Christoph Wagner

Waldesruh


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offen herumstehen. Da steht auch eine große Vase, die hat Papa mal Mama zum Geburtstag geschenkt. Sie ist aus Kristall und das ist sehr wertvoll. Ich will solche Sachen eigentlich nicht anfassen. Ich bekomme dann furchtbare Angst, sie könnten mir aus der Hand fallen und kaputt gehen.

      Und dann ist es auch passiert. Ich hatte die Vase schon fast ganz saubergemacht, da rutschte sie mir aus der Hand und zerschlug in tausend Stücke …

      Der Vater kommt. Ich muß das Tagebuch verstecken.

      in B-Dur https://www.youtube.com/watch?v=_MzNAAuwfLE

      in Es-Dur https://www.youtube.com/watch?v=qKjwFeVe6-k

      Freitag, 2. Januar 2015

      9

      Mit einem dumpfen Schlag fiel die schwere Eisentür hinter ihm ins Schloss.

      Freiheit. Endlich. Nach zehn langen Jahren. Darüber hätte sich Wolfgang Maurischat eigentlich freuen müssen. Der Faule Pelz* war für ihn Vergangenheit. Jetzt konnte er wieder anfangen zu leben. Aber er fühlte nichts. Ihm kam alles öd und leer vor.

      Über Nacht waren tiefhängende dunkle Wolken aufgezogen und hielten die Gipfel der Odenwaldberge verborgen. Sogar die Straßenbeleuchtung brannte noch, obwohl es schon lange nach neun war. In seinem viel zu dünnen knallroten Anorak fühlte er nur den eisig kalten Wind und sah ihm zu, wie er den feinen Schnee in sich ständig schlangengleich windenden Schlieren über den Boden fegte und kleine Wirbel in die Luft zog.

      Mit schweren, schleppenden Schritten trat er auf die Kettengasse hinaus und sah sich um. Er suchte nach seinem Vater, aber der war nicht gekommen. Das enttäuschte ihn sehr, obwohl ihm ein Aufseher schon ausgerichtet hatte, seinem Vater ginge es so schlecht, dass er nicht Auto fahren könne. Aber sein Verlassenheitsgefühl war zu stark, um sachliche Gründe gelten lassen zu können.

      Wolfgang Maurischat überlegte, ob er sofort zum Karlstorbahnhof* gehen sollte, um mit dem nächsten Bus nach Hause zu fahren. Das wäre wohl das Vernünftigste, denn sicher wartete der Vater sehnlichst auf ihn, und zudem war er für die Kälte viel zu dünn angezogen. Aber da war diese abgrundtiefe Angst vor den anderen Dorfbewohnern. Sie würden ihm mit Ablehnung, ja Hass begegnen, ihm, dem Mörder.

      Also entschloss er sich, einen Bus zu nehmen, der ihn erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause bringen würde. Wenigstens in Ruhe ankommen wollte er, mit dem Vater sprechen und dann weitersehen.

      Mit gesenktem Kopf wandte er sich Richtung Hauptstraße, ohne auf die Umgebung zu achten. In der Haftanstalt hatten sie ihm dringend geraten, aus Waldesruh wegzuziehen, irgendwo anders neu anzufangen, wo ihn niemand kannte. Eigentlich hatten sie recht. Aber er wusste auch, um ins Leben zurückzufinden, musste er beweisen, dass er Berit nicht getötet hatte, dass ihn damals jemand reingelegt haben musste. Und übermächtig trieb ihn der Hass auf die, die sein und Berits Leben zerstört hatten. Er musste herausfinden, wer das war, denn er wollte Rache.

      Auf der Hauptstraße fiel es ihm schwer sich zu orientieren. Alles erschien ihm unbekannt, fremd, als würde er es zum ersten Mal sehen. Sicher, in zehn Jahren hatte sich viel verändert. Aber er empfand es eigentlich gar nicht als so anders. Er wusste einfach nicht mehr, wie es vorher ausgesehen hatte. Die jahrelange Eintönigkeit zwischen Zelle, Hofgang und Werkstatt erschien ihm im Rückblick wie eine Ewigkeit. Alles, was davor lag, war dunkel und unscharf. Wie sah ein grüner Baum aus? Wie roch der Frühling? Wie hörte sich das pulsierende Leben in einer Fußgängerzone an? Wie schmeckte eine Pizza? Wie fühlte sich die zarte Haut einer Frau an? Weg, alles weg. Nur Leere.

      Er trottete in Richtung Bismarckplatz. Die Weihnachtsbeleuchtung sollte eine heimelige Atmosphäre schaffen, trotz der düsteren Witterung. Wolfgang erreichte das alles nicht. Er sah in das ein oder andere Schaufenster, ohne die Auslagen darin näher wahrzunehmen.

      Es waren viele Menschen unterwegs. Zwischen ihnen fühlte er sich völlig allein. Er gehörte nicht dazu. Die lebten alle ihr Leben. Und er? Er war ausgestoßen. Immer wieder schaute er sich verstohlen um. Deutete da nicht jemand mit dem Finger auf ihn? „Seht, das ist der Wolfgang Maurischat, der hat seine Freundin ermordet.“

      Verrückt ist das, dachte er da. Zehn Jahre lang hatte er nur kahle Wände und vergitterte Fenster gesehen, Metalltüren ins Schloss fallen hören. Und jetzt – endlich draußen – ertrug er die Welt und die anderen Menschen nicht.

      Berit, dachte er plötzlich, und alles um ihn herum verschwand. Er versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, ihr helles Lachen, ihre dunklen Augen. Er erschrak. Es ging nicht. Auch da war nichts mehr.

      Hatte er sie am Ende doch getötet und diese Psychologen hatten recht? Immer wieder hatten sie versucht, ihm zu erklären, die eigene Tat hätte ihn so schockiert, dass sein Hirn dieses Geschehen aus seinem Gedächtnis getilgt hätte. Das sei ganz normal bei einer solchen Tat. Er müsse sich nur intensiv genug erinnern, dann würden die Bilder wiederkommen. Nur dürfe er sich nicht an die Vorstellung klammern, er sei wirklich unschuldig. Das würde die Erinnerung für immer blockieren.

      Aber verdammt noch mal, sein Hirn hatte nichts gelöscht! Er wusste, dass er Berit nicht getötet hatte. Warum hätte er so etwas tun sollen? Er fühlte sich im siebten Himmel, seit er mit ihr zusammen war. Und dass sie mit ihm Schluss machen wollte, war noch größerer Unfug. Ausgerechnet mit diesem Lackaffen Waldemar sollte sie ein Verhältnis angefangen haben? Den konnte sie doch überhaupt nicht ausstehen. Das hatte Waldemar frei erfunden.

      Aber keiner wollte ihm glauben. Immer und immer wieder hatten sie auf ihn eingeredet, er solle doch endlich gestehen, das würde auch ihn befreien. Nur so könne er seine Tat irgendwann verarbeiten. Und Berit würde wenigstens ein Grab bekommen.

      Nach fünf Jahren hatten sie dann begonnen, ihm Hafterleichterungen in Aussicht zu stellen. Offenen Vollzug, ja sogar von vorzeitiger Entlassung war die Rede, wenn er nur endlich gestehen würde. Mehrfach war er so am Ende mit seinen Nerven, dass er ihnen den Gefallen tun wollte. Aber sie hätten dann ja wissen wollen, wo er die Leiche versteckt hat.

      Er war wieder völlig in seinem seit Jahren immer gleichen Gedankenkarussell gefangen und merkte gar nicht, dass die Hauptstraße zu Ende war und er bereits am Bismarckplatz* stand.

      Der Schnee fiel jetzt dichter, aber immer noch ganz fein. Auch der Wind hatte noch mal zugelegt. An Hindernissen bildeten sich Verwehungen. Er fror fürchterlich. Er brauchte dringend etwas Wärmeres zum Anziehen, und außerdem wartete sein Vater sicher voller Ungeduld. Vielleicht hatte der sogar Mittagessen gekocht. Also sollte er doch ganz schnell nach Hause fahren.

      Es ging auch ein Bus vom Bismarckplatz nach Heiligkreuzsteinach*. Hektisch überquerte er die Sophienstraße, ohne auf die rote Ampel zu achten, und wäre fast in ein Auto