von diesen Frauen. Alles, was im Hause passierte geschah durch ihre weibliche Tätigkeit.

      Zwar setzte der Vater den materiellen Rahmen des tagtäglichen Frauenregiments in Alix’ Familie: durch das verfügbare Haushaltsgeld und seine geschäftliche Tüchtigkeit im Holzhandel bestimmte er über ihren sozialen Status in der Kleinstadt. Doch blieben diese männlichen Voraussetzungen familiärer Existenz dem Ablauf des Alltags weitgehend äußerlich. Sein patriarchalisches Normenkonzept aus deutsch-nationaler Vergangenheit wirkte eher herausfordernd als ehrwürdig auf die Nachkriegsgeneration. Clarissa machte sich einen Sport daraus es zu unterlaufen, Alix schliff ihren rebellischen Geist daran es zu hinterfragen. Die Mutter half ihnen dabei. Sie hatte selbst eine höhere Schule besucht, ihr Abitur glänzend bestanden und von einem akademischen Beruf geträumt - vor der Ehe. Nun hasste sie den nimmer-endenden Stumpfsinn ihrer nichtsdestoweniger notwendigen Hausarbeit.

      Daher mochte es kommen, dass Alix den ‘Menschen an sich’ ganz selbstverständlich weiblich dachte. Ob sie nun über Halbgötter wie Herakles, den trojanischen Krieger Hector oder einen Indianerhäuptling las, sie bemerkte keinen Wesensunterschied zu sich selbst und nahm die Helden - quasi ohne Ansehen des Geschlechts - als persönliche Vorbilder. Allerdings faszinierten sie noch mehr die Märchen und Legenden von Frauen, die ihre Abenteuer in einer Männerrolle bestehen: Amazonen, Walküren oder als Söhne verkleidete Königstöchter. Daran änderten auch monatliche Blutungen nichts, die sich bei Alix mit 13 regelmäßig einstellten. Sie musste dann 5 Tage lang lästige Polster aus Zellstoff zwischen den Beinen tragen – wie ihre älteren Schwestern. Alle Frauen eigentlich. Meist witzelte sie mit Clarissa über solche ‚lustigen Tage’ und nutzte die Gelegenheit körperliche Anstrengungen zu verweigern – Sport, schwimmen, schwere Arbeiten mit Haushaltslasten, Viehzeug oder Gemüseanbau.

      In der kleinstädtischen Langeweile ihrer Pubertätsjahre träumte sie sich als weiblichen Winnetou mit langen, goldenen Haaren, niederfallend bis zur Hüfte, und blitzblau strahlenden Augen. Sie fantasierte sich in eine Wildnis, wo sie allein lebte: Ihre Blockhütte stand versteckt in einem unzugänglichen Tal; es gab ein murmelndes Bächlein worüber sich eine riesige Trauerweide wölbte. Ihre Zweige reichten ringsherum bis zur Erde nieder und bildeten eine grüne Höhle. Daneben graste ihr weißes Pferd. Sie war schlank und hoch