Dietrich Novak

Gänzlich ohne Spur


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Ganz anders als bei Mama.«

      »Du willst doch nicht behaupten, deine versoffene Mutter hätte für dich gekocht? Und wenn, dann garantiert nur aus der Dose oder ein Fertiggericht.«

      »Trotzdem. Es hat wenigstens geschmeckt.«

      Tom tickte von einem Moment zum anderen aus. Er fegte den Teller vom Tisch und brüllte sie an.

      »So, der feinen Dame genügt nicht, was ich für sie koche? Ich reiße mir hier den Arsch auf, und Gnädigste macht lange Zähne. Dann wirst du eben ein oder zwei Tage hungern. Was meinst du, wie dir dann alles schmecken wird! Und damit du dich nicht allein am Kühlschrank bedienst, kette ich dich am Bett an. Los, komm!«

      »Bitte nicht! Ich habe es doch nicht so gemeint«, wimmerte Annika. Doch es half ihr nichts. Er zerrte sie am Handgelenk in den Schlafraum und fixierte sie an Händen und Füßen mit Ketten.

      Doch das Martyrium sollte keine zwei Tage dauern, denn schon in der Nacht kam er wieder und machte sie los.

      »Dummes Mädchen«, säuselte er völlig verändert, »wirst schon noch lernen, dass es sich nicht lohnt, Onkel Tom zu ärgern.«

      Dann ließ er die Hose vor ihr herunter und zog ihre kleine Hand zu seiner Scham.

      »Fass ihn ruhig an. Er beißt nicht. Kannst ihn auch küssen. Das hat er besonders gern.«

      Annika schüttelte angewidert den Kopf und flüchtete sich an die kalte Wand.

      »Ist wohl alles ein bisschen viel für dich«, sagte er erstaunlich verständnisvoll und legte sich neben sie. »Das kommt schon noch, dass du Spaß dabei hast. Wir haben viel Zeit.«

      Dann erfolgte wieder dieselbe Prozedur wie an den Abenden zuvor. Und Annika war heilfroh, als er endlich von ihr abließ und den Raum verließ. Wenigstens hatte er sie nicht wieder angekettet.

      »Es ist schon wieder ein Wisch angekommen«, sagte Marlies, als Valerie und Hinnerk ins Büro kamen.

      »Mensch, Lieschen, gib schon zu, dass du die Dinger selber schreibst, damit uns nicht langweilig wird«, witzelte Hinnerk, »was steht denn diesmal drauf?«

      »Nicht viel. Nur Buchstaben und Zahlen«, sagte Marlies leicht verschnupft aufgrund des schlechten Witzes von Hinnerk. »S13 und K/L 5, was immer das bedeuten soll. Und dann ist da noch eine 33, mit der ich gar nichts anfangen kann.«

      »S13 könnte für Seite dreizehn stehen. Aber in welchem Buch?«, fragte Valerie.

      »Versuchs doch mal mit der Bibel«, meinte Hinnerk.

      »Oh, nein, nicht schon wieder«, stöhnte Valerie auf.

      »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Marlies, »aber im Internet habe ich nur Folgendes gefunden: 1647 Aphorismen und 13 Gedichte des Autors Bibel Seite: 13. Dabei sind mir zwei Sprüche aufgefallen:

      „Denn wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will.“«

      »Das macht Sinn«, sagte Hinnerk, »ein tot geglaubtes Mädchen wird für lebendig erklärt, weil es ein Spinner so will. Und der andere Spruch?«

      »„In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten?“«, las Marlies laut vor.

      »Wenn er das Kind in ein Erdloch oder anderswo eingesperrt hat, würde auch das mit den vielen Wohnungen des Herrn Sinn machen.«

      »Verdammte Scheiße, ich will das nicht schon wieder mit diesen religiös Verwirrten«, sagte Valerie. »Können die Zeichen nicht noch etwas anderes bedeuten? Wartet mal! Als man noch nichts von Google Earth wusste, gab es doch diese Faltpläne. Wurden die Quadrate nicht immer einem Buchstaben und einer Zahl zugeordnet?«

      »Aber warum zwei verschiedene Zuweisungen? Einmal „S“ und einmal „K“ beziehungsweise „L“.«

      »Weil es sich vielleicht um zwei verschiedene Pläne handelt. Oder der eine zur Innenstadt gehört«, sagte Valerie.

      »Also hier auf unserem Wandplan sind es zwei völlig verschiedene Gegenden«, sagte Marlies, »und was ist mit der 33?.

      »Ich habe noch so’n altes Ding im Auto«, sagte Lars. »Als es konkret wurde, dass ich nach Berlin gehe, hat ihn mir ein Freund geschenkt. Soll ich ihn holen?«

      »Ja, sofort!«, riefen alle im Chor, und Lars lief los.

      »Fällt noch jemand etwas zu den Zeichen ein?«, fragte Hinnerk, während Lars unterwegs war.

      »Vielleicht ein Kreuzworträtsel? „S“ könnte für senkrecht und „L“ für längs stehen«, meinte Marlies.

      »Nicht schlecht, Schmidtchen«, sagte Valerie, »fragt sich nur in welcher Zeitung? In den Tageszeitungen sind die Rätsel meist nicht so groß, und Rätselhefte gibt es wie Sand am Meer.«

      »Was ist mit Schach?«, fragte Marlies.

      Hinnerk lachte laut auf.

      »Beim Schach gehen die Felder nur von A bis H beziehungsweise von 1 bis 8. Da gibt es keine Dreizehn und auch kein „L“ oder „K“ und erst recht keine 33.«

      »Tschuldigung, ich spiele kein Schach.«

      »Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen, Schmidtchen«, sagte Valerie, »beim Brainstorming ist alles erlaubt. Und ich finde es toll, wie du mitdenkst.«

      Als Lars zurückkam, wedelte er mit zwei Plänen.

      »Ich habe noch einen gefunden«, sagte er, »muss ich mal auf dem Flohmarkt gekauft haben. Los, lasst sie uns beide ausbreiten!«

      Es begann ein Knistern und Flattern und auch Fluchen, weil es gar nicht so leicht war, die Seiten auseinanderzufalten, ohne das dünne, brüchige Papier zu beschädigen. Aber schließlich gelang es, und Valerie und Hinnerk und Marlies und Lars hatten einen großen Plan von Berlin vor sich liegen.

      »Also bei uns ist es die Dahlemer Gegend«, sagte Lars, »und bei euch?«

      »Auch«, sagte Hinnerk. »Mist in diesem feinen Bezirk gibt es bestimmt kein Ödland oder verlassene Fabriken.«

      »Sieh mal hier!« Valerie deutete mit dem Finger auf eine Straßenkreuzung. »An der Königin-Luise-Straße Ecke Peter-Lenné-Straße liegt doch das ehemalige Institut für Anatomie der FU. Das wurde 1949 eröffnet und 2005 aufgegeben. Seitdem liegt es in einem Dornröschenschlaf. 2008 soll das Gelände ein Discounter erstanden haben, um dort ein Einkaufszentrum zu errichten. Der Bezirk hat aber die Genehmigung verweigert. Daraus ist ein Rechtsstreit entstanden, und die Ruinen verfallen weiter.«

      »Ja, ich erinnere mich. Das ging immer wieder durch die Presse«, sagte Lars. »Das ehemalige Institut gilt bei Fotografen als „lost place“ – aufgrund des morbiden Charmes eignet sich das Gelände hervorragend zum Fotografieren, was offiziell natürlich verboten ist. Die Zäune werden aber immer wieder von Abenteurern überwunden. Ich habe im Internet Fotos gesehen. Gruselig, sage ich euch. Die haben damals alles stehen und liegen gelassen. Die Hörsäle sind noch bestuhlt, und im Keller stehen sogar noch Seziertische herum. Soll ich die Seite mal aufrufen?«

      »Ja, kannst du machen. Aber ich denke, wir verschaffen uns selbst ein Bild vor Ort. Und wir nehmen Leichenspürhunde mit und das Nachthemdchen von Elena«, sagte Valerie.

      Als sie dann die Fotos im Netz sahen, erkannten sie, dass Lars nicht übertrieben hatte. Besonders ein Foto erweckte Valeries Interesse. Deshalb tippte sie mit dem Finger drauf, und Hinnerk nickte. Es zeigte eine halb geöffnete Leichenkühlkammer mit der Nummer 33.

      Der Mann, der sich Tom nannte, war immer für eine Überraschung gut. So kam er nach einigen Monaten der Tortur und Einsamkeit für Annika mit einem kleinen Mädchen an der Hand in den Bunker. Die Kleine hatte dunkelbraune Löckchen und große Kulleraugen in der gleichen Farbe, die jetzt allerdings vom Weinen gerötet waren. Ihre Körperhaltung