Dietrich Novak

Gänzlich ohne Spur


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wenn bald noch neue Nachrichten kommen.«

      »Ich gehe mal die Akte besorgen. Etwas Bewegung wird mir guttun«, sagte Hinnerk und war kurz darauf schon verschwunden.

      »Musst du ihn immer wieder auf seinen … Unfall ansprechen?«, fragte Schmidtchen, wie Valerie sie nannte. »Es ist für ihn und für uns peinlich.«

      »Entschuldige mal, ich bin schließlich hautnah davon betroffen. Mir laufen kalte Schauer über den Rücken, wenn ich die Austrittswunde sehe, die einfach nicht richtig heilen will. So tun, als ob nichts war, ist auch nicht die Lösung. Und Lars werde ich nie verzeihen, dass er damals den Unsinn mitgemacht hat.«

      »Komm, das ist ungerecht. Hinni hat sich noch nie was sagen lassen. Da konnte Lars auch nichts gegen ausrichten.«

      »Doch, es war seine Pflicht, Verstärkung anzufordern. Aber Herr Scheibli fährt eben auch gerne die eigene Tour. Das hat er leider von uns gelernt, der gute Lars.«

      »Habe ich da gerade meinen Namen gehört?«, fragte Kommissar Lars Scheibli und kam grinsend zur Tür herein.

      »Ja, das hast du«, sagte Valerie, »dein Fehler, der dich und Hinni fast das Leben gekostet hätte, ist nämlich nicht vergessen. Dein Leichtsinn wird dich noch einmal teuer zu stehen kommen.«

      »Das sagt gerade die Richtige. Ihr wart mir ein gutes Vorbild. Und keine Verstärkung zu rufen, war einzig und allein die Entscheidung deines Mannes.«

      »Du hast doch einen eigenen Kopf zum Denken. Wäre schön, wenn du ihn öfter mal benutzen würdest.«

      »Darüber brauchst du dich ja nun bald nicht mehr aufzuregen. Ich habe meine Versetzung beantragt.«

      »Und das knallst du uns so einfach vor den Latz?«

      »Ich wollte erst sicher gehen, ob die Sache Erfolg hat. Und jetzt sieht es ganz gut aus.«

      »Gehst du zurück ins Ländle?«, fragte Marlies flapsig, um ihre Überraschung zu verbergen.

      »Genau, ich habe mich beim LKA Baden-Württemberg beworben, das bekanntlich seinen Sitz in Stuttgart hat. Womöglich kann ich dort als verdeckter Ermittler arbeiten.«

      »Na, da hast du ja schon etwas Erfahrung«, meinte Marlies.

      »Nur geht es dort nicht um mordendes Pflegepersonal, sondern um organisierte Kriminalität, Rauschgifthandel oder Waffenkriminalität.«

      »Was die organisierte Kriminalität angeht, konntest du doch mit unserem Fall über Babyhandel punkten«, sagte Valerie, »was sagt denn deine Anna zu dem Standortwechsel?«

      »Du wirst lachen, die könnte sofort in einem Altenheim anfangen. Und unser Oliver könnte in Stuttgart eingeschult werden und nicht in einer dieser unsäglichen Berliner Schulen.«

      »Wenn du auf den hohen Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund anspielst: das dürfte in Stuttgart kaum anders sein.«

      »Ja, ich weiß. Deshalb wollte ich auch lieber nach Tübingen, aber da hat eine Umorganisation stattgefunden. Das neue Polizeipräsidium steht jetzt in Reutlingen, und die Tübinger Beamten werden reihenweise dorthin oder nach Esslingen versetzt. Die Tübinger Kripo soll sich künftig nur noch mit den einfacheren Fällen befassen. Aber wie dem auch sei, Berlin kommt mir besonders problematisch vor, was die Ausländerkriminalität, Banden- und Ghettobildung angeht. Am Kottbusser Tor blüht der Drogenhandel, und die Polizei sieht zu.«

      »Dann kann man dir nur Glück wünschen. Weiß der Alte schon Bescheid?«

      »Natürlich. Es muss ja rechtzeitig für mich ein Nachfolger gefunden werden.«

      »Und der hat nichts gesagt, der Schlawiner, typisch. Mal sehen, ob die Stelle überhaupt besetzt wird.«

      Kurz darauf kam Hinnerk wieder und staunte ebenso wie die anderen bei den Neuigkeiten.

      »Na, wird ja auch Zeit, dass du mal flügge wirst und nicht immer in unserem Schatten stehst«, sagte er grinsend.

      »Meine Rede. Obwohl ihr mir schon fehlen werdet.«

      »Du uns doch auch. Lieschen wird heiße Tränen vergießen.«

      »Nur ich? Ihr werdet erst wissen, was ihr an Lars hattet, wenn der Neue sich als Niete herausstellt.«

      »Vielleicht ist es ja auch eine Neue. Damit wären hier endlich mal die Frauen in der Überzahl«, feixte Valerie.

      »Träum weiter! Obwohl, wenn ich’s mir recht überlege …«

      Der Aktenordner, den Valerie nach Hinnerk warf, verfehlte nur knapp sein Ziel.

      Die kleine Annika strampelte heftig in dem Sack, als ihn der Mann über seine Schulter warf und über den Keller in den Bunker brachte. Der kleine Raum sah wie so viele aus, die man in den siebziger Jahren als Schutz vor einem neuen Weltkrieg errichtet hatte. Es gab eine Liege, ein Waschbecken und eine Chemotoilette. Sogar schmale Bücherregale und eine Art Schreibplatte.

      Doch dieser Raum war nur eine geschickte Täuschung, denn „Toms“ Vater hatte schon damals an einer Erweiterung der Anlage gearbeitet, und sein Sohn hatte Jahre für die heimliche Fertigstellung aufgewendet. Nicht einmal seine Frau hatte davon etwas mitbekommen. Niemand konnte ahnen, dass es mehrere Ebenen gab, denn der Eingang zu dem eigentlichen Bunker lag versteckt unter einer schweren Bodenplatte, auf der zusätzlich ein Schrank stand, der nur wenige Millimeter größer war. Deshalb konnte man keinen Spalt im Boden entdecken. Die Platte mit dem Schrank darauf konnte man nur mit der entsprechenden Fernbedienung zur Seite bewegen. Danach ging es unterhalb der Öffnung einige Stufen abwärts und durch einen runden Tunnel, an dessen Ende sich eine Stahltür befand, die auch nur auf gleiche Weise zu öffnen war.

      Dahinter befanden sich Räume, die einem kleinen Appartement ähnelten, mit zwei Schlafräumen, einer Küchenzeile mit Kühlschrank, Kochplatte und Spüle. Die Nasszelle wies eine Dusche und sogar eine Waschmaschine auf. Der Wohnraum hatte eine Essecke und ein gemütliches Sofa. Alles hätte direkt anheimelnd wirken können, wären nicht die fehlenden Fenster gewesen.

      Der Mann, der sich Tom nannte, legte den Sack vorsichtig auf eines der beiden Betten und befreite Annika vom Klebeband und aus ihrer misslichen Lage.

      »So, jetzt kannst du schreien, so viel du willst. Denn hier unten wird dich niemand hören«, sagte er lächelnd. »Ich rate dir aber, brav zu sein. Wir werden es nämlich eine lange Zeit miteinander aushalten müssen.«

      Annika war viel zu eingeschüchtert, um schreien zu können. Sie sah sich nur fassungslos um.

      »Wo bin ich hier, und warum tun Sie das?«

      »Das ist sozusagen Onkel Toms Hütte. Hattet ihr das Buch schon in der Schule? Nein? Dann können wir es gemeinsam lesen. Warum ich das mache? Um dich vor der Welt da draußen und den bösen Menschen zu schützen. Wir stehen kurz vor einem Atomkrieg, bei dem auch chemische Waffen eingesetzt werden. Wenn du nicht gleich stirbst, wirst du als hässliches Monster mit verbrannter Haut rumlaufen und furchtbare Schmerzen haben.«

      Annika fing sofort an zu weinen, und damit löste sich etwas der Schreck, den sie in der letzten Stunde erfahren hatte.

      »Nun wein mal nicht, meine Kleine. Hier bist du ja in Sicherheit. Und wenn du alles tust, was der Tom dir sagt, wird es dir richtig gutgehen.«

      »Warum darf Mama nicht mit hier sein?«

      »Weil sie es nicht verdient hat. Sie kümmert sich nicht richtig um dich und denkt nur daran, wo sie die nächste Flasche Alkohol herbekommt. So jemanden können wir hier nicht gebrauchen. Wir wollen es doch schön haben. Komm, sieh dich mal um in deinem neuen Reich. Und in dem Schrank da findest du ganz viele Spielsachen und hübsche Kleidchen für dich.«

      »Ich trage aber lieber T-Shirts und Jeans.«

      »Du wirst anziehen, was mir gefällt, verstanden?« Der Ton des Mannes hatte sich derart verändert, dass Annika vor Schreck verstummte und nahe daran war, erneut zu weinen.

      »Na, ist es nicht hübsch hier?«, säuselte er jetzt