Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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senkten. Wie ein seltsam fremdes Menschenkind mutet mich jenes Kerlchen an, das damals vielleicht ich selbst gewesen bin. Es hat, während ich aus Aufzeichnungen, Erinnerungen und Träumen nachzeichnete, merkwürdig typische Züge angenommen. Als ein echtes Kind der Mutter Schläsing erscheint es mir, das, wie die meisten Sprösslinge dieser schönen Mutter, ein Stückchen Dichter war, wenig für das Leben taugte und dennoch, nach richtiger Schlesierart, nicht zugrunde ging.

      So kündet dieses Seelenjahr: wie die kleine, unwissende, unreife, zaghafte, traumfällige schlesische Menschenseele beschaffen war, ehe sie aus der Enge der Heimat, aus Beschränkung und Unwissenheit, hinaus flatterte in den Trubel der Welt, und wie sie sich draußen in der Fremde wandelte. Vielleicht auch hat sich unwillkürlich eine kulturgeschichtliche Farbe über die Grundzüge dieses Buches gelegt. Vielleicht ist es ein bodenständiges und vaterländliches Buch und das letzte umfangreiche Zeugnis von Wanderpoesie, die sich mit dem Wesen der neuen Zeit nicht vertrug und daher weichen musste; vielleicht ist es gar eine Naturgeschichte des kleinsten deutschen Mannes.

      * *

      [Eines Schulhauses und eines Pfarrhauses sei hier in Freudigkeit gedacht. Das eine steht in einem weltentlegenen Dörfchen des Schlesierlandes, das andere fern in einer schwäbischen Stadt. Im Schulhase wohnte mein Herzensfreund Johannes, der edle Schulmeister, der heut unter dem angenommenen Namen Philo vom Walde ein ruhmbekannter Dichter und insbesondere ein Lieblingspoet der Schlesier ist; im andern waltete mein trauter Hans Rudolf Schäfer, der weise Stadtpfarrer und feingeistige Schriftsteller, bei frommen und gelehrten Büchern. Im Schulhause und im Pfarrhause fand der Wanderer, von einem gebenedeiten Glücksstern hingeleitet, zum ersten Mal auf seiner Irrfahrt eine sichere Seelenheimat. Ich grüße die treuen Freunde!

       P.B.

       Anton Lindner

       dem Dichter und Menschen

       widme ich

       . . ein armer Mann, wie Hamlet . .

       dieses Jahr einer Seele

       als Zeichen unwandelbarer Freunschaft

       und innigster Kameradschaft

      (nur in der Ausgabe von 1905)]

      Junge Dichter

      Unser Meister war verschwunden. Alle Gemüter im ganzen Hause waren stark erregt. Die Leute tuschelten einander sonderbare Geschichten zu. Eine alte Marketenderin, die ein Stück unseres Holzschoppens gemietet und darin einen Kaffeeschank für die Soldaten der nahen Kaserne errichtet hatte, wollte mit aller Bestimmtheit wissen, dass der Teufel den Meister geholt habe. Das sei immer so bei den Freimaurern. Eines Tages seine sie fort; man wisse ganz gut wohin. Wenn sie daran denke, dass dieser hübsche Mann im höllischen Feuer büßen müsse, so möchte sie immerfort weinen. Wer habe ihn aber auch geheißen, unter die Freimaurer zu gehen! Der Schneidermeister erklärte, es sei richtig, dass unser Meister vom Teufel geholt worden. Doch er meinte den Schuldenteufel.

      Droben am Fenster des Wohnzimmers saß Cäcilie, die Köchin, und weinte. Zuweilen blickte sie nach dem Fenster der Werkstatt über den Hofraum, wie sie es seit Jahren so gewohnt war. Aber sie tat es nicht mehr in der Absicht, uns durch ihre Blicke zum Fleiß aufzumuntern. Ihre Augen waren dunkel umrandet von vielen Weinen, und wir kamen allmählich zu der Ansicht, dass sie Gewissensbisse empfinde und uns um Verzeihung bitten möchte für das viele Unrecht, das sie an uns begangen.

      O, sie war falsch und schlecht gewesen zu uns Lehrjungen! Wir erinnerten uns jetzt daran, wie sie uns behandelt hatte, so oft der Meister in Geschäften ausgegangen oder verreist war. Für zwei von uns hatte sie dann beständig Arbeit gehabt. Wir mussten Kartoffeln schälen, den Ofen heizen, Kohlen aus Keller holen, Wasser tragen, zum Krämer gehen und Nachrichten zu ihrer Mutter bringen, die in der Vorstadt wohnte. Unterdessen spielte sie mit dem Dienstmädchen Karten. Mit ihrem Dienste beschäftigt, versäumten wir unsere Arbeiten in die Werkstatt, und wenn dann der Meister zornig wurde und uns schwere Nachtarbeiten zur Strafe auftrug, duften wir uns nicht einmal verteidigen. Er glaubte stets nur den Worten Cäciliens; uns hielt er für Lügner und Faulenzer. Cäcilie aber log ihm jedes Mal vor, sie hätte uns höchstens fünf Minuten lang in Anspruch genommen. Wir seien eben – schrie sie dann zum Fenster herab – eine stinkträge Bande; wir müssten geprügelt werden und dürften drei Tage lang nicht zu essen kriegen. Den Gehorsam durften wir ihr nicht versagen; das litt der Meister nicht. Eine Widersetzlichkeit gegen Cäcilie bestrafte er viel strenger, als eine Nichtachtung seiner eigenen Befehle.

      Jetzt freuten wir uns über ihr Unglück, spotteten ihrer und wünschten, dass sie als Köchin in einem Hause Dienst fände, wo sie ebenso schlecht behandelt werden möge, wie wir von ihr behandelt worden… Die Arme! Sie hatte Ursache, sich der Trauer hinzugeben. Die Hoffnung, dass der Meister sie heiraten werde, war zerschlagen. Ach, und die Schmach! Wusste sie doch, dass die Menschen jetzt mit Finger auf sie zeigen würden. Die Marketenderin sagte uns vertraulich, dass der Vogel mit den langen Beinen schon unterwegs sei; nach ihrer Schätzung könne er bereits in wenigen Wochen bei der Cäcilie eintreffen. Der Meister war Montagabends fort gegangen, angeblich in die Loge, und nicht zurückgekehrt. Acht Tage war das schon her. In den ersten Tagen war Cäcilie der Meinung gewesen, er habe als Freimaurer von Loge einen geheimen Reiseauftrag erhalten; dann aber hatten ihr einige Logenbrüder bestimmt erklärt, dass dieser Glaube falsch sei. Am Ende der Woche war sie durch Zufall zu der Entdeckung gelangt, dass er aus dem Schreibtisch alles Geld und alle wichtigen Papiere mitgenommen, und nun glaubte sie, er sie ins Ausland entflohen.

      In der Werkstatt ging bunt und toll zu. Von den fünf Gesellen hatten sich drei entfernt; nur der lange Lorenz und der polnische Lukas waren zurückgeblieben. Diese beiden saßen auf ihren Hobelbänken, tranken „Gemischten“ und fluchten auf den verschwundenen Meister. Der lange Lorenz, der gern und mit Stolz in den Erinnerungen einer herrlichen Vergangenheit schwelgte, erzählte wieder einmal allerlei Bruchstücke aus seiner reichen Lebensgeschichte und zog dabei Vergleiche zwischen sich und dem Meister. Er sei ein berühmter Fabrikbesitzer und ein großer Kapitalist gewesen; mit Champagner und Rotwein habe er ein gewaltiges Vermögen fortgeschwemmt; in der Equipage sei er gefahren; sieben Wohnungen und sieben Weiber habe er gehabt, ohne die übrigen Liebsten, und zuletzt sei er fechten gegangen. Für seine Arbeiter und Gesellen aber habe er gesorgt, bis letzten Augenblick. Tief in den Rachen hinein würde er sich schämen, wenn er damals beim großen Krach feige fortgelaufen wäre und seine Leute in Stich gelassen hätte. So etwas bringe nur ein ganz gemeiner Lump fertig.

      Der polnische Lukas hörte nicht zu, wenn der lange Lorenz erzählte; er beschäftigte sich nur mit sich selbst, schüttelte den Kopf und knirschte hörbar mit seinem schneeweißen Zähnen. Ab und zu hieb er in raschen und kurzen Wutanfällen mit dem Hammer auf die Hobelbank. Am sechsten oder siebenten Tage nach dem Verschwinden des Meisters wurde er plötzlich so wütend, dass er den Hammer ergriff und das kunstvoll zusammengefügte Gestell eines Zimmerspringbrunnens, das er mühsam gebaut hatte, in kleine Stücke zerschlug. „Psiakrew, die Bestie!“ schrie er. „Krieg’ ich noch nix bezahlt! Soll sich holen Diable ganze verfluchtige Arbeit!“

      Uns Lehrjungen behagte das alles. Wir hatten die uns aufgetragenen Arbeiten vollendet; nun konnte wir mit ruhigem Gewissen müßig gehen. Cäcilie kümmerte sich wenig um uns; nur wenn sie eines Dieners oder Boten bedurfte, ließ sie einen von uns durch das Dienstmädchen rufen. Sie kochte das Essen, wie sie es sonst getan hatte, und wir bekamen auch unsern Vesperkaffee. Bei Tisch konnten wir uns jetzt nach Belieben satt essen. Das war früher nicht immer möglich gewesen. Die Sitte gebot, dass ein Lehrling nicht öfter als zweimal während des Mittagessens seine Teller aus der Schüssel füllen durfte. War einer beim Füllen des Tellers zufällig von Meister oder von Fräulein Cäcilie angeblickt worden, so hatte ein solcher Blick lähmend eingewirkt auf die Hand des Jungen, und dieser war dann mit ungestillter Esslust vom Tische weggegangen. Das kam jetzt nicht mehr vor, da Fräulein Cäcilie aus Gram oder Scham dem Tische fern blieb, wir also unsere Teller bis an den Rand füllen konnten. Solches Leben gefiel uns, und die Frage, wie es einmal enden solle, machte uns keine Sorgen.