Dietrich Novak

Gänzlich ohne Spur


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einen Brummkreisel, der für ein kleineres Kind und bestimmt nicht für sie angeschafft worden war.

      »Gehört der Lotte?«, fragte sie.

      »Wie? Nein, die war schon lange nicht mehr hier. Ihre Mama lässt sie nicht in meine Nähe, das Rabenaas.«

      »Aber vorhin haben Sie doch gesagt, ich könnte sie treffen …«

      »Habe ich das? Na, irgendwann wird es vielleicht eine neue Lotte geben, damit du etwas Gesellschaft hast.«

      Mit dieser Aussage konnte Annika nichts anfangen. Sollten er und seine Frau noch eine Tochter bekommen, der sie denselben Namen geben würden? Seltsam, aber wenn seine Frau den Kontakt mit ihm mied, wie konnte das angehen?, überlegte Annika. Für ihre kleine Seele war es sicher gut, dass sie den Sinn dieser Aussage nicht verstand. Denn es sollte auch so noch unendliches Leid auf sie zukommen.

      Hinnerk nahm sich die Akte Elena Dengler vor und studierte sie ausgiebig. Das Mädchen war vor drei Jahren spurlos verschwunden. Die nicht unvermögenden Eltern hatten tagelang auf eine Lösegeldforderung gewartet, die aber nie eintraf. Der Zufall wollte es, dass zwei Wochen zuvor der sechsundfünfzigjährige Anton Barth aus der Haft entlassen worden war. Als Wiederholungstäter hatte er fünf Jahre Freiheitsentzug bekommen, weil er sich immer wieder Kindern sexuell genähert hatte, indem er vor ihren Augen masturbierte oder sie unsittlich berührte beziehungsweise zu sexuellen Handlungen zwang.

      Da Barth ganz in der Nähe der Denglers wohnte, hatte man umgehend eine Hausdurchsuchung durchgeführt, die allerdings ergebnislos verlaufen war. Bei den zahlreichen Verhören hatte Barth immer wieder beteuert, Elena nie gesehen und nichts mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben. Da er in einer Mietwohnung wohnte und kein Laubengrundstück besaß und sowohl die Spürhunde in seiner Wohnung als auch die KTU keinerlei Spuren von Annika an seiner Kleidung feststellen konnten, hatte man ihn laufen lassen müssen.

      Auch der anschließende Verdacht, an der Verbreitung oder Nutzung von kinderpornografischem Material beteiligt zu sein, musste fallengelassen werden, da es keine hinlänglichen Beweise dafür gab. Man ging viel mehr davon aus, erzürnte Eltern hatten ihm eins auswischen wollen. Eine Observation seiner Person war schließlich aufgegeben worden, da Barth sich in keiner Weise verdächtig verhielt.

      »Ich habe mir unterwegs ein paar Gedanken gemacht«, sagte Hinnerk. »Was soll das heißen, das Mädchen ist jetzt bei ihrem Vater? Sind die Eltern inzwischen geschieden, und Elena lebt bei ihm?«

      »Möglich wär’s. Ehen aus denen entführte Kinder stammen, sollen öfter kaputtgehen«, meinte Valerie, »womöglich, weil man sich gegenseitig die Schuld zuschiebt oder ganz einfach den psychischen Druck nicht aushält.«

      »Es gäbe noch eine andere Deutungsmöglichkeit: Es kann auch heißen, dass sie jetzt beim himmlischen Vater ist, also tot«, sagte Lars.

      »Um das zu klären, sollten wir die Eltern aufsuchen. Wer kommt mit?«, fragte Valerie.

      »Natürlich der Göttergatte. Ihr wisst, ich bin in Sachen Trauerbotschaft nicht besonders gut«, antwortete Lars.

      »Du hast aber nicht die Absicht, dich für die letzten Tage auf die faule Haut zu legen? Entschuldige, war nicht so gemeint«, fügte Hinnerk sogleich hinzu, als er sah, wie Lars errötete. »Wenn ich Schmerzen habe, neige ich zu Humor der bitteren Art.«

      »Ein bisschen mehr solltest du dich schon unter Kontrolle haben«, insistierte Valerie. »Alles andere wäre ungerecht gegenüber Lars.«

      »Ja, du hast ja Recht.«

      Als sie wenig später vor der Haustür der leidgeprüften Eltern standen und ihre Dienstausweise zeigten, machte Katharina Dengler, eine gepflegte Erscheinung mit halblangen, brünetten Haaren und melancholischem Blick, große Augen.

      »Gibt es etwas Neues? Haben Sie unser Mädchen gefunden?«, fragte sie hoffnungsvoll.

      »Nein leider nicht«, sagte Valerie, »aber es gibt neue Anhaltspunkte. Dürfen wir einen Moment hereinkommen?«

      »Ja, natürlich, gehen Sie bitte durch ins Wohnzimmer.«

      »Wir haben eine etwas heikle Frage: Könnte es sein, dass Sie sich von Ihrem Mann haben scheiden lassen?«

      Katharina Dengler bekam sofort feuchte Augen.

      »Mein Mann ist vor einem Jahr an Krebs gestorben. Das Leid über den Verlust unserer Tochter hat ihn buchstäblich dahingerafft. Warum fragen Sie?«

      »Zunächst einmal unser tief empfundenes Beileid«, sagte Valerie. »Das Schicksal meint es wahrlich nicht gut mit Ihnen. Warum wir hier sind: Es ist da eine seltsame Botschaft aufgetaucht mit dem Wortlaut: Elena ist jetzt bei ihrem Vater.«

      »Das kann nur eins bedeuten, dass sie auch tot ist«, sagte Katharina mit gebrochener Stimme.

      »Das muss es nicht«, versuchte Hinnerk sie zu beruhigen. »Der Täter muss nicht zwangsläufig vom Tod Ihres Mannes erfahren haben. Es kann auch der misslungene Versuch sein, von sich abzulenken und uns etwas vorzugaukeln.«

      »Nett von Ihnen, dass Sie mich trösten wollen«, sagte Katharina, »aber wenn ich ehrlich bin, fühle ich schon länger, dass mein Kind nicht mehr am Leben ist. Der unbekannte Schreiber hätte also Recht, wenn er behauptet, Elena sei bei ihrem Vater.«

      »Wir wollen Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, aber die Erfahrung lehrt uns, dass es nicht bei einer Nachricht bleibt. Die nächste kann ganz anders lauten.«

      »Egal, was derjenige behauptet, mein Gefühl sagt mir, dass Elena nicht wiederkommt. Inzwischen sind drei entscheidende Jahre vergangen. Mein Kind würde mich vielleicht gar nicht mehr wiedererkennen. Ich hoffe nur, dass es ihr besser geht, da wo sie jetzt ist. Sei es bei einer anderen Familie oder im Himmel. Wie gesagt, meinem Gefühl nach …«

      Katharina brach hilflos ab. Valerie nahm sie vorsichtig in den Arm. Die verzweifelte Mutter ließ es eine Weile geschehen, löste sich dann aber aus der Umarmung.

      »Danke für Ihr Mitgefühl. Ich gehe davon aus, dass Sie auch Mutter sind?«

      »Ja, unser Sohn ist aber bereits volljährig. Doch es gab eine Zeit, da waren wir in einer ähnlichen Situation wie Sie. Deshalb kann ich mich gut in Ihre Lage versetzen.«

      »Das dachte ich mir. Wenigstens haben Sie Ihr Kind wiederbekommen, wie ich Ihrer Rede entnehme.«

      »Zum Glück. Wenn es auch eine schlimme Zeit lang nicht so aussah. Sollen wir Sie über die laufenden Ermittlungsergebnisse informieren, Frau Dengler? Es besteht aber auch die vage Möglichkeit, dass wir keine weitere Nachricht erhalten.«

      »Bitte nicht. Diese Ungewissheit halte ich nicht noch einmal aus. Nur wenn Sie Elena finden sollten. Lebendig, um sie zu mir zurückzubringen, oder … dass ich sie wenigstens beerdigen kann, um meinen Frieden zu finden. Über den Strolch, der ihr das angetan hat, möchte ich möglichst nichts erfahren. Allein die Schilderung über das Leid meines kleinen Mädchens würde mir das Herz brechen. Er wird von anderer Seite gerichtet werden. Daran glaube ich fest.«

      »Wir respektieren Ihren Wunsch und nehmen nur noch einmal Kontakt zu Ihnen auf, falls es nötig erscheint. Könnten Sie uns eventuell noch ein Kleidungsstück Ihrer Tochter geben? Eins, das Sie vielleicht noch nicht gewaschen haben?«

      »Ja, ihr Zimmer ist unberührt. Das gilt auch für die Bett- und Nachtwäsche. Einen Moment!«

      »Danke«, sagte Valerie, als Katharina Dengler zurückkam. »Alles Gute, und vor allem viel Kraft.«

      »Vielen Dank, ich begleite Sie noch zur Tür.«

      Draußen auf der Straße musste sich Valerie erst einmal sammeln und legte ihren Kopf an Hinnerks (unversehrte) Schulter. Das waren genau die Momente, die sie an ihrem Beruf hasste.

      2. Kapitel

      Der karge Raum war erfüllt vom kläglichen Weinen des Mädchens. Annika befürchtete, nie wieder freizukommen aus dieser scheußlichen Umgebung.