Name. Ich bin der Tom. Wohnst du hier in der Nähe?«
»Ja, da drüben in der Rudolf-Leonhard-Straße.«
»Dann hast du es ja nicht weit zur Schule. Ich kann dich auch zu deiner Mutter bringen, bevor die anderen Kinder etwas von deinem Missgeschick mitkriegen.«
»Nein, die schläft noch. Und später geht sie putzen. Aber wenn ich am frühen Abend nach Hause komme, ist sie wieder da.«
»Dann hast du heute Morgen gar kein Frühstück bekommen?«
»Nein, das kriege ich nie. Macht aber nichts. Im Hort, wo ich nach dem Unterricht auch hingehe, gibt es schon ab sechs Uhr Frühstück für die Kinder.«
»Na prima, einen Papa habt ihr wohl nicht?«
»Mein Papa ist von zu Hause ausgezogen, weil er und die Mama sich immer so viel gestritten haben. Und als die Mama dann noch zu trinken anfing …«
»Verstehe. Dann hast du es auch nicht immer leicht. Vielleicht willst du einmal meine Tochter kennenlernen. Wir könnten zusammen einen Ausflug machen, wenn du magst.«
»Hm …«
»Aber zunächst sollten wir deine Knie versorgen. Kannst du laufen, oder tut es zu sehr weh?«
»Es geht …«
»Na los, bevor es schlimmer wird.«
Der Mann, der sich Tom nannte, nahm Annika an die Hand und führte sie zum Parkplatz.
»Komm, krabble mal da auf die Ladefläche!«, sagte er, als er die Heckklappe geöffnet hatte, »siehst du, der Verbandskasten steht gleich links.«
Annika folgte brav und sah zu, wie der Mann einige Utensilien aus dem grauen Kasten nahm.
»So, das wird jetzt etwas brennen. Geht aber gleich vorbei«, sagte er, als er die Watte mit Jod benetzte. »Und jetzt noch zwei Pflaster, und alles ist wieder gut.«
Die Kleine biss tapfer die Zähne zusammen, obwohl sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Aber als das Pflaster draufkam, hörte das Brennen schon auf.
»Wozu brauchst du denn die Säcke?«, fragte Annika interessiert.
»Damit spielen wir im Garten Sackhüpfen. Manchmal stülpe ich Lotte auch nur so zum Spaß einen über den Kopf. Aber vorher kommt noch etwas Klebeband auf den Mund, damit man das Schreien nicht hört. Siehst du so!«
Tom schnitt blitzschnell ein Stück von dem grauen Tape ab und klebte es Annika auf den Mund. Dann stülpte er ihr den Sack über und verknotete ihn unten. Das Mädchen merkte, dass es kein Spiel mehr war und fing heftig an zu strampeln.
»Hör sofort damit auf. Sonst muss ich dich mit einem Schlag auf den Kopf betäuben. Das willst du doch nicht, oder?«
Schnell sprang er aus dem Wagen, schloss die Heckklappe, setzte sich hinters Steuer und fuhr kurz darauf zufrieden ab. Das Ganze hatte kaum zehn Minuten gedauert. Und Beobachter hatte es keine gegeben. Was wollte man mehr?«
2017
Hauptkommissarin Valerie Voss gehörte zu den Frauen, die mit zunehmendem Alter immer hübscher wurden. Dass sie Mutter eines achtzehnjährigen Sohnes war, der gerade sein Abitur gemacht hatte, sah man ihr nicht an, wenn man es nicht besser wusste. Ihre weißblond aufgehellten Haare trug sie nicht mehr so lang, um nicht billig zu wirken. Die Länge reichte aber noch aus, um zu einem kleinen Schwanz zusammengebunden zu werden. Ihr für sein Alter immer noch sehr attraktiver Mann und Kollege Hinnerk Lange trug die gleiche Frisur. Der Partnerlook veranlasste Lästerzungen, hinter ihrem Rücken oder auch ganz offen von „Hinni und Nanni“ zu sprechen – angelehnt an das alte Kinderbuch „Hanni und Nanni“. Doch da standen die beiden drüber. Ihre Liebe, die einen gewissen Anlauf gebraucht und einige Hindernisse überstanden hatte, war stärker denn je. Das entging auch nicht ihrem gemeinsamen Sohn Ben.
Hinnerk war so etwas wie ein Womanizer und hatte früher zahlreiche Affären gehabt. Das hatte auch Valerie zu spüren bekommen, als er ausgezogen und bei seiner Geliebten gewohnt hatte. Nach deren Tod war er reumütig zurückgekehrt. Inzwischen geschieden, hatten sie dann jahrelang in sogenannter wilder Ehe gelebt. Seit Kurzem waren sie wieder offiziell ein Paar, denn sie hatten zum zweiten Mal geheiratet. Ganz still und ohne Tamtam, das beide nicht mochten. Nicht anders hatten es Valeries Mutter Karen und ihr Lebensgefährte Herbert gehalten. Karen, die schon mit Herbert zusammenlebte, seitdem sie überraschend Witwe geworden war, hatte sich anfangs gesträubt, ein zweites Mal zu heiraten, und daran, jetzt Schindler statt Voss zu heißen, konnte sie sich auch nur schwer gewöhnen. Doch die neumodische Variante, wo beide Ehepartner ihren Nachnamen behielten, wie im Falle ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes, fand sie unmöglich und für sich selbst nicht akzeptabel.
Valerie nannte Karen zwar „Mama“, doch seit dem achtzehnten Lebensjahr wusste sie davon, adoptiert zu sein. Erst im letzten Jahr hatte Valerie ihre leibliche Mutter Tyra in Schweden kennengelernt, von der sie angenommen hatte, dass sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr am Leben sei. Die beiden Frauen, die sich sehr ähnlich sahen, hatten sich glücklich in die Arme geschlossen und von Anfang an sehr gut verstanden. Ein Umstand, der bei Karen heftige Eifersucht verursachte.
Die stille Doppelhochzeit hatte natürlich nicht ohne Tyra und ihren Sohn Tusse stattfinden können. Aber da sie ein Antiquitätengeschäft in Stockholm unterhielt, war ihr Aufenthalt nur von kurzer Dauer gewesen. Sowohl Hinnerk als auch Ben hatten Tyra sofort ins Herz geschlossen, und bei ihrem Abflug waren wiederum heiße Tränen vergossen worden, zumindest bei den Frauen. Die Einzige, die sichtlich aufgeatmet hatte, war Karen gewesen.
»Seht mal! Wir haben schon wieder so einen Wisch bekommen«, sagte Marlies Schmidt, die gute Seele der Abteilung, die seit geraumer Zeit ihre krausen Locken gemäßigt kurz trug.
»Zeig mal her!«, sagte Hinnerk und ließ sich das Blatt herüberreichen. »Elena ist jetzt bei ihrem Vater«, las er laut vor. »Könnt ihr euch an einen Fall erinnern, bei dem es um eine Elena ging?«
»2014 ist ein kleines Mädchen mit diesem Namen verschwunden«, meinte Valerie, »so viel ich weiß, ist es nie wieder aufgetaucht.«
»Demnach haben wir uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert«, sagte Hinnerk, »ich kann mich gar nicht erinnern.«
»Wohl deshalb, weil die Kollegen vom Dezernat 13 den Fall bearbeitet haben. Man ging schnell von einem Sexualdelikt aus, da ein rückfallgefährdeter Sexualstraftäter verdächtigt wurde. Sogar von Kinderpornografie war die Rede. Allesamt Gebiete für die die Kollegen zuständig sind.«
»Ja, jetzt kommt’s langsam. Du hast dich damals fürchterlich aufgeregt, weil du anderer Meinung warst.«
»Gib mal her!«, sagte Valerie, und Hinnerk reichte das Blatt weiter. Dabei stöhnte er kurz auf. »Was ist? Wieder dein Arm?«
»Ja, was denn sonst?«
»Ich habe gleich gesagt, du solltest dich besser in den Innendienst versetzen lassen …«
»Damit ich mir den ganzen Tag den Arsch platt sitze? Nein, danke. Außerdem habe ich nicht draußen Schmerzen, sondern hier.«
Hinnerk war vor knapp einem Jahr während einem seiner typischen Alleingänge angeschossen worden. Damals hatte er in Sachen eines internationalen Babyhändlerrings ermittelt. Zu einer Zeit, als Valerie gerade in Stockholm ihre Mutter wiedergefunden hatte. Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als würde Hinnerk seinen linken Arm nie wieder richtig bewegen können. Doch die Reha hatte gute Erfolge erzielt. Nur manchmal genügte eine falsche Bewegung …
»Warum nimmst du auch nicht den rechten Arm?«, sagte Valerie tadelnd.
»Weil ich nun mal zwei habe. Ist auch schon wieder vorbei. Zurück zu dem Fall. Warum schickt man den Wisch zu uns? Für mich bedeutet das, dass uns jemand fälschlich in Sicherheit wiegen will und es sich eben doch um Mord handelt.«
»Für mich sieht es so aus, als würde der Kerl mit uns spielen«, insistierte Valerie. »Erinnere dich, als Ben damals entführt wurde. Das war auch so ein