Kurt Mühle

Zelenka - Trilogie Band 1


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      Ohne ein weiteres Wort nahm sie Platz und musterte die Anwesenden. Meinen Wink übersah sie, kramte stattdessen einen Notizblock hervor und legte ihn vor sich auf den Tisch.

      Für einen Moment stockten die Unterhaltungen. Alle Augen richteten sich fragend auf Marion, die so tat, als gehöre sie nicht dazu; das kannte man vor ihr, so war sie früher schon. Also setzten wir unsere Unterhaltungen einfach fort.

      Als das letzte Geschirr abgeräumt war, fragte Frank ahnungslos in die Runde: „Hat denn irgendwer von euch mal wieder etwas von Bruno gehört?“ – Auch mich interessierte diese Frage brennend, ich wollte sie aber nicht stellen, um die gute Stimmung nicht zu verderben. Achselzuckend senkten einige die Köpfe, andere blickten fragend in die Runde; eine Antwort hatte anscheinend niemand. Betretenes Schweigen.

      Frank, der ebenso wie ich am Treffen vor neun Jahren nicht teilgenommen hatte, wollte es nun endlich genauer wissen. „Also”, sagte er, „sieben Leute von uns sind damals mit Ulrich in die stillgelegte Gießerei gegangen, wo’s angeblich Interessantes oder Lehrreiches zu besichtigen gab. Nun ja, Ulrich hatte in dem Laden früher mal gearbeitet. Da konnte er bestimmt so einiges erklären.“

      Ulrich gab sich einen Ruck. „Ja. Anschließend fühlte Bruno sich nicht wohl. Er wollte nach Hause. Maxe und Sebastian, der heute leider nicht hier ist, haben ihn zum Bus begleitet.“

      Maxe, der Buchhändler, nickte: „Wir haben noch gewartet, bis der Bus abfuhr. Seitdem fehlt von Bruno jede Spur. Alle polizeilichen Untersuchungen blieben wohl ohne Erfolg. Traurig. Aber mehr wissen wir auch nicht. Nach neun Jahren besteht da wohl auch wenig Hoffnung.“

      Annegret erhob sich wortlos und verschwand im Restaurant, wohl um einem menschlichen Bedürfnis nachzugehen. Warum machte Maxe so einen langen Hals und schaute ihr misstrauisch hinterher?

      Allmählich lebten die belanglosen Unterhaltungen wieder auf, die ersten frivolen Witze wurden erzählt, und der Bierkonsum hob die Stimmung und die Lautstärke. Warum war eigentlich keiner unserer Lehrer erschienen? – Hatte Frank sie nicht eingeladen?

      Ehe ich ihn danach fragen konnte, saß Marion plötzlich neben mir und fragte kühl und sachlich: „Na, geht’s dir gut?“ Es klang nach formaler Begrüßungsfloskel, aber ich ignorierte es, - vielleicht wollte ich es überhören. Was ich denn beruflich so mache, wollte sie wissen, und als ich ihr erklärte, dass ich mit Automationstechnik zu tun habe, tat sie sehr interessiert, bis mir klar wurde, dass sie irgendetwas Bestimmtes im Sinn hatte. Sie fragte plötzlich ganz harmlos: „Kommst du auch mal in Eisengießereien?“ Als ich das bejahte, wollte sie wissen: „Was machen die da eigentlich mit dem ganzen Sand?“

      Ich war verwundert über diese Frage, erklärte ihr aber, dass mit Sand unter Zusatz von Bentonit und Kohlenstaub die Gussformen für das flüssige Eisen erstellt werden. Anschließend würden die Formen zerschlagen und der Sand in speziellen Sandaufbreitungsanlagen regeneriert.

      „Und wie nennt man die riesigen Behälter, in die der alte Sand gefördert wird?“ Sie sah mich gespannt an. Warum interessierte sie das? Hing es mit Brunos Verschwinden zusammen? Und wenn ja, - woher dieses plötzliche Interesse für Bruno? Sie hatte ihn nie leiden mögen. Außerdem hatte sie am Klassentreffen vor neun Jahren ebenfalls nicht teilgenommen.

      „Altsandbunker“, erklärte ich. Marion bedankte sich kurz, erhob sich und ging ins Haus. Als sei es ansteckend, beschäftigte mich von nun an nur Brunos Schicksal und diese merkwürdige nächtliche Besichtigung einer stillgelegten Gießerei. Ich saß wohl recht grübelnd vor meinem Bier, dass mich kaum jemand ansprach oder - wenn doch – ganz schnell den Versuch aufgab, mit mir ins Gespräch zu kommen. Im Dunkeln durch eine alte dreckige Gießerei zu stapfen, - das ist doch Wahnsinn! Angeblich hatte Ulrich für jeden eine Taschenlampe und einen Schutzhelm besorgt. Trotzdem, an dem ganzen Unternehmen konnte ich weder Sehenswertes noch Lehrreiches entdecken, allenfalls das zweifelhafte Abenteuer einer Art von Geisterbahn-Grusel.

      War’s eine spontane Idee gewesen, vielleicht aus einer Alkohol-Laune heraus? Nein, dagegen sprachen die Vorbereitungen: Zu erkunden, wie man auf die abgeriegelte Industriebrache gelangt, das Besorgen von Helmen und Taschenlampen. „Seid ihr nicht total eingesaut aus der Gießerei zurückgekehrt?“, fragte ich Maxe.

      „Nee, da im Betriebsbüro lag noch alte Schutzkleidung herum, die wir ...“ Er stockte; denn Marion stand plötzlich vor ihm.

      „Deine Freundin hockt drinnen an der Bar und besäuft sich.“ Ich erschrak, wie unsensibel, wie kalt und sachlich sie das sagte und dass sie es so laut sagte, dass es alle hören konnten. Was wollte sie? Weshalb war sie überhaupt hier? Das ganze Treffen interessierte sie offensichtlich nicht. Wir alle interessierten sie nicht. Sie hatte anscheinend ganz anderes im Sinn. Unverblümt fragte ich sie danach.

      „Das wirst du früh genug erfahren.“ Schon wandte sie sich ab. Was war das denn? Es klang wie eine Drohung? Eine Drohung gegen mich?

      Ich bestellte mir noch ein Bier, womit zugleich beschlossen war, dass ich mein Auto stehen lassen und mit dem Bus nach Hause fahren würde. Nie wieder zu einem Klassentreffen, schwor ich mir. Laut schluchzend kam Annegret zurück, mühsam gestützt von Maxe, der eine drohende Handbewegung zu Marion machte und etwas wie „Unverschämtheit“ rief. Auch Andreas bemühte sich sogleich um Annegret; sein alter Groll gegen Marion kam wieder hoch.

      Ich schaute hilflos in die Runde. Frank versuchte, wieder ein Gespräch in Gang zu bringen. Juliane blickte irritiert von einem zum anderen. Dieter im Rollstuhl hatte einen krebsroten Kopf, auf seiner Stirn glitzerten Schweißperlen. Oliver versuchte, Claudia zum Aufbrechen zu überreden, während Britta bierselig zu faseln begann von Spaß, Spielchen und Sex wie damals. Ulrich wurde ärgerlich; er und Daniel versuchten vergeblich, sie zum Schweigen zu bringen. Was brodelte da im Untergrund?

      Marion saß wieder am Ende des Tisches. Der Vollmond spiegelte sich glitzernd in ihren Augen. Eine Katze auf der Lauer ...

      Plötzlich erhob sie sich, ging einmal um uns alle herum und warf dabei einige ihrer Visitenkarten auf den Tisch.

      „Vor einer Woche wurde mit dem Abriss der Gießereianlagen begonnen”, sagte sie währenddessen. „Dort werden mal Wohnungen gebaut. Beim Zerlegen des Altsandbunkers wurde ein männliches Skelett gefunden, bekleidet mit einem Plastik-Schutzanzug. Daneben lagen die rostigen Reste einer Taschenlampe.“

      Ich nahm eine der Visitenkarten und las: Marion Zelenka, Leitende Hauptkommissarin K21, Kriminalpolizei Duisburg. Und während ich überrascht aufsah, fuhr sie mit schneidend scharfer Stimme fort: „Wir sehen uns wieder. Aber eines verspreche ich euch: Wenn ihr mir im Präsidium die gleichen Märchen erzählt, die ihr damals meinen Kollegen aufgetischt habt, dann - gnade - euch - Gott!“ Nun wandte sie sich direkt an mich. „Fährst du mit mir?“

      Ich nickte, denn ich wollte hier so schnell wie möglich weg. Also klopfte ich kurz auf die Tischplatte und folgte ihr. Als ich neben ihr im Auto saß, holte sie tief Luft und meinte betrübt: „Ich hab’ so eine Ahnung, dass ich erst am Anfang einer verdammt unangenehmen Aufklärung stehe. Zum Glück hast du damit nichts am Hut.“

      „Kannst du den Fall nicht einfach abgeben? - Ich meine, weil du ...“

      „Kann ich. Will ich aber nicht“, unterbrach sie mich patzig, und ich dachte nur: typisch Marion. -

      Ich weiß, dass irgendwann gegen einige meiner ehemaligen Mitschüler polizeilich ermittelt wurde. Aber ich wollte von diesem unerfreulichen Thema nichts weiter hören; denn nichts verband mich mehr mit diesen Menschen. Schlimmer noch: ich wollte niemanden von denen wieder sehen.

      Die einzige Ausnahme blieb Marion. Erst Jahre später erfuhr ich, welch dramatische Folgen diese unerfreuliche Geschichte für sie noch haben sollte.

      Doch viel früher schon begann ich, über diese faszinierende Frau zu schreiben.

       Luise

      Lehrjahre sind keine Herrenjahre, das gilt auch bei der Polizei. Und so ertrug es die junge Kommissar-Anwärterin geduldig, mit dem dickleibigen Polizeihauptwachtmeister