Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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wieder durch den Sinn klangen und manchmal so kräftig ertönten, dass sie mich im Genuss anderer Gedichte störten. Am ärgsten trieben es Verse, wie:

      Nasse Schauer schauern fürchterlich

      Durch sein gram geschmolzenes Gerippe,

      Sein’ Silberhaare bäumten sich - -

      und:

      Josef, Josef! Auf entfernte Meilen

      Folge dir Luisens Totenchor,

      Und des Glockenturmes dumpfes Heulen

      Schlage schrecklich mahnend an dein Ohr

      und:

      Tote Gruppen sind wir, wenn wir hassen,

      Götter, wenn wir liebend uns umfassen.

      Das waren – ich empfand es mit überzeugender Macht – Worte der Befreiung, der Erlösung; sie brachten meine Seele zur Raserei, bis sie hinaus wollte aus ihrem engen Körperhause, - hinaus zu den Menschen, um ihnen frohlockend zu künden, dass sie Götter seien, wenn sie einander nicht mehr hassten, sondern liebend umarmten. An Johann dacht ich, der oft niederträchtig zu mir gewesen und mir erst am Tage vorher zwei Eier gestohlen. Eine fremde Henne hatte sie in unseren Schuppen gelegt, und ich fand sie auf. Das eine schenkte ich ihm; er aber nahm beide und trank sie aus. Ähnliche böse Taten waren oft von ihm begangen worden. Nun aber sollte er hören aus meinem Munde, was Schiller sagt; er sollte sein Unrecht erkennen lernen, Reue empfinden, mich umfassen und mit mir ein Gott werden.

      Der Körper, in dem sich in solcher Weise die verzückte Seele wild und wollüstig gebärdete und alle Seligkeiten kostete, lag unbeweglich unter der Hobelbank; einzig nur die Finger regten sich beim Umblättern der Seiten. Das „Lied an die Freude“ wirkte fast betäubend auf mich durch seine berauschende Liebesmacht. Ich las es ein zweites Mal, und Wort um Wort prägte sich mir ins Gedächtnis ein. Aus der „Zerstörung von Troja“ und „Dido“ las ich nur wenige Strophen. Ich fand mich nicht zurecht darin, und da die beiden langen Gedichte nicht von Schiller waren, wie ich aus der Vorbemerkung ersah, überschlug ich sie, um schneller vorwärts zu kommen. Bei den erzählenden Gedichten fesselten mich nicht so sehr die erzählten Vorgänge, als das prachtvolle Wortgepränge, und immer waren es nur einzelne Verse oder Strophen, die mich begeisterten. Mit süßem Behagen genoss ich die lyrischen Gedichte, und unter diesen war es namentlich das kleine „Punschlied“, das mich durch seine niedlichen, flott klingenden Verse entzückte. Den Sinn des Gedichtes verstand ich nicht; ich unternahm auch keinen Versuch, ihn zu enträtseln, da ich mein bestes Wohlgefallen an Takt und Reimklang fand. Anders war es bei dem Liede von der Glocke. Bei den ersten Strophen wiegte sich mein Gefühl im Takte und achtete viel mehr auf den Klang der Reime, als auf den Sinn der der Worte. Bald aber nahm mich dieser Sinn gefangen und hielt mich so fest, dass ich die Singweise, nach der ich zu lesen begonnen hatte, ganz vergaß und mit trunkener Seele nur die Bilder schaute, die da in hochherrlicher Schönheit hingezaubert waren. Der urmächtig schauervolle Aufruhr aller Seelengewalten, den einzelne Gedichte auf den ersten Blättern des Buches in mir erzeugt hatten, wiederholte sich nicht beim Liede von der Glocke. Viele Stellen zwar erschütterten mich; der klare Sturm der Freude jedoch, der durch das Gemüt brauste, wurde durch solche Trauer nicht gehemmt. Wieder und wieder schweißte der Blick über die prunkhaften Strophen hin, und binnen weniger Minuten war ich mit jeder einzelnen innig vertraut. Ich konnte die Augen schlissen und sah doch Wort für Wort, Zeichen für Zeichen stehen; ich konnte das Buch zuschlagen und ganze Teile des Gedichtes hersagen, ohne Fehler, ohne zu stocken.

      O Johann, o Franz! Ihr sollt ein Wunder erleben!

      Weite las ich – weiter! An den ungereimten Gedichten glitt ich rasch vorbei, - scheu, wie der Sünder am Kirchentor. Mir ahnte, dass in ihnen das Geheimnis der Bildung verborgen sei, und dass ich es vielleicht finden könnte, wenn ich mich in die Gedichte vertiefte; doch sie berührten mich fremd und seltsam. Ein Unbehagen kam über mich, wenn ich am Schlusse der Zeile keinem Reime begegnete, die Worte aber wirkten auf mich, wie ein wirres Geräusch von sinnlosen Lauten. Der Vers gewann für meine Empfindungen nur durch den Reim Bedeutung und Leben. In „Semele“ ließ ich die Reimlosigkeit gelten, da ich mir sagte, dass ein Theaterstück nicht gereimt zu sein brauche. Schon zweimal war ich im Theater gewesen, hatte den „Onkel in der Klemme“ und „Hasemanns Töchter“ gesehen, wusste daher in Theaterdingen Bescheid. Der Schluss in „Semele“ rührte mich zu Tränen. – Dann kamen die „Räuber“, die berühmten Räuber! Von diesen hatte ich schon gehört oder gelesen, doch erst aus der Vorrede erfahren, dass Schiller sie geschrieben. Wie mir ums Herz war, mag einem Menschen zumute sein, der in fremder Welt urplötzlich einem hoch verehrten Freunde begegnet, den er nun beglückt die Hände, den Mund und die ganze Seele darbietet.

      Wie ich nur so ruhig unter der Hobelbank liegen bleiben konnte, während meine Innenkräfte in tollster Empörung wüteten und mit dem herrlichen Helden Karl Moor sich in heiligen Zorne auflehnten wider Gesetz und Sitte! Ja, so war die Welt – so schlecht, so verabscheuungswürdig, so falsch und so heuchlerisch! Der Edle, sagte ich mir, muss dulden und wird verkannt; der heimtückische Bösewicht gilt als guter Sohn, als braver, redlicher Mensch! Ach, und Amalia!… Eine Amalia zu besitzen, ihr schwingen, ihr glühende Liebesbriefe zu schreiben - - ich musste innehalten und an meine Jugendfreundin Marie denken. Mit den Augen des Geistes sah ich, wie sie auf der Wiese bei den Kühen saß und gebratene Äpfel aß, und wie aus dem Walde drei Tiger, vier Leoparden, fünf oder sechs Löwen und viele Wölfe auf sie zugestürzt kamen und sie zerfleischen wollten; ich sah, wie sie mir in die Arme sank, mich dankbar und feurig umschlang, und ich vernahm, wie sie mit ihrer Engelstimme sagte, dass sie nur mir angehören wolle, und dass ich der tapferste aller Ritter sei, und dass - - - o Schreck! Die Lampe ging aus. Noch viele Seiten waren die Räuber lang… Bei schwelend verglimmendem Lichte nahm die Umwälzung meiner Gefühlswelt ihren Fortgang. Bei den letzten Blättern glomm die Lampe nur do dürftig, dass ich alle Sehkraft anwenden musste, um die Buchstaben zu erkennen. Mühselig drang ich vorwärts, und nur dadurch, dass ich viele Sätze ungelesen ließ, erfuhr ich das Ende des Stückes und erreichte das Schlusswort: „Dem Manne kann geholfen werden.“

      Lange noch blieb ich regungslos liegen, niedergedrückt von der Wucht der neuen Gewalten, die Besitz von mir ergriffen hatten. Ich bebte und bangte zwischen Wachen und Träumen, zwischen Verdammnis und unermesslicher Seligkeit. In ein Reich der Wunder und Herrlichkeiten, in ein Reich des Edelsinnes, des Heldentums und der Weisheit war ich geraten, von dem ich vorher nicht die leiseste Kund gehabt hatte – und zugleich war ich heimlich geworden in diesem Reiche. Doch aus seligen Genüssen schreckte mich empor der graue Gedanke, dass es Zeit sei, zurückzukehren in das öde, nüchterne Land, in dem der Meister, Fräulein Cäcilie, der lange Lorenz, der polnische Lukas und andere Tyrannen das Regiment führten. Der große Trost aber war mir beschieden, dass ich die kostbarsten Schätze meines neu entdeckten Wunderlandes mitnehmen und fest im Herzen tragen konnte.

      Wie spät es wohl sein mochte? Wenn nur die Rathausuhr bald einmal schlüge! Während ich gelesen, mochte sie wohl oft geschlagen haben; doch ich hatte nicht auf sie gehört. Nun wollt ich hervor schlüpfen aus meinem engen Versteck unter der Hobelbank; aber ich konnte den Körper nicht bewegen. Er war starr geworden, ganz starr. Mit aller Anstrengung nur gelang es mir, die Arme zu rühren und dann die Beine. Schon eine leise Bewegung verursachte Schmerzen, besonders in den Schultern und im Rücken. Eine Weile verging, bis es mir endlich gelungen war, auf die Füße zu kommen. Jetzt erst merkte ich, dass mir kalt war. Ich zitterte und die Zähne klapperten. Noch immer war ich nicht fähig, den Körper ordentlich zu rühren. Die ganze Nacht hatte ich regungslos auf dem Bauche gelegen; nur dürftig bekleidet, hatte ich bei Schillers Werken der Winterkälte, der dünnen Wände und der schlechten Tür nicht geachtet, durch die eine scharfe Zugluft beständig hereinkam. Auch Schnee war durch die Ritzen der Tür geflogen, bis dorthin, wo die Lampe stand und das Buch lag; ich aber hatte nichts davon gemerkt. – O Gott, wie mich nun fror! Ich nahm die Bretter von den Fenstern fort. Himmel – es war die höchste Zeit, Feuer im Ofen anzulegen! Der Tag graute bereits. Wenn der lange Lorenz, der um sechs Uhr zu kommen pflegte, nicht einen glühenden Ofen vorfand, gab es Hiebe. Am Abend war der Himmel klar gewesen, die Sterne hatten geleuchtet; in der Nacht aber war ein Umschlag erfolgt – und jetzt lag hoher Schnee im Hofe. Da gab