Christoph Wagner

Waldesruh


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mehrmals ins Rutschen und wäre einmal fast gestürzt. Schließlich erreichte er das Dorf. Es gab hier insgesamt nur vier Straßenlaternen. Entsprechend dunkel war es. Nur in wenigen Häusern brannte Licht. Hinten am Berghang konnte er die palastartige Villa Schittenhelm sehen. Hier residierte Ansgar Schittenhelm, der ungekrönte König von Waldesruh.

      Ihr Haus stand am Waldrand, gleich hinter dem Ortsschild, dort, wo der Hang steil wurde. Wolfgang klingelte. Es dauerte lange, bis der Vater ihm öffnete.

      „Da bist du ja endlich“, begrüßte er seinen Sohn traurig, aber doch mit einer Spur von Erleichterung. Eine Weile sahen sie einander an. Dann umarmten sie sich. Der Vater weinte. Wolfgang konnte nicht mehr weinen, schon lange nicht mehr.

      „Ich habe dir etwas zu essen gemacht, Frikadellen mit Bratkartoffeln. Das mochtest du doch früher so gerne.“

      So? Auch das hatte er vergessen.

      „Ich muss es nur noch mal aufwärmen. Ich hatte ja früher mit dir gerechnet.“

      Wolfgang hörte einen vorwurfsvollen Unterton, der ihm weh tat. Er warf seine Reisetasche auf den Boden, den Anorak hinterher und setzte sich an den Kachelofen. Die Wärme tat ihm gut.

      Der Vater brachte das Essen und sie setzten sich an den Tisch. Nach den ersten Bissen klingelte es an der Tür.

      „Erwartest du jemanden?“, fragte Wolfgang unruhig.

      Der Alte schüttelte nur den Kopf, stand auf, was ihm schwerfiel, und ging zur Tür. Er ahnte, was jetzt kommen würde.

      Draußen war niemand. Er wollte die Tür schon wieder schließen, da sah er, angelehnt an die Hauswand, das flache Paket. Er hob es auf. „Für Wolfgang“ stand darauf.

      „Es geht schon los“, sagte der Vater resignierend.

      „Was geht los?“

      „Unsere lieben Mitbürger. Sieh her. Das ist für dich abgegeben worden. Natürlich anonym.“

      Er reichte seinem Sohn das Paket. Der riss es mit zitternden Händen auf. Beide erschraken, als sie das Gemälde sahen. Wolfgang schien nicht zu verstehen, um was es ging. Der Vater erkannte als Erster, wen das Bild darstellen sollte. „Da war noch ein Zettel drin“, sagte er und deutete auf ein Blatt Papier, das auf den Boden gefallen war.

      Wolfgang hob es auf. Es war ein Brief. Er las:

      Hallo Wolfgang,

      wir haben dich nicht vergessen.

      Zur Begrüßung ein Geschenk.

      Das soll dich an die Vergangenheit erinnern!

      Schade, dass man Leute wie dich nicht mehr aufhängt. Dann hätten wir jetzt Ruhe.

      Kommst du zurück, um jetzt auch unsere Kinder umzubringen?

      Wenn du nicht freiwillig verschwindest, werden wir dafür sorgen, dass du gehst. Du wirst hier keine ruhige Minute haben, das versprechen wir dir.

      Wir werden nicht mit einem Mörder zusammenleben.

      Die Bürger von Waldesruh

      Fast alle hatten unterschrieben.

      Wolfgang wurde schwarz vor Augen.

      Tagebuch - 21.1.

      Vater ist noch einmal aus dem Haus gegangen. Er will Kollegen treffen, um mit ihnen zu trinken. Danach wird es sicher wieder besonders schlimm.

      Als Vater nach Hause kam, hat er sofort gesehen, daß die Vase nicht mehr da war. Mama wollte mich nicht verraten und hat gesagt, sie hat sie runtergeworfen, als sie Staub gewischt hat. Aber Vater hat sie ganz laut angeschrien: Er glaubt ihr das nicht. Sicher hab ich die Vase runtergeworfen. Sie will mich nur schützen. Er hat sie gepackt und sie immer wieder ins Gesicht geschlagen. Ich habe das nicht mehr ausgehalten und wollte weglaufen. Aber Vater hat mir den Weg versperrt. Ich kann jetzt nicht mehr weiterschreiben. Die Augen fallen mir zu.

      Samstag, 3. Januar 2015

      10

      Mehrmals in der Nacht war Travniczek schweißgebadet hochgefahren. Wieder Alpträume. Aber er konnte sich immer nur schemenhaft erinnern. Die Bilder zerflossen, sobald er sie festhalten wollte. Nur die Beklemmung blieb.

      Irgendwann stand er auf und setzte sich ins Wohnzimmer, ohne Licht zu machen. Er wollte sich nicht länger dem grausamen Spiel aussetzen, das sein Unterbewusstes mit ihm trieb.

      Was machte ihn so unruhig?

      Die Angst, seine Familienkatastrophe würde ihn wieder einholen, wenn Julia und Christian bei ihm einzögen?

      Der Fall Maurischat, der eigentlich gar keiner war? Es war doch gar nicht sein Job, sich um einen möglichen Justizirrtum von vor zehn Jahren zu kümmern. Was drängte ihn, sich trotzdem zu engagieren?

      Dass sein Sohn ihn mit seiner Kollegin verkuppeln wollte? Warum blieb der Monitor immer wieder schwarz, wenn er versuchte sich vorzustellen, mit Martina zusammenzuleben?

      Irgendwann schlief er dann in seinem Sessel ein.

      Später – draußen war es noch dunkel – stand er in der Küche und kochte Kaffee.

      Er konnte Ungerechtigkeit einfach nicht ertragen. Das war es, deswegen musste er den Maurischats unbedingt helfen.

      Aber war das überhaupt möglich? Sein Chef, Polizeidirektor Solms, würde ihn einfach auslachen, wenn er diesen zehn Jahre alten Fall noch einmal aufrollen wollte.

      Staatsanwalt Wurlitzer? Wenn er dem keine neuen Beweise auf den Tisch legen konnte, rührte der keinen Finger.

      Er musste also erst auf eigene Faust ermitteln, obwohl er das nach der Dienstvorschrift nicht durfte.

      Schade, dass Martina ausgerechnet jetzt im Urlaub war. Mit ihr hätte er sich jetzt gerne beraten. Warum gerade mit Martina? Weil er wusste, dass sie sicher genauso dachte wie er? Weil sie ihm einmal das Leben gerettet hatte?

      Vielleicht hatte Bernhard ja doch recht.

      Der stand plötzlich in der Küche.

      „Du so früh auf den Beinen? Da muss was Besonderes passiert sein.“

      „Ja, schon“, entgegnete Bernhard verschlafen. „Julia hat gestern noch sehr spät angerufen. Wir haben dann ewig gequatscht. Sie ist völlig neben der Spur, hat immer wieder zu heulen angefangen. Sie weiß nicht mehr weiter. Ich fahr da jetzt noch mal hin.“

      „Ich finde es toll, dass du dich so für sie einsetzt“, meinte der Vater und fügte etwas verlegen hinzu: „Wäre ja eigentlich meine Aufgabe.“

      „Ach, Vadder, lass mal. Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Das passt schon, wenn ich da jetzt hinfahre. Ich bin schließlich erwachsen und ihr vom Alter her ja auch viel näher als du.“

      Der Senior legte ihm einen Arm auf die Schulter und nickte ihm dankbar zu. Ohne viel zu reden, frühstückten sie zusammen und Bernhard machte sich dann gleich auf den Weg zum Bahnhof. Travniczek blieb allein am Küchentisch sitzen.

      Julia. Früher war sie nie von seiner Seite gewichen, wenn sie mit der Familie unterwegs waren. Saßen sie irgendwo, sprang sie sofort auf seinen Schoß. Den geraden, offenen Blick ihrer schönen graublauen Kinderaugen würde er für immer in Erinnerung behalten. Ständig fragte sie ihn etwas: Warum sind die Blätter grün? Träumen Ameisen auch, wenn sie schlafen? Warum können wir nicht fliegen wie die Vögel? Warum kann mein Meerschweinchen nicht mit mir sprechen? Was für ein Tier wärst du gerne?

      Nicht immer wusste er eine Antwort, und oft war Julia auch mit seinen Erklärungen unzufrieden. Am schönsten war es, wenn er von ihr mehr lernen konnte als sie von ihm.

      Aber dann, kurz vor ihrem dreizehnten Geburtstag und ein paar Wochen, nachdem Marion die Scheidung eingereicht hatte, war das fast von einem Tag auf den anderen vorbei. Sie zog sich zurück,