Christoph Wagner

Waldesruh


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Jahre später geschah, macht mich immer wieder fassungslos. Schiller, der rigorose Moralist, schlug Goethe vor, das Stück noch einmal herauszubringen, aber mit verändertem Schluss. Goethe machte jetzt eine Tragödie daraus. Die ersten vier Akte blieben unverändert, aber im fünften bringen sich jetzt zwei der drei Protagonisten um. So wurde das Stück jetzt noch einmal aufgeführt. Es war zwar nicht der große Erfolg. Aber moralische Bedenken hatte jetzt niemand mehr.“

      „Tja, so war das halt damals.“

      „Verdammt, wie kannst du das einfach so hinnehmen? Empört dich das nicht? Das ist doch eine völlig perverse Moral. Wenn sich drei Menschen lieben und beschließen zusammenzuleben, ist das angeblich unmoralisch. Es darf nicht sein, so was muss man verbieten. Wenn sich stattdessen zwei davon erschießen, dann ist alles o. k., eben eine menschliche Tragödie, da kann man nach Herzenslust mitheulen.“

      Der Vater hatte sich in Fahrt geredet und hielt einen Moment inne. Bernhard antwortete nicht, schüttelte nur unverständlich murmelnd den Kopf.

      „Und apropos ‚damals‘ “, fuhr der Alte fort. „Irrtum! Fast zweihundert Jahre später galt das auch noch so.“

      „Jetzt übertreibst du aber.“

      „Keine Spur. Pass auf! Der Bertelsmann Verlag machte es sich Mitte letzten Jahrhunderts zur Aufgabe, im sogenannten ‚Lesering‘ große Literatur auch dem kleinen Mann zugänglich zu machen. Dabei hatte er auch eine siebenbändige Goetheausgabe herausgebracht. Die steht heute noch in vielen Haushalten. Da ist auch ‚Stella‘ drin. Rat mal, in welcher Fassung.“

      „Wenn du schon so fragst, sicher die Tragödie.“

      „Natürlich, und jetzt kommt der Hammer. Auf die Urfassung wird nicht einmal mit einer Fußnote hingewiesen. Man durfte doch dem einfachen Volk nicht verraten, wie unmoralisch Goethe war.“

      Inzwischen hatten sie ihre Pizza gegessen und auch die dritte Halbliterkaraffe Montepulciano geleert.

      „Ich kann jetzt irgendwie nicht mehr. Ich muss jetzt schlafen“, meinte Bernhard erschöpft.

      Als sie gezahlt und das Lokal verlassen hatten, blieb der Vater plötzlich stehen.

      „Aber eines muss ich dir noch sagen. Ich fand es ganz toll.“

      „Was denn?“

      „Mit dir so offen sprechen zu können. Danke.“

      Er umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

      Bernhard wusste nicht recht, wie er reagieren sollte, so überrascht war er von dem ungewohnten Gefühlsausbruch seines alten Herrn. Seit seiner Kindheit hatte er das nicht mehr erlebt.

      Schweigend gingen Vater und Sohn nebeneinander her, bis sie zur Theodor-Heuss-Brücke kamen. Der Pulverdampf hatte sich verzogen und die Luft war wieder klar. Im silbrig-hellen Mondlicht glitzerte am gegenüberliegenden Neckarufer die tiefverschneite Altstadt mit Schloss und Alter Brücke, ein wahrhaft unvergleichlicher Anblick, der sie augenblicklich in seinen Bann zog. Lange blieben sie wortlos stehen, ehe der Alte sagte: „Mir wird kalt. Ich ruf uns jetzt ein Taxi.“

      8

      Es war noch dunkel, als Travniczek erwachte. Er konnte also noch nicht lange geschlafen haben. Er drehte sich auf die andere Seite und versuchte weiterzuschlafen. Da lief auf einmal wieder dieser Erinnerungsfilm ab, der in den letzten Monaten immer häufiger ungerufen kam. Er sah in die Mündung einer Pistole und hatte mit seinem Leben bereits abgeschlossen, denn an Händen und Füßen gefesselt gab es keine Gegenwehr mehr. Da fielen drei Schüsse und seine Kollegin Martina Lange tauchte aus dem Dunkel auf. Sie hatte geschossen und die Gefahr war gebannt. Das war vor eineinhalb Jahren. Sicher, seit diesem Ereignis war sein Verhältnis zu Martina ein ganz besonderes. Schließlich hatte sie ihm sein Leben neu geschenkt. Aber was hatte Bernhard gesagt? ‚Stell dir vor, mit ihr zu schlafen, mit ihr zusammenzuleben? Wie fühlt sich das an?‘

      Er versuchte, einen Zukunftsfilm mit Martina zu drehen, aber der Monitor blieb schwarz. Warum eigentlich? Hatte er Angst, noch einmal eine ähnliche Katastrophe zu erleben wie mit Marion? Oder sich einen Korb zu holen? Hatte er sich vielleicht schon so damit abgefunden, das Leben des einsamen Wolfs zu führen, dass ihn jeder andere Weg schreckte?

      Danach blieb er lange liegen und ließ die Musik in sich nachklingen. Warum hatte ihn gerade jetzt Schubert so in seinen Bann gezogen? Schubert war wohl einer der einsamsten Menschen, die je gelebt haben. Einsam, weil ihm in seiner Zeit niemand in seine Welt folgen konnte. Und je näher er seinem viel zu frühen Tod kam, umso mehr komponierte er. Bei dem Pensum seiner letzten zwei Lebensjahre musste er eigentlich Tag und Nacht geschrieben haben. War er glücklich, wenn er komponierte? Die Antwort darauf konnte er nur in Schuberts Musik finden. Er musste nur noch genauer hinhören.

      Er stand auf, kochte sich einen starken Kaffee und nahm ihn mit ins Wohnzimmer.

      Das neue Jahr sollte ich mit einigen Präludien und Fugen von Bach begrüßen, dachte er und setzte sich ans Klavier. Aber bald schlug er wieder die große Schubertsonate auf und spielte zunächst bis dorthin, wo er sich vor zwei Tagen wie ein Bergsteiger gefühlt hatte, der über allen bedrohlichen Wolken im strahlenden Sonnenlicht angekommen war. Aber jetzt kam ihm das Sonnenlicht gar nicht mehr so strahlend vor, denn Schubert verwandte hier noch einmal die resignative absteigende Melodie vom vorangegangenen Abschnitt. Zudem trübten einzelne Töne das Licht weiter ein, Begleitfiguren sorgten für Nervosität.

      Er glaubte, Schuberts Angst vor der Helligkeit zu hören. Für einen Augenblick kam ihm der schwarz bleibende Monitor in Erinnerung, als er vorhin seinen Zukunftsfilm drehen wollte.

      Etwas später fühlte er sich dann doch in eine heile Welt versetzt. Idylle pur: Hirten mit ihren Schäfchen auf der Weide im warmen Licht der mediterranen Sonne. Nymphen und Satyrn neckten sie. Es gab keine Leiden mehr, nur Freude und Schönheit. Travniczek wusste, dass das so nicht bleiben würde.

      Da öffnete sich langsam die Tür und Bernhard sah herein.

      „Darf ich zuhören?“

      „Nur zu, komm rein.“

      Der Alte überlegte, seinem Sohn die Musik zu erklären, so wie er sie sich selbst bis zu diesem Punkt klargemacht hatte. Aber dann besann er sich doch anders und spielte die komplette Sonate einfach durch. Bernhard hörte fasziniert zu. Er hatte bisher noch nie wahrgenommen, zu welcher Gefühls­­intensität sein Vater fähig war.

      Als die Musik verklungen war, blieben beide lange schweigend sitzen, bis Bernhard plötzlich die Stille unterbrach: „Vadder, ich sag‘s noch mal, du brauchst wieder ‘ne Frau. Und die kann sich glücklich schätzen, wenn du sie so behandelst wie diese Musik.“

      „Hm, das hast du aber schön gesagt. Seit meiner Schulzeit hat mir niemand mehr ein solches Kompliment gemacht.“

      Da schlug Bernhard mit der flachen Hand auf den Couchtisch.

      „Und jetzt machen wir ein ordentliches Sektfrühstück!“

      Tagebuch - 21.1.

      Ich konnte lange nicht schreiben, denn ich war sehr krank. Tagelang hatte ich ganz hohes Fieber und mußte so viel husten wie noch nie. Alles hat weh getan. Dann habe ich furchtbare Sachen geträumt. Drachen wollten mich fressen. Und ein Drache sah genauso aus wie Vater. Manchmal wußte ich gar nicht, ob ich jetzt träume oder wach bin. Dr. Maurer hat immer so ein ernstes Gesicht gemacht. Einmal habe ich mitbekommen, wie er zu Mama was vom Sterben gesagt hat. Ich hatte große Angst.

      Aber jetzt ist das Fieber etwas weniger geworden und ich kann auch wieder ein wenig essen. Aber eines ist gut. Vater hat mich wenigstens in Ruhe gelassen die ganze Zeit.

      Es fing