Paul Barsch

Von Einem, der auszog.


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Versuche. Wir waren Dichter geworden. Franz reimte ein Gedicht, in dem er seinen Stiefvater einen Geizkragen nannte und ihm prophezeite, dass er für jedes Zehnpfennigstück, das er ihm, dem guten Stiefsohne, auf Erden als Taschengeld vorenthalte, einst je ein halbes Jahr lang im Fegefeuer braten werde. Johann beklagte es in bitteren Versen, dass heutzutage dem Käseleim aus Billigkeitsgründen der Vorzug vor dem Kölner Leim gegeben werde. Ich dichtete ein Trauerspiel. Das sollte fünf Akte haben und den Titel führen: „Das vertauschte Kind.“

      Wie wir zu Dichtern geworden waren?

      Im Vorderhause befand sich eine große Wagenbauwerkstatt, und der Wagenbauer hatte einen erwachsenen Sohn, der sich uns Tischlerstiften gegenüber freundlich zeigte. Nach Feierabend durften wir manchmal zu ihm in die Werkstatt kommen; dort saßen wir auf Schemeln und Schnitzbänken und plauderten. Gern redete er von seiner Schwester, die mit einem Assessor verlobt war. Er erzählte uns, dass sie ein großes Glück machte. Der Herr Assessor sei der klügste Mann in der ganzen Stadt, und weil er so klug sei, dürfte er sogar den Herrn Staatsanwalt vertreten. Wie gelehrt er sei, gehe schon daraus hervor, dass er Schillers Werke besitze. Diese Werke habe er jetzt seiner Braut geliehen, damit die darin lese und gleichfalls die höhere Bildung erlerne.

      Die Mitteilung, dass man aus Schillers Werken die höhere Bildung erlernen könne, fesselte mich mächtig, und der Assessor und seine Braut, die so überglücklich waren, aus diesem Urquell der Bildung schöpften zu können, erschienen mir wie höhere Wesen. Ich fragte unsern gütigen Freund, ob er wisse, was in Schillers Werken zu lesen stünde, oder ob er mir ungefähr sagen könne, wie sie äußerlich und innerlich beschaffen seien. Er gab zur Antwort: „Es sind Bücher, wie alle andern Bücher; aber was darin steht, da können wir uns alle gar keinen Begriff davon machen. Wer Schillers Werke gelesen hat, weiß alles – kurzum alles! Da steht alles drin, was die klügsten Menschen wissen müssen. Wenn einer etwas nicht weiß, braucht er bloß in Schillers Werken zu suchen, und er findet es.“

      „Das ist wohl aber schwer zu verstehen?“ fragte Johann.

      „Für uns ist es nichts!“ sagte kopfschüttelnd der junge Wagenbauer. „Meine Schwester ist in der Klosterschule gewesen; dort hat sie verdammt viel gelernt. Wenn das nicht wäre, verstände sie kein Wort davon. Es ist auch vieles lateinisch und in andern Sprachen.“

      Ich wusste, dass Schiller ein Dichter war, hatte jedoch noch keine nähere Kunde über ihn vernommen und noch kein Wort von ihm gelesen; auch war mir unbekannt, wo und in welcher Zeit er gelebt. Ich konnte mir kein Bild von dem menschliche Wesen und den Werken des Dichters machen; doch ich hegte die dunkle Vorstellung, dass er ein Mensch gewesen, der mit seinem Geiste über die höchsten Grenzen des menschlichen Wissens hinausragte und wohl gar in Beziehungen stand zu weisen, übernatürlichen Mächten. Er erschien mir wie das größte und verehrungswürdigste Geheimnis, und ich hätte vielleicht meine Geistigkeit hingegeben, um dafür einen Blick in seine Bücher tun zu dürfen und im Fluge einige der Worte zu erhaschen, die geeignet waren, mir den Weg zur höchsten Bildung zu weisen. Zaghaft verriet ich dem Bruder der glücklichen Braut meine Sehnsucht. Er aber sagte, die Bücher seien so wertvoll, dass die sorgsam gehütet werden müssten. Schiller lag mir fortan im Sinn, und wenn die Braut sich oben am Fenster blicken ließ oder über den Hof ging, betrachtete ich sie mit scheuen Blicken der Andacht. Sie las ja jeden Tag in Schillers Büchern; somit war ich überzeugt, dass ihr alle Weisheit dieser Welt kund und offenbar war. Deutlich sah ich ihr an, dass sie ein unendliches Wissen und die allerfeinste Bildung besaß. Sie fühlte sich auch so erhaben über uns alle, dass sie nicht einmal dankte, wenn wir sie grüßten. Johann behauptete, sie sei die dümmste Gans in der ganzen Stadt und bilde sich einen großen Fetzen ein, weil sie einen Assessor heirate. Er würde sie nicht zur Frau mögen, auch wenn sie hunderttausend Taler hätte; denn sie habe das Gesicht einer Schleiereule. Mich empörten solche Worte gewaltig; sie berührten mich wie eine freche Entweihung einer geheilten Erscheinung, und es kam deshalb zwischen Johann und mir zu bösen Auftritten, bei denen wir uns gegenseitig schmerzhaft an den Haaren zerrten. Ich wusste besser als er, wie das Fräulein zu solchen Stolze kam. Wer Schillers Bücher gelesen hatte, war ebenso über alle Maßen klug, dass er unmöglich noch auf dumme Menschen unseres Schlages achten konnte.

      Eines Abends ärgerte mich der junge Wagenbauer. Wir betrachteten gemeinsam ein Bild der Stadt Paris, das ein Gesell an die Wand geklebt hatte, und ich äußerte dabei, es sei aus der Vogelperspektive aufgenommen worden. Das merkwürdige Wort hatte ich zuweilen unter Städtebildern gelesen, doch nicht klar im Gedächtnis behalten und so es jetzt falsch zum Vorschein gekommen. Das belustigte den älteren und klügeren Freund, und er verhöhnte mich so arg, dass ich tief gekränkt und weinend in ohnmächtigen Zorn davonlief. Nach einer Weile kam er in unsere Werkstatt und entschuldigte sich. Ich solle kein Narr sein und mich einer solchen Kleinigkeit wegen nicht ärgern. Als er siebzehn Jahre gewesen, habe er das Wort Vogelperspektive auch noch nicht aussprechen können. Er befand sich in so guter Laune, dass ich den Mut fasste, ihn noch einmal zu bitten, mir doch einen Band aus Schillers Werken zu zeigen. Wider mein Erwarten willigte er nach einigem Sträuben ein. „Aber nur zeigen“ sprach er und ging hinauf in seine Wohnung.

      Bis in den Hof folgte ich ihm und wartete dort. Gewaltsam suchte ich die innere Erregung zu dämpfen, in dem ich an gleichgültige Dinge dachte und schließlich die Sterne zu zählen begann, die auf der schmalen Himmelsfläche über unserem Hofe inmitten hoher Mauern funkelten. Dabei lastete ein schweres dumpfes, unverstandenes Empfinden auf meiner Seele, das fast beängstigend wirkte. Ich empfand unklar, dass etwas Erhabenes, Mächtiges, Hochherrliches an mich herantrete würde, dem gegenüber ich mich winzig klein und unwürdig fühlte. Eine weitere Ursache meiner fieberhaften inneren Unruhe war wohl der aufrührerische Gedanke, dass mir nun plötzlich ein Werkzeug in die Hand gegeben werden sollte, dessen Hilfe mich schnell in einen gebildeten, wissenden Menschen verwandeln könnte. In mir lebte die unbestimmte Vermutung, es handle sich um geheime Bücher, die nur bevorzugte und glückliche Menschen manchmal erlangen, und als beginge der junge Wagenbauer einen schlimmen Verrat, in dem er mir heimlich Einblick in eines dieser Bücher gewährte.

      Als er nach einer kurzen Weile mit einem Buche in der Hand auf mich zutrat, wurde mein ganzer Körper von der heftigsten Erregung erfasst. Mit bebenden Fingern griff ich danach – nach einem Buche von Schiller…

      „Du sieht ja nichts zum Lesen!“ sprach er.

      Richtig! Johann und Franz hatten das Licht ausgelöscht und waren auf den Boden zu Bett gegangen.

      „Lassen Sie mir’s bis morgen früh!“ bat ich herzlich und dringend. „Sobald Sie in die Werkstatt kommen, bring ich’s Ihnen zurück.“

      Er war einverstanden, befahl mir jedoch ernstlich, das treu zu hüten und noch vor dem Frühstück zurückzugeben. Seine Schwester dürfte nicht wissen, dass er es verliehen habe.

      Ich dankte, wünschte ihm eine gute Nacht und begab mich in die finstere Werkstatt. Hurtig verdeckt ich die kleinen Fenster mit Brettern, damit von draußen kein Lichtschein wahrgenommen werden könne; dann zündete ich eine Lampe an, schob sie unter die Hobelbank und umstellte sie von zwei Seiten mit Holzwerk, um dem Lichtschein so den Ausweg zu versperren. Mit hochgespannter Erwartung kroch ich unter die Bank zum Lichte und schlug das Buch auf. Ich blätterte darin und sah, dass es Gedicht und Theaterstücke enthielt. Im ersten Augenblick war ich ein wenig enttäuscht. Was ich erwartet hatte, weiß ich nicht; auf Wunder und Offenbarungen irgendwelcher Art mag ich wohl gefasst und auf den Augenblick gespannt gewesen sein, in dem ich das erste Zeichen von Bildung in mir verspüren würde. Das war aber ein rasch gekommenes und rasch verschwindendes Gefühl; es schien erstorben, als ich die ersten Sätze gelesen hatte. Entschlossen, das ganze Buch sogleich auszulesen, begann ich ganz vorn und versenkte mich mit schwelgender Inbrunst in die Lebensgeschichte Schillers. Mit hungernder Gier sog ich die Zeilen ein und stürzte darauf in glühender Glückserwartung über die Gedichte her. „Hektors Abschied“, „Amalia“, „Eine Leichenphantasie“, - das waren Worte, wie ich sie nie vorher vernommen hatte, - Worte, die eine schauervolle Andachtsstimmung und ein Gemisch von Grauen, Todesbangen, Wehmut, Jubelrausch und Entzücken in mir wachriefen.

      Immer weiter las ich, lernte „Laura“, „Die Kindesmörderin“, „Minna“, „Die Größe der Welt“ und den „Triumph der Liebe“