Dietrich Novak

Gänzlich ohne Spur


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kurzen Besuch handeln würde.

      »Das ist Lotte«, sagte er, »sie wird dir von jetzt ab Gesellschaft leisten. Komm, sag Annika guten Tag!«

      Das Mädchen ging zögernd auf Annika zu, reichte ihr die kleine Hand und blieb dann an ihrer Seite stehen.

      »Ich lass euch dann mal alleine, damit ihr euch richtig bekannt machen könnt. Aber denk daran, was ich dir gesagt habe, Lotte!«

      »Was meint er damit?«, fragte Annika, als der Mann gegangen war.

      Das Mädchen zuckte nur mit den Achseln.

      »Dann bist du also seine Tochter, ja?«

      „Lotte“ schüttelte den Kopf.

      »Nicht? Hat er dich nur wegen deines Namens ausgesucht?«

      »Quatsch, ich heiße ja gar nicht Lotte, sondern Jana. Er will nur, dass ich mich Lotte nenne. Dabei finde ich den Namen blöd. Aber du darfst mich nicht verraten.«

      »Nein, bestimmt nicht. Spiel einfach das Spiel mit, dann ist er zufrieden.«

      Annika überlegte fieberhaft. Dann stimmt es also. Der schreckliche Kerl suchte sich Ersatztöchter. Warum? War die echte Lotte schon tot? Oder sprach er die Wahrheit, wenn er behauptete, er dürfe sie nur nicht sehen? Annika wollte das unbedingt herausfinden. Und wenn sie all ihre kindliche Verführungskunst aufbringen musste.

      »Bist du auch heute gekommen?«, fragte Jana nach einer Weile.

      »Nein, ich bin schon sehr lange hier. Ich kann dir aber nicht sagen, wie lange. Weil hier unten ein Tag wie der andere ist.«

      »Ich will zu meiner Mama!« Jana fing heftig an zu weinen.

      »Ja, ich weiß. Aber jetzt haben wir wenigstens uns beide. Und irgendwann, wenn die Gelegenheit günstig ist, werden wir fliehen. Das verspreche ich dir.«

      »Ehrlich?«

      »Ehrlich. Du musst nur etwas Geduld haben. Er darf nicht merken, was wir vorhaben. Sonst bindet er uns fest. Hast du Durst? Da im Kühlschrank gibt es Saft. Soll ich dir ein Glas holen?«

      Jana nickte.

      »Gut, dann setz dich da auf die Bank. Wir können etwas spielen, wenn du willst. Kannst du Mensch ärgere dich nicht? oder spielst du lieber Karten? Memory oder Schwarzer Peter

      »Egal, was du willst.«

      Der Nachmittag verlief gut, und Annika war selig, eine kleine Schwester gefunden zu haben. Wenn es ihr auch in der Seele wehtat, dass Jana das gleiche Schicksal erdulden musste wie sie. Aber wie hieß es so schön? Geteiltes Leid ist halbes Leid.

      Auch der Abend begann vielversprechend. Tom legte sich mächtig ins Zeug und servierte sogar Pommes mit Ketchup. Lotte/Jana bekam dazu ein Wiener Würstchen, während er und Annika Currywurst aßen. Danach sahen sie sich gemeinsam einen Disney-Zeichentrickfilm an. Dabei versuchte er stets, die Kleine auf seinen Schoß zu ziehen, aber die flüchtete sich zu Annika. Trotz allem war es ein fast harmonischer Abend.

      Umso schlimmer wurde die erste Nacht für Jana. Annika hörte sie im Nebenraum schreien und konnte sich genau vorstellen, was da abging. Nachdem Tom wutentbrannt nach draußen gerannt war, kam Jana schluchzend in Annikas Bett. Die nahm sie in den Arm und tröstete sie.

      »Es wird alles gut«, flüsterte Annika.

      »Nein, der Mann ist böse. Er fasst mich da an, wo Mama gesagt hat, dass das niemand darf. Er wollte mich ständig küssen, aber ich habe ihm in seine dicke Zunge gebissen.«

      Annika lachte. »Das hast du gut gemacht. Ich habe mich das nicht getraut.«

      »Noch mal kann ich das nicht machen, denn er hat mich tüchtig verhauen. Ach, ich will nach Hause. Hier ist es gar nicht schön.«

      »Jetzt schlaf erst mal. Du wirst sehen, mit der Zeit gewöhnst du dich daran.«

      Valerie und Hinnerk hatten sich kurzfristig mit dem Wachschutz für das Grundstück Königin-Luise-Straße Ecke Peter-Lenné-Straße in Verbindung gesetzt. Der öffnete für sie den Zaun und sperrte sogleich wieder ab. »Sie melden sich dann, wenn Sie fertig sind, ja?«, sagte der breitschultrige, junge Bursche.

      »Kommen Sie denn nicht mit?«, fragte Valerie.

      »Nö, ich kenne das alles in und auswendig. Sie werden sich schon zurechtfinden.«

      »Gut, dann lassen Sie bitte noch die Kollegen mit den Hunden herein. Die müssten jeden Moment eintreffen.«

      »Alles klar!«

      Das 1929 errichtete Gebäude machte einen verwahrlosten Eindruck, der sich im Innern fortsetzte. Ein Treppenhaus mit einem Handlauf im Stil der zwanziger/dreißiger Jahre und Glasbausteinen, die mit Graffiti übersät waren. Ebenso die steil aufragende Bestuhlung der Hörsäle. Eingeschlagene Vitrinen im Präpariersaalgebäude und endlose dunkle Flure. Dann plötzlich ein verglaster Durchgang zum Ende der vierziger Jahre errichteten Nachbargebäude. Der Blick fiel auf einen verkommenen Hof – wohl der ehemalige Pausenhof – mit typischem Geländer und Kippfenstern der frühen fünfziger Jahre. In den Räumen lagen noch Aktenordner und Berge von Papier sowie alte Telefone.

      Doch das war nichts gegen das Souterrain, wo man noch Nirostaspülen und Seziertische fand.

      »Kannst du begreifen, dass man das alles so aufgibt und verrotten lässt?«, fragte Valerie Hinnerk.

      »Möchtest du in einem Gebäude wohnen, in dessen Keller früher an Leichen herumgeschnippelt wurde?«

      »Zwischen Eigentumswohnungen und Ruinen gibt es doch wohl noch etwas anderes.«

      Die Diskussion wurde unterbrochen, als zwei Hundeführer mit ihren schönen Tieren nach unten kamen. Ein prächtiger Schäferhund zog an der Leine und gab winselnde Laute von sich.

      »Oh, oh, er hat Witterung aufgenommen«, sagte der Hundeführer, »und es ist der Leichenspürhund.«

      Der Schäferhund lief schnurstracks zu den Leichenkühlfächern, von denen einige offen standen. An einem richtete sich der Hund kerzengerade auf und kratzte an der Tür. Es war das Fach mit der Nummer 33.

      »Ist gut, Leo, Platz!«

      Hinnerk öffnete vorsichtig das Kühlfach, aus dem sogleich Tauwasser herauslief, und hielt sich augenblicklich die Nase zu.

      »Es riecht nach verdorbenem Fleisch«, sagte er.

      »Warte, ich informiere gleich die Rechtsmedizin und die KTU«, sagte Valerie, »und wir gehen derweil etwas an die frische Luft. Vielen Dank, Kollegen.«

      Valerie strich dem Hund über den Kopf und zog ein Leckerli aus der Tasche, das ihr gierig aus der Hand gerissen wurde.

      Draußen gingen sie auf den Wachmann zu, der noch immer am Zaun stand.

      »Sind Sie fertig?«, fragte er.

      »Nein, es geht gerade erst los. In den Kühlfächern haben wir eine Leiche gefunden. Bitte lassen Sie niemanden auf das Grundstück, außer den Kollegen der Rechtsmedizin und der KTU.«

      »Alles paletti!«

      Valerie ging bei Hinnerk untergehakt ein paar Schritte über das von Unkraut übersäte Grundstück.

      »Ist es das, was ich denke?«, fragte sie leise.

      »Wenn ich das im Dunkeln richtig erkannt habe, handelt es sich um einen sehr kleinen Körper. Wahrscheinlich den eines Kindes. Deshalb sind wir doch hier, oder?«

      »Ja, schon, aber irgendwie hatte ich gehofft, dass wir nichts finden … Hallo, Tina, Knud … Seid ihr geflogen?«

      Die beiden Rechtsmediziner gaben artig Pfötchen, wobei Tina vermied, Hinnerk anzusehen. Sie war zwar inzwischen glücklich mit Staatsanwältin Ingrid Lindblom liiert, nahm Hinnerk aber immer noch übel, dass er sie damals bei Valerie ausgestochen hatte. Die beiden Frauen hingegen hatten wieder ein freundschaftliches Verhältnis und trafen sich gelegentlich auch privat.