Kurt Mühle

Zelenka - Trilogie Band 1


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vornehmen. Gab es woanders Vergleichbares? - Sie begann sofort, die Akte von Seite 1 an zu studieren, als in diesem Augenblick der Dezernatleiter, Kriminalrat Dr. Sowetzko, das Großraumbüro betrat. Schmölder hatte ihn nicht bemerkt; er sagte ärgerlich: „Sie müssen das nicht alles erst studieren, - die letzten fünf Seiten sagen alles Wesentliche dazu aus.“

      Marion sah ihn an und antwortete sehr bestimmt aber ruhig mit der angenehmen Stimme einer Nachrichtenmoderatorin: „Wenn ich mich dem Fall widme, lese ich die ganze Akte, vom ersten bis zum letzten Buchstaben, – selbst wenn ich dafür Überstunden machen müsste.“

      „Vergessen Sie nicht, dass ich als Ihr Vorgesetzter bestimme, was Sie zu tun haben, junge Frau!“

      „Sie können mir Aufgaben geben, aber ich lasse mir nicht vorschreiben, wie ich sie zu erledigen habe, Herr Vorgesetzter.“

      „Ach, machen Sie, was Sie wollen.“ Schmölder wandte sich um. „O, Herr Kriminalrat – guten Morgen! Wie geht’s zu Hause? Schönes Wochenende gehabt?“

      ‚Schleimscheißer’, fuhr es Marion durch den Kopf.

      Schon bei der ersten Durchsicht fielen ihr Ungereimtheiten auf. Das gestohlene Fluchtauto wurde in einem Waldstück schon gesichtet, als der Überfall noch gar nicht stattgefunden hatte. Im Fluchtauto lag ein Zehn-Euroschein, zusammen mit einem alten Quittungsbeleg der betreffenden Tankstelle. Da wollte jemand nachdrücklich darauf verweisen, dass dieses Auto zu diesem Überfall gehört, obwohl das zeitlich gar nicht sein kann, dachte Marion voller Misstrauen und rollte daraufhin eigenmächtig die Ermittlungen neu auf.

      Drei Tage später hatte Marion den Tankstellenpächter zu einer Vernehmung vorgeladen. Petzold saß als Vernehmungszeuge etwas ratlos dabei und wunderte sich über das gewaltige Repertoire an Fangfragen, das Marion zur Verfügung hatte. Ganz genau wollte sie bestimmte Schritte und Zeiten wissen. Der Betroffene verhedderte sich bald in Widersprüche.

      Nach Stunden harten Verhörs fuhr Marion ihn an: „Sie haben sich Ihrer Frau entledigen wollen. Sie – Sie selbst haben sie erschlagen und den Raubmord nur vorgetäuscht. Das Fluchtauto im Wald, - zufällig gleicher Wagentyp und gleiche Farbe wie Ihr Wagen, - das sollte uns nur in die Irre führen. Geben Sie’s zu! Ich beweise es Ihnen sowieso ... –Tathergang, Fluchtauto, Ihr Alibi – nichts passt zu einer Raubmord-Theorie ...“

      Der Beschuldigte bestritt heftig alle Schuld, doch gnadenlos begann Marion die Befragung aufs Neue, jeden Widerspruch bis ins letzte Detail penetrant hinterfragend. Eine weitere Stunde später gestand der Mann; völlig zermürbt erzählte er den wahren Tathergang. Petzold unterdrückte mühsam ein Gefühl von Hochachtung für seine neue Kollegin.

      Schmölder plagten am anderen Tag ganz andere Gefühle; er sah sich blamiert. Marions Alleingang nahm er zum Anlass, eine offizielle Beschwerde an den Dezernatleiter zu richten. Gelassen sah sie diesem Verfahren entgegen.

      Weniger gelassen betrachtete sie dagegen ihre private Situation. Ihr Lebenspartner Henning verfiel mehr und mehr in Lethargie, wollte von Marions Karriere nichts hören und stemmte sich gegen Umzugspläne nach Duisburg, geschweige denn war er bereit, trotz seiner vielen Freizeit sich um eine geeignete Wohnung zu bemühen. Marions Freunde, Peter und Luise, bekamen das aufziehende Gewitter mit und boten an, Svenja mit in Urlaub zu nehmen, - ins angemietete Ferienhaus in Dänemark, wo genügend Platz für alle sei. Svenja war sofort Feuer und Flamme, und damit waren wenigstens ihre Ferien gesichert.

      Tage später, als Kriminalrat Sowetzko wieder mal in dem Großraumbüro des K21 vorbeisah – was er nun verdächtig oft tat -, sprach ihn Schmölder lautstark auf seine bislang unbeantwortete Beschwerde an.

      Nun packte Marion doch der Zorn. Vor versammelter Mannschaft warf sie ruhig, dennoch mit aller Schärfe ein: „Herr Schmölder, eine so lasche bürokratische Arbeitsweise wie hier bin ich nicht gewohnt! Sie waren mit dem Tankstellenfall betraut und haben ihn nicht gelöst. Stattdessen haben Sie mir die Akte in die Hand gedrückt, um sie letztlich als unerledigt zu archivieren.“

      „Was Sie nicht getan haben, entgegen meiner Anweisung?!“

      „Weil ich mir ein eigenes Bild machen wollte. Und wenn das hier im K21 verboten ist und man lieber auf unerledigten Fällen sitzen bleibt, dann bekennen Sie sich dazu und wiederholen Ihre Beschwerde!“

      Atemlose Stille. Marion sah Dr. Sowetzko provozierend an, - wie eine Aufforderung zu einer Stellungnahme; er aber stand mit finsterer Miene da und schwieg. Schmölder lief krebsrot an, blickte in die Runde und meinte kleinlaut: „Ich verzichte, aber Sie werden hier nicht länger meine Autorität untergraben!“

      Am Tag darauf meldete er sich krank, und da platzte dem Kriminalrat der Kragen. Er nahm sich vor, Gerd Petzold in aller Kürze vorzeitig zum neuen Leiter dieses Kommissariats zu ernennen.

      Am anderen Morgen war Petzold frühzeitig unterwegs zu einem Einsatz. Bis auf Marion war das Büro leer, als Dr. Sowetzko eintrat. Er blieb im Türrahmen stehen und verfolgte interessiert ein Telefonat, das sie gerade führte. Offensichtlich sprach sie mit einem Vertreter der Lokalpresse, der sich zu beschweren schien, dass man ihn nicht über den neuesten Stand in der Tankstellenmord-Affaire unterrichtet hatte.

      Der Anrufer schien einen sehr langen Atem zu haben; denn schließlich bemerkte Marion ärgerlich: „Hören Sie, Herr Junkers, was wir Ihnen sagten, entspricht der Wahrheit. Und merken Sie sich: Alles, was ich Ihnen sage, muss wahr sein, - aber ich muss Ihnen längst nicht alles sagen, was wahr ist! Richten Sie bitte darauf künftig Ihre Fragestellungen ab, - oder beschweren Sie sich beim Polizeipräsidenten. Ich glaube, damit ist alles gesagt. Herr Junkers, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

      Unbemerkt schloss der Kriminalrat die Tür. In den nächsten Tagen sah man ihn auffallend oft hier im K21, wenn er nicht gerade in Personalakten stöberte. Man merkte ihm an, dass er angestrengt nachgrübelte, - dass ihm eine schwierige Entscheidung bevorstand. Sollte es nach Schmölders Ausscheiden unter einer neuen Führung im alten Trott weitergehen?

      Seit Jahren passte ihm die zwar preußisch korrekte, aber schematische und fantasielose Arbeit im Kommissariat nicht. Bot dieser Zeitpunkt die Gelegenheit, hier etwas grundsätzlich zu ändern? Wäre aber dazu Schmölders langjähriger Adlatus der Richtige?

      Für 15:00 Uhr am Freitagnachmittag bestellte er Gerd Petzold und Marion Zelenka gemeinsam zu sich. Ohne weitere Umschweife eröffnete er den beiden, dass er sich nach reiflicher Überlegung entschlossen habe, Marion Zelenka mit sofortiger Wirkung als Hauptkommissarin zur Leiterin der Sektion Kapitalverbrechen K21 zu ernennen, sofern sie sich das zutraue und zustimme. Petzold schluckte; er war maßlos enttäuscht. Aber Kriminalrat Dr. Sowetzko duldete keinerlei Diskussion über seine Entscheidung. Er erwarte vielmehr von ihm kollegiale Zusammenarbeit mit Frau Zelenka und dass er sie in Abwesenheit verantwortungsvoll vertrete.

      Marion traf die Ernennung wie ein Blitz. Zwar hatte sie ein solches Ziel im Eifer ihres Studiums und ihrer zahlreichen Fortbildungsseminare insgeheim erstrebt, aber mit der Erreichung vielleicht in zehn Jahren gerechnet. Doch es entsprach ihrem Selbstbewusstsein, nach ein paar Schrecksekunden mit klarer Stimme zu antworten: „Danke für das Vertrauen. Und ich werde das schaffen - ganz gewiss.“

      Allgemeines Händeschütteln auf gute Zusammenarbeit und Erfolg, dann war die Besprechung beendet. Petzold verließ als erster den Raum, Marion wurde von Dr. Sowetzko noch kurz zurückgerufen. „Ach, Frau Zelenka – noch etwas: Bleiben Sie kollegial, und erwarten Sie bloß nicht, dass irgendwer Ihnen ab morgen den Kaffee kocht! Seien Sie klar, gerade, unnachgiebig und eindeutig in Ihren Aussagen – so wie neulich bei dem Junkers, diesem Lokal-Pressefritzen. – Behalten Sie einen klaren Kopf, was auch geschieht. Und denken Sie – wie ich das bei Ihnen bisher beobachten konnte – immer ein paar Schritte voraus. Wenn Sie das beherzigen, wird’s schon klappen, und Sie werden in mir stets einen Rückhalt haben.“

      Marion nickte zustimmend. Der Kriminalrat wäre nicht er selber, wenn er nicht auch gleich die erste Rüge für die neue Kommissariatsleiterin parat gehabt hätte: „Ach, Moment noch, solche Gespräche wie mit dem Junkers von der Presse führen Sie bitte künftig nur unter Zeugen! Gerade dieser Junkers ist ein ziemlich schräger Vogel! Sonst könnten Sie sich eines Tages